Mailand, Berlin, Heinsberg
„Crazy Art“ ist zweifelsohne kein Begriff, der die Kunst von Reinhold Begas gut beschreibt, im Gegenteil: Zu sehr ist jener Bildhauer zum Inbegriff von Staatsbildhauerei und Selbstdarstellung der Ära Wilhelms II. geworden, in welcher ihm die prominentesten Denkmalaufträge zugefallen waren, darunter das Bismarck-Denkmal vor dem Reichstag – heute am Großen Stern – und das Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal auf der Schlossfreiheit, das den Zweiten Weltkrieg zwar überstand, nicht jedoch die sowjetische Besatzungszeit. Und doch steht „Crazy Art“ am Anfang der Geschichte jener Wiederentdeckung einer Figur, die nun mit dem Begas Haus in Heinsberg ihre museale Heimat bekommen und damit zugleich in die Geburtsstadt der Künstlerdynastie Begas zurückgefunden hat. Ein Anruf in der Kulturstiftung der Länder im Jahr 2009 brachte den Stein ins Rollen, durchaus im wahrsten Sinne: Ein Mailänder Innenarchitekt, der die Stiftung kannte, war in der Galerie „Crazy Art“ in Mailands Antiquitätenviertel rund um die Pinacoteca di Brera auf eine Marmorgruppe gestoßen, welche die Signatur „R. Begas fec. 1868“ trug und zwischen allerlei Kunst und Krempel – Ritterrüstungen, Holzpferden und einigen recht ansehnlichen Bronze-Eidechsen – auf Kundschaft wartete. Eigenrecherchen im Internet hatten die Besitzer der Figur vom Bekanntheitsgrad des Bildhauers überzeugt; dass jedes öffentliche Interesse an dessen Kunst schon bei seinem Tode 1911 erlahmt und über die Jahrzehnte nahezu erloschen war, ahnte man in Mailand nicht.

Vielmehr glaubte man an einen „deutschen Rodin“ – mit entsprechend vagen, aber gleichwohl optimistischen Preisvorstellungen. Doch hatte sich kein Käufer für das Bildwerk eingestellt, das sich aufgrund von Größe und Sujet durchaus für den Privatgebrauch geeignet hätte. Nun bot der Architekt eine Vermittlung an die Kulturstiftung der Länder an, zumal „Crazy Art“ mit Verkäufen kaum Erfahrung hatte. Mit dem Verleih von Requisiten für Film- oder Fotoaufnahmen machte die Galerie ihr Geld; auch für Partys oder Bühnenbilder stellte man Ausstattungsstücke zur Verfügung, sodass der Laden in bester Mailänder Lage zum beliebten Anlaufziel für Set-Designer geworden war, die nach Kuriosem suchten. Zum Verkauf dagegen standen eher Objekte, die zur Leihe wenig nachgefragt wurden, nicht zuletzt, weil sie zu schwer zu transportieren waren – wie der Begas, der vier Mann zum Tragen braucht. Ein Besuch in Mailand brachte Gewissheit. In der Tat stand dort die bislang unbekannte Fassung einer Begas-Arbeit, die in einer Marmor- und einer bronzepatinierten Galvanofassung nachzuweisen war, wobei erstere seit der Begas-Nachlassauktion von 1912 verschollen ist, während sich die letztere in einer Privatsammlung befindet. Einen Gipsabguss des Werkes besitzt zudem die Dresdner Skulpturensammlung. Detailabweichungen von dem 1912 versteigerten Werk machten alsbald offenbar, dass es sich um eine zweite Marmorfassung handeln musste. Doch wie war diese vom Berlin der 1860er Jahre nach Mailand im Jahr 2009 gelangt? Die Rekonstruktion der Provenienz ist bislang nicht ohne Lücken, doch scheint sie sich nach den Angaben der Galerie einerseits und der Verfasserin des jüngst erschienenen Werkverzeichnisses Jutta von Simson andererseits zu klären: So gehörte der Mailänder „Pan“ offenbar zur Sammlung des Berliner ,Eisenbahnkönigs‘ Bethel Henry Strousberg (1823–1884), der vom schillernden Repräsentanten der Gründerzeit par excellence um die Mitte der 1870er Jahre zum Bankrotteur geworden war und sich als Folge dessen von seinem umfangreichen Kunstbesitz peu à peu zu trennen hatte. So gelangte das Werk in den Besitz des Freiherrn Julius von Born und war in dessen Familie noch 1909 vorhanden, inzwischen jedoch in Budapest. Zu einem unbekannten Zeitpunkt gelangte der „Pan“ aus Ungarn an einen Mailänder Antiquitätensammler und -händler, dessen Nachlass 1999 von der Galerie „Crazy Art“ pauschal erworben wurde.
