Mädchen in Blau

Was für ein Blau. Oder sollte man von verschiedenen, ja konträren Blautönen sprechen? Etwas heller, weniger aufmüpfig als Grundfarbe des Kleides; tief ultramarin, aufgepeitscht von grünen und schwarzen Reflexen, bei Wasser und Himmel. Und dann erst die Augen: Wie ein Spiegel werfen sie unergründlich himmelblau ihre Außenwelt zurück. Solche Augen vergisst man nicht, mit ihrem spätbarocken Dresdner Porzellanpuppenblau.

Im Frühjahr 1921 malte Oskar Kokoschka die damals zehneinhalbjährige Gitta Wallerstein. Das zierliche und wohl auch schüchterne Mädchen, das wenige Jahre später als Tänzerin der Berliner Staatsoper Karriere machen und 1933 zunächst in die Schweiz, 1939 weiter in die USA emigrieren sollte, stand dem 35-jährigen Maler in seinem Atelier in der Dresdner Kunstakademie Modell. Das Atelier im Akademie­gebäude an der Brühlschen Terrasse gibt es noch – Kokoschka hat den Blick von dort zum Neustädter Elbufer mehrfach gemalt. Die Fluss- oder Seenlandschaft, die Kokoschka hinter Gitta ins Bild setzte, sieht jedoch bemerkenswert undresdnerisch aus. Dieses Bild bewahrt gleich mehrere Geheimnisse.

Oskar Kokoschka, Gitta Wallerstein, 1921, 85 × 60 cm; Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden
Oskar Kokoschka, Gitta Wallerstein, 1921, 85 × 60 cm; Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

Der einstige Bürgerschreck und „Oberwildling“ Kokoschka bekleidete in Dresden seit 1919 eine Professur. Dort erfand er nicht nur seine bürgerliche Existenz, sondern auch seine Malerei völlig neu: in leuchtenden Farben und kräftigen Pinselstrichen, vital und welthaltig. Nach Höhenflügen und Niederlagen in Wien und Berlin, nach der gescheiterten Beziehung zu Alma Mahler und seiner schweren Kriegsverletzung konnte sich Kokoschka in Dresden wieder freimalen – und entdeckte dabei Farbe und Licht.

Im Porträt von Gitta Wallerstein zeigt sich der große Einzelgänger der Moderne auf der Höhe seiner Möglichkeiten. Und reiht sich damit würdig ein in die Dresdner Ahnenreihe beglückend ambivalenter Mädchenbildnisse: von Vermeers „Brief lesendem Mädchen“ über Liotards „Schokoladenmädchen“ – beides Ikonen der weltberühmten Gemäldesammlung – bis zu ­Heckels und Kirchners in und um Dresden entstandenen Mädchenakten. Mit Bildern wie diesem setzte Kokoschka auf dem Höhepunkt seiner Dresdner Zeit (er ließ sich bereits im Herbst 1923 vom Lehrbetrieb freistellen und ging auf Reisen) selbstbewusst einen künstlerischen Kontrapunkt zum Expressionismus der „Brücke“. Danach musste zwangsläufig – in Dresden mit der Berufung von Otto Dix – etwas Neues kommen.

Nun ist Kokoschkas Bildnis „Gitta Wallerstein“ dauerhaft nach Dresden zurückgekehrt. Seit 2005 als Leihgabe in der Galerie Neue Meister im Albertinum ausgestellt, konnte es dank der Unterstützung des Freistaats Sachsen, der Kulturstiftung der Länder und der Ernst von Siemens Kunststiftung erworben werden. Es stammt aus der Sammlung des Pianisten und Kapellmeisters Willy Hahn (1896 –1988), dessen Sohn Peter Hahn als Kunsthistoriker und ehemaliger Direktor des Berliner Bauhaus-Archivs die Nöte und Wünsche von Museumsleuten, aber auch die Glücksmomente und Erkenntnisgewinne, die Museen ihren Besuchern ermöglichen, aus eigener Berufserfahrung kennt.

