Modernes Historienbild

Während es zu Beginn des letzten Jahrhunderts in der bildenden Kunst eine starke Tendenz von der gegenständlichen Präsentation der Realität hin zur Abstraktion gab, die von Kasimir Malewitsch mit seinem „Schwarzen Quadrat“ von 1913 zu einem radikalen Nullpunkt geführt wurde, erlebte die frühe Kinematografie Erfolge in der bewegten Darstellung der Wirklichkeit. Parallel zu dieser Entwicklung versuchte der Kubismus mit seiner simultanen Allansichtigkeit von Menschen und Dingen und der damit verbundenen virtuellen Bewegung indirekt eine zeitliche Dimension in die Malerei einzuführen. Mit den ersten Filmkameras wurden Szenen aus dem täglichen Leben, Sketche, aber auch zunehmend komplexe Handlungen aufgenommen und in Lichtspielhäusern dem faszinierten Publikum präsentiert. Einerseits orientierten sich Filmschaffende vor allem in Deutschland und Österreich an der Ästhetik des Expressionismus, andererseits arbeiteten einige Experimental­filmer zeitgleich – zu einem besonders frühen Zeitpunkt in der Geschichte der Medienkunst – an der Schnittstelle von Kunst und Technik, wie etwa Oskar Fischinger, Walter Ruttmann, Viking Eggeling und auch Hans Richter, die den Film für abstrakte Schöpfungen nutzten. Sie alle verstanden es auf unterschied­liche und höchst innovative Weise, die aktuellen Entwicklungen der bildenden Kunst aufzunehmen und mit dem noch relativ jungen Medium Film zu verknüpfen. So entstanden ab den frühen 1920er Jahren die ersten abstrakten Kunstfilme – und das zum Teil in Farbe und mit Ton, wie etwa Walter Ruttmanns „Lichtspiel Opus 1“ aus dem Jahr 1921.

Hans Richter, Stalingrad (Sieg im Osten), 1943/46, 94 × 512 cm; ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe
Hans Richter, Stalingrad (Sieg im Osten), 1943/46, 94 × 512 cm; ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe

Für Hans Richter, der aus der Malerei kam, war die Verbindung von bildender Kunst und Film eine in sich konsistente. So bestätigte er: „Zum Film gelange ich ganz ohne Absicht […] durch die Logik der ästhetischen Entwicklung der modernen Malerei.“ Neben seiner engen Verbindung zur Dada-Bewegung – er lebte von 1916 bis 1919 in Zürich – und begleitend zu seinen Arbeiten als Experimentalfilmer, womit man ihn heute am ehesten verbindet, schuf Richter bereits zwischen 1919 und 1923 erste Rollbilder. Inspiriert durch chinesische Vorbilder, intendierte er mit diesen schmalen horizontalen Querformaten, die Blickrichtung des Betrachters nicht mehr dem Zufall zu überlassen, sondern ihn zu lenken und ihm eine zeitlich geordnete Abfolge seiner Rezeption vorzugeben. In westlicher Leserichtung von links nach rechts sollte der Betrachter seiner Werke die Rollbilder sukzessive ‚durchlesen‘. Die vor diesem Hintergrund entstandenen Bilder weisen einen engen Bezug zu Richters kinematografischem Schaffen auf; so basiert sein 1921 entstandener erster Experimentalfilm „Rhythmus 21“ auf seinem frühesten Rollbild, „Prélude“, von 1919, das er unter dem Einfluss von Viking Eggeling geschaffen hatte. So wie die Rezeption eines Films einer technisch vorgegebenen Chronologie folgt, so bestand auch in den Rollbildern für Richter die Möglichkeit, den Blick des Betrachters zu lenken und ihn zu animieren, das Bild gleichsam ‚chronologisch‘ zu lesen. In den frühen 1920er Jahren schuf Richter zunächst mehrere abstrakte Filme, in denen überwiegend schwarzweiße geometrische Formen in einem illusionistischen Spiel agieren, später entstanden humoristisch-surreale Filmwerke wie zum Beispiel „Vormittagsspuk“ (1927).

1941 emigrierte Richter in die USA und ließ sich in New York nieder. Zwischenzeitlich auch wieder als Maler tätig, griff er gut zwanzig Jahre nach seinen ersten Rollbildern dieses Format noch einmal auf. So schuf er in den Jahren zwischen 1943 und 1946 insgesamt drei solcher großformatigen Bilder, die sich allesamt auf Ereignisse des Zweiten Weltkrieges beziehen, genauer gesagt auf die militärischen Niederlagen des Deutschen Reiches und dem daraus folgenden Untergang der NS-Diktatur. Mit dem ersten Rollbild, „Stalingrad (Sieg im Osten)“, 1943/44 entstanden, setzt sich Richter mit der Schlacht um die südrussische Stadt auseinander, die eine entscheidende Wende im Kriegsverlauf markierte. Für dessen Titel verkehrte er den NS-Propagandastreifen „Sieg im Westen“ von 1941 ins Gegenteil. Diese ausgeführte Version befindet sich heute im Hirshhorn Museum and Sculpture Garden der Smithsonian Institution in Washington. Das zweite Bild, Invasion“ (1944/45), thematisiert die Landung der Alliierten in der Normandie, das dritte Bild feiert die „Befreiung von Paris“ (1944/45). Hans Richter war als überzeugter Sozialist auf Seiten der damaligen Sowjetunion und sehnte das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft herbei.