So stand zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder ein zentrales Marmorwerk von Reinhold Begas zum Verkauf. Das Interesse deutscher Museen aber war gering, was indessen weniger der Qualität des Werks als vielmehr der Tatsache geschuldet war, dass die infragekommenden Museen – etwa in Berlin und München – gut mit Werken Reinhold Begas’ ausgestattet sind. Zudem erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht, wurde die Vermittlung durch die Kulturstiftung der Länder von den Vorstellungen der Eigentümer. In der Tat aber war ein marktgängiger Preis für einen marktfernen Künstler schwer zu finden. Schließlich half eine zeitlich günstige Koinzidenz: Aus Anlass des einhundertsten Todestags des Bildhauers 2011 plante das Deutsche Historische Museum im Berliner Zeughaus Unter den Linden mit der Ausstellung „Begas – Monumente für das Kaiserreich“ einen neuen Blick auf den allzu lange einseitig als wilhelminischen Staatskünstler herabgewürdigten Bildhauer, dessen über Jahrzehnte vermisster, von verschiedenen Autoren immer wieder geplanter und doch schließlich unrealisiert gebliebener Œuvre-Katalog durch Jutta von Simson als Teil des Ausstellungskataloges hinzugesteuert wurde. So konnte die Kulturstiftung nicht nur die Aufnahme des „Pan“ in das von ihr geförderte Werkverzeichnis vermitteln, sondern auch die Ausleihe desselben in die Ausstellung. Zu guter Letzt erfolgte die Empfehlung des Verkaufs über das Auktionshaus Grisebach, da den Kindern des unterdessen verstorbenen Eigentümers der Weg über die Versteigerung als der einzig gangbare erschien.
Zwar kehrte der „Pan“ aufgrund von Zollbestimmungen noch einmal nach Italien zurück. Am 23. November des vergangenen Jahres gelang dann aber in der Villa Grisebach – nur wenige Meter von Begas’ einstigem Atelier in der Fasanenstraße entfernt – die Ersteigerung des Werkes, das seinen oberen Schätzpreis von 90.000 Euro nur maßvoll überstieg: Der Berliner Kunsthändler Wolfgang Wittrock ersteigerte Los Nummer 170 im Namen der Ernst von Siemens Kunststiftung, die, begleitet von einer stillen Reserve der Kulturstiftung der Länder, die Gesamtfinanzierung des „Pan als Lehrer des Flötenspiels“ übernahm und das Werk fortan dem Begas Haus in Heinsberg als Dauerleihgabe zur Verfügung stellen wird. Zwei Jahre nach der ersten Kontaktaufnahme aus Mailand fand damit die hundertjährige Reise des „Pan“ durch Europa ihr glückliches Ende – eine Reise, die streng genommen gar nicht in Berlin begonnen hatte, sondern gleichfalls in Italien. Nicht in Mailand aber, sondern in Rom. Und das viel früher. Ein Stipendium der Berliner Akademie hatte den jungen Reinhold Begas 1856 nach Italien gebracht, wo er in Rom die Maler Arnold Böcklin und Anselm Feuerbach kennenlernte. Vor allem Böcklins symbolistische Bilderwelten, die von mythologischen Figuren wie Faunen und Nymphen, Satyren und Wassernixen bevölkert waren, sollten von prägendem Einfluss auf den jungen Berliner werden, dem auch die realistische Naturauffassung des Schweizers einen Fingerzeig zur Überwindung jenes erstarrten Klassizismus gab, der die Bildhauerschule nach Christian Daniel Rauch in eine künstlerische Sackgasse hatte geraten lassen.
Wie bei Böcklin zeigt uns Pan hier nicht sein Gesicht des Abends, sondern der Mittagshitze: ruhig, bedächtig, besonnen. Und doch lassen die kraftvoll aus der Komposition herausragenden Bocksbeine keinen Zweifel daran, dass Pan auch anders kann. Stupend, ja malerisch behandelt Begas seine Oberflächen, rauh und unbehauen scheint das Inkarnat, geradezu kühn bleiben Grate, Löcher und Spuren von Bohrer und Flacheisen im Marmor stehen und erwecken so ein reiches Spiel von Licht und Schatten. Fell und Haare zerlaufen wie frischer Teig, wie Eis in der Sonne. Hinweg schmilzt die Kälte des Spätklassizismus der Rauch-Schule unter Begas Händen, von dem es später sinnreich heißen sollte, er habe Berlin „rauchfrei“ gemacht. Begas’ „Pan“ ist gleichsam der humoristisch-individuelle Auftakt einer künstlerisch befreiten Hinwendung zu einem spielerischen Neubarock, unbelastet von all den Folgen idealistischer Antikenrezeption seit dem Künstlerevangelium Winckelmanns und dessen Diktum von der „edlen Einfalt“ und „stillen Größe“. Kaum besser als vor dem „Pan als Lehrer des Flötenspiels“ erkennt man das Talent des jungen Begas, der zu den Schlüsselfiguren der deutschen Skulptur gehört und dessen späterer Beitrag zur Bombastik des borussozentrischen Denkmalskultes unter Wilhelm II. über ein Jahrhundert lang den Blick auf seine einstmals große innovative Kraft verstellte. „Schlendrian in der Ausführung“ war noch ein gemäßigter Kommentar der zeitgenössischen Kunstkritik zum frühen Begas, der mit seiner Borussia-Gruppe auf der Berliner Börse, seinem Schiller-Denkmal auf dem Gendarmenmarkt oder seinem Entwurf für ein Denkmal Friedrich Wilhelms III. für „schwülstigen Stil“ oder die „mißverstandene michelangeleske Ueberschwenglichkeit“ seiner Kunst getadelt wurde. So manches in der Kunstgeschichte, das aus der Rückschau kaum modern erscheint, war zu seiner Zeit vielleicht doch: „Crazy Art“.