Peter Hahn, Jahrgang 1938, trat in Dresden nicht nur als kluger Sachwalter der väterlichen Sammlung auf, sondern erwies sich den Dresdner Museen als echter Partner. Seit der grundlegenden Ausstellung „Kokoschka in Dresden“ 1996 in Dresden und Wien, wo das Porträt „Gitta Wallerstein“ zu sehen war, lieh er regelmäßig Arbeiten Kokoschkas nach Dresden aus.

2011 veranstaltete das Dresdner Kupferstich-Kabinett die Ausstellung „Kokoschka als Zeichner. Die Sammlung Willy Hahn“. Im Katalog zeichnete Peter Hahn die lebenslange, sich auf Künstler der Moderne konzentrierende Sammelleidenschaft des Vaters minutiös nach – und verschwieg dabei auch unangenehme Details wie dessen NSDAP-Mitgliedschaft nicht. Vorbildlich war auch der Wunsch Peter Hahns, die Erwerbungsgeschichte der von seinem Vater nach 1933 zusammengetragenen Blätter durch eine Provenienz­forscherin überprüfen zu lassen. Von den knapp 90 in der Ausstellung präsentierten Arbeiten Kokoschkas – Aquarelle, Zeichnungen, Mischtechniken – haben Peter Hahn und seine Familie nun den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden die 80 wichtigsten Blätter geschenkt – als noble Zugabe zum Erwerb des Gemäldes „Gitta Wallerstein“.

Vor der Verstümmelung der Museen im Rahmen der Aktion „Entartete Kunst“ 1937 besaßen die Dresdner Kunstsammlungen allein sechs Gemälde Kokoschkas aus dessen Dresdner Zeit. Die von Galeriedirektor Hans Posse ab 1919 erworbenen Gemälde wurden nach ihrer Beschlagnahme nicht vernichtet, sondern sind heute in Museen über die ganze Welt verstreut. Nach Dresden kehrte keines der Bilder zurück. Mit der Schenkung Hahn kann Dresden zumindest im Bereich der Papierarbeiten Kokoschkas an seine Sammlungs­tradition anknüpfen. Zusammen mit den bereits vorhandenen Blättern und Mappenwerken besitzt das Dresdner Kupferstich-Kabinett nun wieder eine der gewichtigsten Werkkomplexe Kokoschkas in einem deutschen Museum.

Peter Hahn wünscht sich von den Dresdner Kunstsammlungen, dass sie ihre Forschungen zu Kokoschka, zur Kunst der Klassischen Moderne der Zwischenkriegszeit, zur Aktion „Entartete Kunst“ und zur Exilbiographie verfemter Künstler weiter intensivieren. Hartwig Fischer, der Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, lobt Hahns „gelebtes Ethos“ und führt weiter aus: „Erwerb und Schenkung sind ein Glücksfall für uns, weil die Bedingungen, die der Sammler daran knüpft, der Sache dienen – und nicht seiner Selbstdarstellung.“

Zu dem Konvolut gehören frühe Figurenstudien im Geiste von Schiele und Klimt ebenso wie Studien zum berühmten Gemälde „Frau in Blau“ von 1919 oder exemplarische Porträtstudien der 1920er Jahre. Eine 1965 entstandene Porträtzeichnung von Willy Hahn dokumentiert die freundschaftliche Verbindung von Künstler und Sammler, die Anfang der 1950er Jahre geknüpft wurde und bis zu Kokoschkas Tod 1980 lebendig blieb.

