Mädchen unter der Haube

Effektvoll im Hell-Dunkel einer abendlichen Raumbeleuchtung inszeniert, erscheinen zwei Mädchen am Spinnrad mit Spindel und Rocken (altdeutsch Kunkel), die der Berliner Maler Philipp Franck 1907 während einer seiner zahlreichen Reisen in den Spreewald porträtierte.

Philipp Franck, Spreewälder Spinnerinnen, 1907, 68 × 53 cm; Wendisches Museum, Cottbus
Philipp Franck, Spreewälder Spinnerinnen, 1907, 68 × 53 cm; Wendisches Museum, Cottbus

Zwar mit Verspätung zu Vorgängern wie den Malern Paul Gauguin, Vincent van Gogh oder dann Max Liebermann, die bretonische oder holländische Frauen und Mädchen in ihrer charakteristischen Tracht als Bildsujet wählten, fand auch Philipp Franck (1860 Frankfurt a. M. – 1944 Berlin) im Spreewald jene Exotik im Nahen, eine nahezu unberührte Landschaft mit autochthonen Bewohnern, die Brauchtum und Tracht bewahrt hatten und ein malerisch reizvolles Gegenbild zum städtischen Leben verkörperten.

Der Spreewald, mythisch durch die Ursprungs­bevölkerung der Wenden und Sorben, mit einer eigenen Sprache und der malerischen Tracht seiner Bewohner, den zahllosen Wasserwegen und der gewissen Melancholie der Landschaft, war durch Ausflügler aus der nahegelegenen Großstadt Berlin zunehmend tou­ristisch erkundet worden. Graphische Mappen mit romantischen Ansichten zirkulierten und verhalfen der abgeschiedenen Gegend seit den 1880er Jahren zu Popularität. Francks Hinwendung zur Spreewald-Region entsprang jedoch nicht einem Interesse an der Eigentümlichkeit dieser Landschaft, sondern es entstand hier eine kleine Reihe von Gemälden, intime Interieurs, die Frauen und Mädchen in ihren dekora­tiven Trachten bei häuslichen Arbeiten zeigen.

Die sukzessive Stadtflucht des seit 1892 in Berlin lebenden Malers hatte mit seiner Übersiedlung ins Wannseedörfchen Stolpe begonnen, einem Ort, der noch durch eine bäuerliche Bevölkerung geprägt war und sich erst allmählich mit der Villenkolonie Alsen zu einer städtischen Sommerresidenz der prosperierenden Reichshauptstadt entwickelte. Auch in den Genrebildern aus Stolpe stand für Franck zunächst die Faszination der einfachen Arbeit, wie es die Kartoffelernte oder Feldarbeit war, die zumeist von Frauen ausgeführt wurde, im Vordergrund. Das große Vorbild Liebermann hatte den Weg frei gemacht für solche Motive.

Denn je stärker die Industrialisierung fortschritt, desto mehr rückte die nicht entfremdete Arbeit der Landbevölkerung auch in der modernen Malerei in den Mittelpunkt. Diese Darstellungen avancierten zum Sinnbild eines traditionellen sozialen Gefüges, das noch intakt zu sein schien und ein mentales und ideologisches Gegengewicht zu dem Topos ‚Stadt‘ darstellte. Im Gegensatz zu der Vereinzelung des Städters, seiner Wurzellosigkeit und Individualisierung, erkannte man im Menschen auf dem Lande einen Typus, dessen Herkunft feststand. Ein sichtbarer Indikator dieser Bindung war die jeweilige regionale Tracht.

Im Gegensatz zu der städtischen, bürgerlichen Kleidung, die als gekünstelt und von der Mode abhängig gesehen wurde, verkörperte die Tracht mit ihrem festgelegten Regelwerk ein Gegenbild. Die Trachtenkleidung ist seit Jahrhunderten entwicklungslos und bedeutete damit eine Konstante innerhalb einer sich stetig wandelnden Welt. Sie gab darüber hinaus auch Auskunft über den sozialen Stand, besonders seiner Trägerin: Das unverheiratete Mädchen, die ehrbare Ehefrau und die Witwe waren leicht zu erkennen.