Endfassung des Gemäldes „Stalingrad (Sieg im Osten)“ von Hans Richter, 1943 /1944, 90,7 × 479,6 cm; Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Smithsonian Institution, Washington
Endfassung des Gemäldes „Stalingrad (Sieg im Osten)“ von Hans Richter, 1943 /1944, 90,7 × 479,6 cm; Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Smithsonian Institution, Washington

Dank der Unterstützung der Kulturstiftung der Länder konnte das ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe aus italienischem Privatbesitz das Bild „Stalingrad (Sieg im Osten)“ erwerben, das als Vorstudie für die Washingtoner Version angesehen werden kann. Das zunächst als Temperamalerei und Collage auf Papier angelegte und später auf Leinwand übertragene und gerahmte Bild zeigt auf der linken Seite in weißer Farbe auf grauem Grund die Kontur Europas, die durch einen schwarzen Keil von der nur angeschnitten dargestellten Großmacht Sowjetunion unterbrochen ist. Im Anschluss daran sind verschiedene geometrische Formen, vor allem in den Farben der Hakenkreuzfahne – Rot, Weiß und Schwarz – zu sehen, die hart gegenüber gestellt oder miteinander verschränkt sind. Die kriegsentscheidende Schlacht um Stalingrad wird durch einen vertikalen Keil aus Zeitungsausschnitten symbolisiert, der nicht nur das Bild fast mittig unterteilt, sondern auch hinsichtlich der Bildgestaltung eine Veränderung signalisiert. Ab hier werden die Formen allmählich weicher, fließender und es kommen mit Blau und Gelb weitere Farben hinzu. Über das ganze Bildfeld sind zwischen die gemalten Bereiche immer wieder Zeitungsausschnitte geklebt. Während sie in der Endfassung in Washington aus tatsächlichen Kriegsberichterstattungen bestehen, finden sich in der Karlsruher Version noch überwiegend Berichte aus dem Massenmedium Zeitung (der früheste Zeitungsausschnitt datiert vom 3. September 1943). Diese hat Hans Richter zuweilen mit handschriftlichen Bemerkungen versehen, wie etwa „NAZIS give Stalingrad a week“, „NAZIS STRIKE SOUTH FOR ­BAKUS OIL“ [sic] oder „HITLER: Stalingrad will be taken“. Erst zum Ende des über fünf Meter langen Rollbildes hin wurden von Richter kriegsbezogene Zeitungsberichte verwendet, wie etwa die Meldung, dass Russland [sic] Bulgarien den Krieg erklärt habe (aus der New York Post, datiert vom 5. September 1944) oder über die Erfolge der alliierten Truppen in Westeuropa. Die Vorstudie blieb unvollendet: Am rechten Bildrand fehlt noch die endgültige Gestaltung. Dort ist mit Bleistift ein Rahmen markiert, der das Bildfeld begrenzen sollte, der aber nicht mehr ausgefüllt worden ist. In der finalen Version im Hirshhorn Museum schließt hier ein roter Keil das Rollenbild ab.

Kunst- und mediengeschichtlich ist Hans Richters Rollbild „Stalingrad (Sieg im Osten)“ bedeutend, weil es in einzigartiger Weise nicht nur Malerei und Collage, sondern auch das Medium Film mit der traditionellen Gattung der Historienbilder verbindet. Die künstle­rischen Ideen und Formprinzipien, die Richter sowohl in den 1910er Jahren in seiner kubistischen Malerei als auch in den 1920er Jahren in seinen Experimentalfilmen anwendete, sind hier in das Medium der Bildrolle eingeflossen und dokumentieren auf prägnante Weise, wie historische Fakten künstlerisch aufbe­reitet eine Auseinandersetzung mit dem Kriegsgeschehen ermöglichen. Form und Inhalt stehen hier gleichberechtigt nebeneinander. „Stalingrad (Sieg im Osten)“ ist ein kunsthistorisches Brücken­bild, das vielfältige Einflüsse in sich aufnimmt und schöpferisch weiterent­wickelt: Richters Kenntnis des russischen Konstruktivismus ist in die Komposition eingegangen. Zugleich weist sein Umgang mit dem Bild voraus zu den Werken des amerikanischen Abstrakten Expressionismus seit den späten 1940er Jahren. Der Emigrant Hans Richter wird so als Wegbereiter eines transatlantischen künstlerischen Dialogs sichtbar, der für die Nachkriegskunst der westlichen Welt entscheidende Impulse geben sollte.