Martyrium vor antiker Kulisse

Der Dominikanermönch und spätere Erzbischof von Genua Jacobus de Voragine publizierte mit der „Legenda Aurea“ gegen Ende des 13. Jahrhunderts das populärste religiöse Volksbuch des Mittelalters. Hier fand der interessierte Leser auch alles, was man über die Heilige Agatha wissen sollte: „Agatha die Jungfrau war edel von Geschlecht und schön von Angesicht und wohnte in der Stadt Catania und ehrte Gott in großer Heiligkeit. Aber Quintinianus der Landpfleger von Sizilien war unedel von Geburt, wollüstig, habgierig und ein Heide; der wollte die edle Magd in seine Gunst zwingen.“ Nachdem die Schöne sich ihm verweigerte, übergab Quintinianus die Jungfrau einer Kupplerin mit dem sprechenden Namen „Aphrodisia“. Weder ihr noch ihren neun Töchtern, die gemeinsam mit der Mutter in einem Freudenhaus lebten, gelang es, den Willen der keuschen Heiligen zu brechen. Vielmehr hielt sie Quintinianus sein Heidentum vor: „Möge dein Weib sein wie die Göttin Venus und du selbst wie dein Gott Jupiter!“ Nach der „Legenda Aurea“ bezahlte Agatha ihren Widerstand mit Folter, Verstümmelung und Tod. Ihr Martyrium schildert mit ähnlicher Detailfreude wie die Legende auch ein 1523 entstandener Zyklus von Tafelbildern.

Die Darstellung folgt der Legende, teilt aber die Erzählung in kontrastierende Bilder auf. Abwechselnd erscheinen Szenen der Grausamkeit mit dem entblößten, idealschön gestalteten Frauenkörper im Zentrum mit solchen der kurzfristigen Errettung – so erscheint der Heilige Apostel Petrus von Engeln begleitet im Kerker und heilt Agatha von ihren Verletzungen. Auffallend für den heutigen Betrachter ist die Inszenierung der Heiligen nach den Vorbildern der Christus-Ikonographie, denn Agatha wird ans Kreuz geschlagen und von Engeln ins Grab gelegt. Beim Begräbnis übernimmt ein Engel „mit hundert wohl­gezierten Begleitern“ die Regie, die Engel legen eine Marmortafel zu Häupten der Heiligen nieder auf der – so die Legende – stand: „Heilig der Geist und willig, Gott die Ehre, Rettung dem Land“. Der Künstler verlegte das Grab der Heiligen von der Kathedrale in Catania in eine nördliche Alpenlandschaft. Die „Legenda Aurea“ berichtet hingegen anschaulich, wie sich ein feuriger Lavastrom des Vulkans Ätna erst durch den vom Grab genommenen Schleier Agathas stoppen ließ. Neben vielen anderen Schutzfunktionen gilt die Heilige dank dieses wundertätigen Eingreifens nördlich der Alpen bis heute auch als Patronin der Feuerwehr. Das Sujet der vier Holztafelgemälde der Agathen­legende war aus der Literatur bekannt, aber sie galten als verschollen. Dies änderte sich schlagartig, als der an der Albertina tätige Kunsthistoriker Christof Metzger die Bilder zufällig bei einem Wiener Kunsthändler zu Gesicht bekam.

Er hatte vor mehr als 20 Jahren ein Gemälde des sonst wenig bekannten Malers Jörg Greimolt begutachtet und erkannte in ihm den bislang namenlosen Autor des Agathenzyklus: Der Künstler hat auf der ersten Tafel mit IG signiert, der Sockel im Vordergrund der vierten Bildtafel zeigt vermutlich sein Selbstporträt. Ähnlich wie er das Grab der heiligen Agatha in seine Lebenswelt – inklusive mittelalterlicher Burganlage – versetzte, hat Greimolt die Folge des selten dargestellten Agathen­zyklus’ aus unterschied­lichsten Vorlagen zusammengestellt und sich dabei auf aktuellste künstlerische Vorbilder bezogen; so ereignet sich das Martyrium der Heiligen in einem prächtigen Renaissance-Arkadenhof. Metzger konnte zeigen, dass auf der Tafel mit dem Begräbnis der Heiligen die um einen Brunnen versammelten Putten ihr Vorbild nicht in der „Legenda Aurea“ haben – sie stammen aus einem Holzschnitt Lucas Cranachs d. Ä. mit der Darstellung der Flucht aus Ägypten. Eine weitere Quelle war eine nur ein Jahr zuvor entstandene Darstellung des Augsburger Radierers Daniel Hopfer mit dem Tempelgang Mariae. Bei der Darstellung des zweiten Martyriums ergänzte Greimolt die Vorlage um einige Elemente aus dem Motivrepertoire der Renaissance: Aus flachen Mauernischen im Hintergrund werden Muschelnischen mit gemalten Bronzeskulpturen mit mythologischen Szenen, da bezwingt Herkules den Nemäischen Löwen und kämpft mit dem Riesen Antaios. Ganz außen erscheint das Urteil des Paris, bekanntlich der Ausgangspunkt des Trojanischen Krieges. Der Palast des heidnischen Quintinianus wird so mit Gestalten der humanistischen Antikenrezeption ausgeschmückt. Der für Weilheim tätige Maler Greimolt präsentiert sich mit seiner Aktualisierung der mittelalterlichen Legende im Gewand der neuen humanistischen Gelehrsamkeit und der Formensprache der wiederentdeckten Antike als informierter Zeitgenosse der Renaissance auch in Bayern.