In der Malerei des 19. Jahrhunderts hatte sich mit der Frau in volkstümlicher Tracht ein reizvolles Bild­sujet entwickelt. Sind es zunächst die schönen, idealischen und exotischen Südländerinnen, die das Repertoire bestimmen, verschiebt sich gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend das Interesse der modernen Künstler zu einem Frauentyp, welcher einem näheren Umfeld entstammt.

So malte Max Liebermann die holländischen Waisenmädchen und sein Freund, der schwedische Maler Anders Zorn, seit 1898 Frauen und Mädchen in Tracht aus seiner Heimatregion Mora in Mittelschweden.

Die Faszination dieses Frauentypus lässt sich nur zum Teil auf das Malerische der Ausstattung zurückf­ühren. Es ist auch „die Frau unter der Haube“, die ein traditionelles Rollenbild erfüllte. Die Haube war in einer regulierten Kleiderordnung das weithin sichtbare Zeichen der Unterwerfung unter eine höhere Ordnung, ob es sich um Nonnen, Kommunikantinnen, Waisenmädchen, Ammen, Dienstmägde oder Frauen in einer ländlich strukturierten, patriarchalisch ausgerichteten Gesellschaft handelte. Im Zeichen einer neuen Kodierung der Geschlechter um 1900, angesichts von Frauen­emanzipation und Gleichberechtigung erschien ein solches Frauenbild wie ein Stabilitätsfaktor innerhalb eines sich wandelnden Sozialgefüges.

Die malerische Spreewälder-Tracht mit den großen Hauben, Schürzen und vielen übereinander getragenen Röcken der Frauen und Mädchen interessierte Franck vordringlich. Es war ein Bildsujet, das sich auch in Berlin großer Popularität erfreute, da die Spreewälder Amme als Kindermädchen der reichen Familien fast ein unabdingbarer, zudem pittoresker Bestandteil im Kaleidoskop der unterschiedlichen Berufstypen der Hauptstadt war – Franck konnte mit diesem Motiv also durchaus auf Resonanz hoffen.

In der Neuerwerbung für das Wendische Museum in Cottbus zeigt Franck eine einfühlsame Interieurdarstellung, bei der die geheimnisvolle Lichtführung eine große Rolle spielt und die weißen, kunstvoll gebundenen Hauben und bunten Trachtentücher besonders gut zur Geltung kommen. Die beiden Spreewälder Spinnerinnen sind zudem im Kontext einer tradierten Bildüberlieferung zu sehen. Als eine der ältesten Kulturtechniken der Menschheit, speziell der Frauen, gilt das Spinnen als das archaische Sinnbild der Frauenarbeit schlechthin. In Mythos, Sage und Märchen spielen Rocken und Spindel sowie die spinnende Frau eine schicksalshafte, oftmals dämonische, manchmal sogar hexenhafte Rolle. Selbst Arachne, Gattungsname der Spinne, ist dem antiken Mythos nach die Metamorphose einer (unbotsamen) Frau. Die tanzende Spindel, die wie durch Zauberhand sich von allein zu bewegen scheint und nicht gleich den Antrieb durch das fußbetriebene Spinnrad erkennen lässt, gibt der Spinnkunst der Frauen eine eigentümliche suggestive Macht. Die Spinnerinnen in Francks Gemälde sind durchaus als Nachfahren der Moiren oder Parzen, Schicksalsgöttinnen, die den Lebensfaden spinnen, abmessen und durchschneiden, anzusehen.