Teil der Schenkung sind einige erlesen schöne Aquarelle aus der Dresdner Zeit. Eines davon zeigt Victor Wallerstein, Gittas Vater, den Kokoschka als Mitarbeiter Paul Cassirers kennengelernt hatte und der ab 1920 als selbstständiger Kunsthändler am Berliner Lützowufer auch Werke von Kokoschka anbot. Ihr Verhältnis scheint offenherzig gewesen zu sein, denn Kokoschka versah das melancholische Gelehrten­konterfei 1923 mit folgender Zueignung: „Dem lieben Freund Wallerstein / Es ist nach einigen Tagen An­strengung von selber gekommen und ich habe es nur gemalt.“

Weniger eindeutig identifizieren lässt sich ein um 1922/23 entstandenes Aquarell, das ein „Sitzendes Mädchen“ mit unter dem Kinn aufgestütztem Arm zeigt. Ob es sich bei der Dargestellten ebenfalls um Gitta Wallerstein handelt, ist leider nicht gesichert. Auch wenn die Kopfform eine andere ist, ähneln sich Mundwinkel, Augenbrauen und der langgezogene Nasenrücken. Für ein weiteres Porträt Gittas spricht auch, dass Willy Hahn das bezaubernde Blatt Mitte der 1950er Jahre nur wenig später als das Ölporträt in der Frankfurter Galerie Hanna Bekker vom Rath erwarb. Dort wurde damals im Auftrag der Erben die Sammlung des 1944 in Florenz verstorbenen Victor Wallerstein veräußert. Für Willy Hahn, der sich über seine Neuerwerbungen mit Kokoschka ausgetauscht haben wird und zudem regelmäßigen Kontakt zu Gitta ­Wallerstein pflegte, stand die Identität der Dargestellten – so erinnert sich Peter Hahn – jedenfalls fest.

Gegenüber dem Kunsthistoriker Joseph Paul Hodin erinnerte sich Gitta Wallerstein, dass sie Kokoschka zwischen 1921 und 1936 häufiger begegnet war und ihm 1926 oder 1927 für ein weiteres Porträtgemälde saß – das Kokoschka nicht vollendet und später wohl übermalt hat. Hodin schilderte Gitta Wallerstein auch den tiefen Eindruck, den die Porträtsitzungen im März 1921 auf sie gemacht hatten: „Ein riesig schüchternes Kind, kann ich mich genau entsinnen, wie mein Vater mich zu einer Sitzung in Dresden zwar hinbrachte, aber dann fortging und seine Tochter in Todesängsten zurückließ. O. K.’s Wiener Dialekt war für mich beinahe unverständlich, und ich malte mir nun aus: was, wenn der Herr Professor mit dir spricht, und du verstehst ihn nicht? […] Es war dann natürlich gar nicht schlimm. Ich saß schweigend auf meinem Stuhl, und Kokoschka sprach, und ich verstand beinahe alles. […] Ich brauchte während der elf Tage, die ich ihm ‚saß’, kaum je zu sitzen, sondern konnte herumlaufen, mich frei bewegen, mit Gerda Müller, der Schauspielerin, die sich jeden Tag im Atelier einfand, an dem riesigen Kachelofen herumturnen oder meine ersten Ballettübungen (ich hatte gerade zu dieser Zeit mein Studium begonnen) vorführen. Er wartete geduldig, bis er mich, oder was er von mir brauchte, im rechten Licht erhaschte. Manchmal hielt er die Farbtuben gegen mein Kleid oder Haar und befragte mich mit ernstestem Gesicht um meine Meinung, ob ich fände, sie passten.“

Es ist diese unbedingte Anteilnahme, die Kokoschkas Kinderbildnisse zu etwas Besonderem machen. Der Künstler verheimlichte oder verniedlichte nichts, die Schüchternheit des zehnjährigen Kindes spiegelt sich in dem ungewöhnlichen Motiv der überkreuzten Hände – und in Gittas gesenktem Blick. Und doch haftet dem Bild etwas Offenes, Transitorisches an. Man meint die wache Zeitgenossin und sensible Künstlerin, die aus dem Kind erst noch werden sollte, bereits zu erkennen.

Immer wieder wurde Kokoschkas Hellsichtigkeit gerühmt, seine, so Gitta Wallerstein, „beinahe gespenstische Gabe, im Innern eines Menschen zu lesen“. Als überzeugter Humanist, der sich intensiv mit Bildungsfragen beschäftigt hat, wusste Kokoschka diese Gabe voller Empathie einzusetzen. Ein Kinderbildnis wie das von „Gitta Wallerstein“ ist der schönste Beweis.