Muschelgold für die eigene Sippe
Seit 2008 restaurieren die Zwickauer Kunstsammlungen ihren Bestand an spätgotischen Werken. Viele Altarwerke und Heiligenfiguren wurden in Sachsen nach der Reformation aus den Kirchen entfernt. Sie überdauerten vielfach auf Dachböden die Zeiten oder wurden im ausgehenden 19. Jahrhundert, als der neugotische Kirchenbau einen Aufschwung erlebte, ganz heimatlos. Die Altertumsvereine nahmen sich solcher, den liturgischen Funktionen enthobener Stücke an. So kam 1925 auch der Altar aus Lugau schließlich in das damalige, 1914 eingeweihte König-Albert-Museum nach Zwickau (heutige Kunstsammlungen).

Sowohl die natürlichen Alterungsprozesse des fast 500 Jahre alten Altarwerkes als auch der mechanische Verschleiß, die klimatischen Einflüsse, der Schädlingsbefall sowie frühere, unsachgemäße Eingriffe führten im Laufe der Zeit zu Lockerungen oder gar zum Verlust von Holz- und Fassungsteilen; hinzu kamen Übermalungen und Retuschen. Auf der Grundlage einer ausführlichen Schadensanalyse erfolgte nun seit 2009 mit Unterstützung des Freundeskreises der Kulturstiftung der Länder die schrittweise Restaurierung des Mittelschreins, der beiden Seitenflügel und der Predella. Zunächst wurde die gesamte Holzkonstruktion des Altars stabilisiert und fehlende Bildteile ergänzt. Auch die originale, doch nur fragmentarisch erhalten gebliebene, azuritfarbene Papierhinterlegung der Schleierbretter musste rekonstruiert werden. Nach der Abnahme der Oberflächenverschmutzungen und der sehr komplizierten Entfernung von Wachskleberesten früherer Konservierungsmaßnahmen konnte die originale Farbfassung mit den Vergoldungen freigelegt werden. Anschließend wurden störende Fehlstellen mit Kreidekitt verfüllt und mit Aquarelltechnik farblich angeglichen. In den Bereichen der Vergoldungen und der Lüster kamen Puder- und Muschelgold sowie Pudersilber zum Einsatz. Nach der Trocknung eines Schlussüberzuges wurden die für die Restaurierungsarbeiten demontierten kleineren Teile wie Schleierbretter, Rankenstab, Kornblumen und Palmstäbe wieder zusammengefügt. Vor Ort in den Kunstsammlungen erfolgte der Zusammenbau der Seitenflügel mit dem Mittelschrein und der Predella. Der die „Heilige Sippe“ darstellende Altar erscheint nun wieder in seinem vollen Glanz.
In der Mitte des 15. Jahrhunderts verbreitete sich der Annenkult und mit ihm entstanden zahlreiche Vesperbilder der Anna selbdritt sowie Annenaltäre. Entsprechend der im Mittelalter bekannten Legenda aurea von Jacobus de Voragine werden hier die Verwandtschaftsbeziehungen der Muttergottes aufgezeigt. Im Altar aus Lugau ermöglichen Spruchbänder auf der unteren Leiste und beschriftete, aufgeprägte Heiligenscheine eine Zuordnung der dargestellten Personen. Maria mit dem Jesuskind wird flankiert von ihren Eltern Joachim und Anna. Der Legende zufolge starb Joachim nach der Geburt Marias. Anna wollte sich als Witwe in die Einsamkeit zurückziehen, doch ein Engel verkündete ihr, dass sie nochmals Mutter zweier Töchter werden sollte, die ebenfalls beide Maria heißen werden. So kam es zu einer zweiten Ehe mit Kleophas und nach dessen Tod zu einer dritten mit Salomas. Die beiden Marien erhielten den Beinamen ihrer Väter. Diese wiederum gebaren die Vettern Jesu. Die Söhne von Maria Kleophae (auch Cleophe) und ihrem Mann Alphäus heißen Jakobus der Jüngere, Judas Thaddäus, Joseph der Gerechte und Simon Zelotes. Sie alle sind im linken Schreinflügel dargestellt. Rechts sehen wir Maria Salome mit ihrem Mann Zebedäus und den Söhnen Jakobus dem Älteren und Johannes dem Evangelisten. Nicht nur die detailliert wiedergegebene modische Kleidung der Figuren besticht in dieser Familiendarstellung, auch die unmittelbare Erzählfreude des unbekannten Meisters lässt sich besonders an der lebendigen Schilderung der Kinder ablesen. Sie agieren mit Blicken und Gesten in Vorder-, Seiten- und Rückenansicht miteinander und scheinen von der Erhabenheit der Situation keine Kenntnis nehmen zu wollen. In der den Marientod darstellenden Predella erstaunen gleichermaßen dieser Detailreichtum und die individuelle Charakteristik der zahlreichen Figuren. Durch die Restaurierung sind die außerordentliche Lebendigkeit der Figuren und die Fülle an Details wieder vollends zur Geltung gekommen. Seit Herbst 2011 ist der Lugauer Altar ein Hauptwerk in der neu gestalteten Dauerausstellung „Im Himmel zu Hause“. Gerade aufgrund seiner wirklichkeitsnahen Familienschilderung gehört er bei den Besuchern der Zwickauer Kunstsammlungen zu den beliebtesten Ausstellungsstücken.