Franck gibt mit diesem Interieur Einblick in eine Spinnstube, eine Einrichtung, die seit dem frühen Mittelalter überliefert ist, geselliger Treffpunkt der Frauen, die sich hier in den dunklen Herbst- und Wintermonaten zusammenfanden. In den Licht- oder Kunkelstuben (Spinnstuben) schienen sich frauliche Tugend und Häuslichkeit zu manifestieren. Oftmals waren sie aber auch als Kernzelle weiblicher Macht und Verschwörung gefürchtet – der sprachlich pejorative, etymologisch verwandte Begriff der „Kungelei“ verweist noch darauf. Das Gegenbild der häuslichen, vorbildhaften Frau, war die nicht gezähmte, auch sexuell unangepasste Frau. Oftmals als Prostituierte im gesellschaftlichen Abseits lebend, war für sie eine übliche Strafe das Verbringen in das öffentliche Spinn- und Arbeitshaus. Emblematisch für die christliche Todsünde der Acedia, der Trägheit, wird die eingeschlafene Spinnerin in der Bildkunst verwandt.

Die beiden Spreewälder Spinnerinnen in Francks Gemälde geben uns aber auch ein kleines Fragezeichen auf: Während die im Vordergrund sitzende junge Frau tugendhaft die Augen niedergeschlagen hat, schaut ihre Nachbarin fragend oder fast sogar trotzig aus dem Bild auf den Betrachter. Sind hier vielleicht die beiden „Schwestern“ gemeint: Das gute und das schlechte Mädchen? Bahnt sich hier Rebellion an, ein Bruch mit Tradition und Konvention?

Philipp Franck gehört einer Generation an, die für die Kunst der Jahrhundertwende bedeutend werden sollte, eine Generation, die zudem mit einer Fülle von „Ismen“ innerhalb des Kunstgeschehens konfrontiert wurde: Dem Salon-Idealismus der Gründerzeit, dem sozialen Naturalismus der 1880er Jahre, dem scheinbar neutralen Realismus, sowie sich dem daraus wenig später entwickelnden Impressionismus deutscher Ausprägung. Nach einer profunden Ausbildung als Maler am Frankfurter Städelschen Kunstinstitut war Franck Mitglied der Künstlerkolonie Kronberg geworden und betrieb weiterhin Studien an der Kunstakademie in Düsseldorf. Seit 1892 lebte er in Berlin, 1898 schloss er sich als Mitbegründer der Künstlervereinigung „Ber­liner Secession“ an. Mit den Gemälden, die um 1900 bis 1910 entstanden, gilt er als einer der bedeutenden Vertreter des deutschen Impressionismus.

Nicht mit solchen materiellen Gütern ausgestattet wie sein Freund, Künstlerkollege und Nachbar am Wannsee, Max Liebermann, übte Franck, neben seiner rein künstlerischen Profession für Jahrzehnte den Beruf als Kunstpädagoge und Zeichenlehrer an der Berliner Königlichen Kunstschule aus. Seine Reisen in den Spreewald waren für ihn die „kleinen Fluchten“. In seiner 1920 erschienenen Autobiographie „Vom Taunus zum Wannsee“ schrieb Philipp Franck über diese Zeit: „Unmittelbar nach dem Unterricht fuhr ich aus der Kunstschule weg über Cottbus nach Burg [Bórkowy], wo ich kurz vor 12 in der Nacht ankam […] am nächsten Morgen wartete das Modell schon auf die Sitzung. Sommers wie winters hatte ich regelmäßig diese Fahrten in den Spreewald fast zwei Jahre lang unternommen und oft blieb ich gleich eine halbe Woche dort.“

Mit den „Spreewälder Spinnerinnen“ gelangt nun ein Hauptwerk dieser Schaffensphase Francks, der wenige Jahre nach seiner Serie der Genrebilder in Berlin zum Direktor der Königlichen Kunstschule ernannt wurde, in das Wendische Museum in Cottbus. Die Kulturstiftung der Länder unterstützte den Ankauf: In der Cottbusser Sammlung, die sich der Darstellung und Bewahrung der wendischen /sorbischen Kultur verschrieben hat, zeugt es – inmitten der reichen Kollektion niedersorbischer Trachten des Museums – von erst vor Kurzem verschwundenen Kulturpraktiken der einstigen Bevölkerung.

 

Förderer dieser Erwerbung:

Kulturstiftung der Länder, Stiftung für das Sorbische Volk, Sparkasse Spree-Neiße, Spenden der Bevölkerung