Mehr als flüchtige Bekannte
Schon vor 200 Jahren galt ein sorgfältig geführtes und gut gefülltes Poesiealbum als eine wertvolle Erinnerung an eine gemeinsame Zeit. Kursieren diese Bücher heute vor allem noch auf dem Schulhof, gespickt mit allerlei bunten Stickern und lustigen Reimen, waren sie in früheren Zeiten unter Studierenden ein beliebtes Medium, um vor dem Universitätsabgang noch mit dichterischer Verve im Büchlein der Kameraden zu brillieren. Auch Jakob Christian Menzler, Student an der renommierten Bergbauakademie in Freiberg, animierte zwischen 1798 und 1811 zahlreiche seiner Kommilitonen und Freunde, sich seines Album Amicorum anzunehmen. Zu 62 Einträgen hat er es schließlich gebracht, darunter einem ganz besonderen: Am 13. Mai 1799 schrieb Friedrich von Hardenberg aus Thüringen eindringliche Zeilen und Grußworte darin nieder – fünf Verse aus Johann Gottfried Herders „Das Flüchtigste“ von 1787. Die Zeilen bilden das Finale des bekannten Gedichts, das sich mit Leitmotiven der Romantik beschäftigt, der leidvoll erfahrenen Individuation und der Sehnsucht nach Auflösung im „Nebelmeere“. Dieser junge Student, der sich da bei seinem Kommilitonen Menzler verewigte, sollte später als Novalis in die Literaturgeschichte eingehen und zu einer Schlüsselfigur der deutschen Frühromantik werden.
Während seines ersten Studiums der Rechtswissenschaften in Jena Anfang der 1790er-Jahre führte von Hardenberg selbst noch ein Stammbuch, das seine juristische Umgebung für die Nachwelt festhielt. Anders war es um seine zweite Studienzeit in Freiberg 1797–1799 bestellt, die bisher im Dunkeln lag. Das Menzler’sche Stammbuch bringt nun etwas Licht in das biografische Umfeld und beleuchtet den Kreis, in dem der Dichter sich bewegte: die Elite des Bergbau- und Salinenwesens. Damit trat von Hardenberg in die Fußstapfen seines Vaters und führte eine Tradition fort, die auch außerhalb der Familie hohes Ansehen genoss. Als Ingenieur der damaligen Zeit wirkte von Hardenberg noch vielerorts im Thüringer Kreis, bevor er mit nur 28 Jahren nach schwerer Krankheit in Weißenfels verstarb. Ebenso zeugt der Eintrag von einer überraschenden Wendung im Leben des jungen Studenten. Zwar führte er in seinem Studium der Naturwissenschaften kein eigenes Poesiealbum mehr, doch publizierte er ab 1798 lyrische Texte im damals führenden intellektuellen Organ der „Jenaer Frühromantik“: der Zeitschrift „Athenaeum“, gegründet von den Brüdern August Wilhelm und Friedrich Schlegel als Sprachrohr für ihre literarische Bewegung. Novalis, wie er sich mit seiner ersten Veröffentlichung fortan nannte, verknüpfte in seinen lyrischen Werken die Profession mit seiner Leidenschaft: Ihn faszinierte fortwährend die Verarbeitung von naturwissenschaftlichen Phänomen in seiner Dichtkunst.
Anders als der Titel des von Novalis aufgegriffenen Gedichts suggeriert, war das Poesiealbum keineswegs von „flüchtiger“ Gestalt. 1811 trug sich der letzte in das Büchlein ein, während des 20. Jahrhunderts befand es sich im Privatbesitz, um nun im vergangenen November zurückzukehren nach Schloss Oberwiederstedt, der Geburtsstätte Novalis’. Bei einer Versteigerung in Hamburg gelang es der Forschungsstätte für Frühromantik und Novalis-Museum Schloss Oberwiederstedt mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, des Freien Deutschen Hochstifts Frankfurt am Main, des Landes Sachsen-Anhalt sowie einer Spende von Dr. med. Arved Grieshaber von der Stiftung „Wege wagen mit Novalis“, das besondere Objekt an das Museum zu binden. Über diesen Neuzugang freut sich Frank Druffner, kommissarischer Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder: „Durch das Zusammenwirken von Freiem Deutschen Hochstift und dem Novalis-Museum konnte ein wichtiges Zeugnis des Frühromantikers für die Öffentlichkeit gesichert werden. Stammbücher stellen besonders aufschlussreiche Quellen dar, da sie persönliche Verbindungen dokumentieren und gelegentlich, wie in diesem Fall, bedeutende literarische Texte im Kontext zahlreicher Einträge enthalten. Die beiden Forschungsstätten werden von dem Neuzugang ebenso profitieren wie das Publikum der von ihnen realisierten Ausstellungen.“
Die Umschrift im Wortlaut:
Aber auch im Nebelmeere
Ist der Tropen Seligkeit.
Einen Augenblick ihn trincken,
Rein ihn trincken und versinken
Ist Genuß der Ewigkeit. (Herder)
Freyberg: den 13ten May 1799.
Zum Andenken Ihres Freundes
Fridrich von Hardenberg, aus Thüringen