Im nur zwei Tagesreisen entfernten Augsburg befand sich die zwischen 1509 und 1512 an der Karmeliterklosterkirche errichtete Grabkapelle der Fugger, das früheste und vollkommenste Bauwerk der Renaissance nördlich der Alpen. Im Umfeld der sagenhaft reichen Fernhandelskaufleute Fugger arbeiteten der Architekt und Bildhauer Sebastian Loscher, die Maler Hans Burgkmair, Albrecht Dürer, Jörg Breu d. Ä. oder die Bildhauer Adolf und Hans Daucher. Sie alle verwendeten antikisierende Motive und Ornamente, arbeiteten mit der Zentralperspektive und schufen in Augsburg Kunstwerke, die sicher auch Jörg Greimolt bei der Auswahl der Vorlagen für seinen Agathenzyklus beeinflussten. Und mutmaßlich gab es in Weilheim selbst Auftraggeber, die eine derartige, „moderne“ Art der Darstellung zu schätzen wussten. Nur wenig ist über Jörg Greimolt bekannt. Ob er tatsächlich in Weilheim geboren wurde oder später zuzieht, ist nicht ganz zu klären, er ist jedoch sicher mit der damals bedeutenden Weilheimer Familie Greimolt verwandt. Ein Todesdatum gibt es nicht, aber 1541 wurde das letzte Werk geschaffen, das man ihm zuschreibt. Sicher ist nur ein Bruchteil seiner Werke erhalten oder bekannt: ein heute verlorener Wappenfries im Weilheimer Rathaus, ein Greimolt zugeschriebenes Epitaph mit der Stigmatisation des Hl. Franziskus und eine Tafel mit der thronenden Maria aus der nahegelegenen Pollinger Pfarrkirche im Weilheimer Stadtmuseum. Das Schlüsselwerk Greimolts aber, die Flügel des Agathenaltars aus der Weilheimer Agathenkapelle, war nur aus der Literatur bekannt. Erst durch die Entdeckung in Wien konnte der Verbleib der zuletzt 1857 in Weilheim dokumentierten Tafeln geklärt werden, die vermutlich als Stand- und Klappflügel die Werktagsansicht des Retabels bildeten. Ein im Stadtmuseum erhaltenes Relief mit der Beweinung Christi aus der Werkstatt Hans Leinbergers dürfte sich im Schrein des Altares befunden haben.

Die Bildtafeln mussten also zurück an ihren Ursprungsort. Zwar handelt es sich beim Agathenzyklus Greimolts nicht um ein Hauptwerk eines der großen deutschen Maler wie Dürer oder Holbein. Aber hier galt es, den Ankauf von Kunstwerken zu fördern, die für die kulturelle Identität einer Region von eminenter Bedeutung sind und so anschaulich die künstlerische Umbruchsituation zu Beginn der Renaissance nördlich der Alpen zeigen können wie diese Bilder. Hinzu kam der glückliche Umstand, dass ein lange verschollenes Werk auf dem Kunstmarkt auftauchte und an den Ort seiner Entstehung zurückgebracht werden konnte. Die Agathenkapelle neben der Weilheimer Pfarrkirche St.Pölten zeugt noch heute von der Verehrung, die die heilige Jungfrau am Ort genoss, und dort war der Altar bis ins 19. Jahrhundert aufgestellt. Ankäufe dieser Größenordnung sind jedoch nicht die Normalität für das Weilheimer Stadtmuseum. Erst nach einem großzügigen Entgegenkommen des Händlers und der Bildung einer breiten Finanzierungskoalition von der Ernst von Siemens Kunststiftung, der Stadt Weilheim, der Landesstelle für die nichtstaat­lichen Museen in Bayern, der Jubiläumsstiftung der Vereinigten Sparkassen Weilheim, der Winfried und Centa Böhm Stiftung und der Kulturstiftung der Länder gelang Museumsleiter Tobias Güthner dieser wichtige Ankauf, durch den sich der Agathenaltar wieder an dem Ort befindet, an dem er höchstes Interesse erweckt und seine größte Strahlkraft entfalten kann.