Letzte Klänge altdeutscher Malerei
Die Stuttgarter Staatsgalerie gehört zu jenen Schatzhäusern, welche die seit der Blüte der Romantik bewunderten Werke der altdeutschen Tafelmalerei hüten. Vor allem das Schaffen der schwäbischen Schule mit ihren Zentren in Ulm und in Sigmaringen lässt sich in dieser Sammlung so gut wie vollständig überblicken. Meist sind es Altarbilder, in ihrem Charakter von hausgeputzter Reinlichkeit, die den Besucher in Stuttgart erwarten. Sie haben es heute in der Öffentlichkeit nicht leicht. Sie müssen sich neben der Kollektion moderner Kunst behaupten, einer der besten im Lande. Nebenan, im Landesmuseum Württemberg, hat man den größten Teil der schwäbischen Schnitzaltäre, einst Herzstücke eines lokalen Künstlerstolzes, in die Depots verbannt. Umso erfreulicher, dass die Staatsgalerie ihren altdeutschen Bestand in jüngster Zeit um weitere Meisterwerke bereichern konnte. Die Auflösung der hoch bedeutenden fürstlichen Kunstsammlungen in Donaueschingen hat schöne und historisch signifikante Tafeln altdeutscher Malerei ihres angestammten Gehäuses beraubt, der Fortuna des Kunstmarktes ausgeliefert, die Gefahr ihrer Abwanderung ins kunstinteressierte Ausland heraufbeschworen. So war es ein Glücksfall, dass es der Staatsgalerie nicht zuletzt dank der Unterstützung der Kulturstiftung der Länder gelang, die wohl kostbarste Bildfolge aus der Donaueschinger Sammlung, die „Graue Passion“ von Hans Holbein d. Ä., zu erwerben und dadurch das Niveau ihrer altdeutschen Sammlung zu heben.
Jetzt haben die Staatsgalerie und die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, wieder unterstützt durch die Kulturstiftung der Länder, erneut aus dem „Nachlass“ der Donaueschinger Sammlung nochmals Glanzstücke und zugleich historische Memorabilia der ausklingenden altdeutschen Malerei erworben. Um die Bedeutung dieser Akquisition zu verstehen, ist ein Blick in die baden-württembergische Geschichte notwendig. Große Teile Württembergs gingen früh zur Reformation über. In manchen Reichsstädten wie Ulm löschten Bilderstürme das Erbe der altdeutschen Malerei aus und die Meister verloren mit der Kirche ihren wichtigsten Auftraggeber. Zugleich aber hielten Teile der alten Adelsherrschaften wie die Fürstenberger eisern am katholischen Glauben fest. Zu diesen Geschlechtern zählten auch die seit langem ausgestorbenen Grafen von Zimmern, die den Historikern durch die berühmte Zimmersche Chronik bekannt sind. Ihr in unserem Zusammenhang wichtigster Vertreter war der Herr und Graf Gottfried Werner von Zimmern (1484–1554), der einerseits wegen seiner poetischen und musikalischen Neigungen als Renaissancefürst gelten konnte, andererseits in der Zimmerschen Chronik als ein „götzfürchtiger und viel bettender Mann“ und ein „warlicher catholicus“ geschildert wird. Die Zimmern stammten vom oberen Neckar, ihr Hauptsitz war das heute badische Meßkirch. Für die Pfarrkirche in St. Martin in Meßkirch entwarf Gottfried Werner eine eigene Gottesdienstordnung.
Zu dieser altgläubigen Haltung Gottfried Werners gehörte die Pflege der altdeutschen Altarmalerei, welche vielerorts nach 1530 zum Erliegen kam, da die reformatorischen Bewegungen nach dem Wort, nicht nach dem Bild verlangten. Gottfried Werner reagierte auf diesen protestantischen Ikonoklasmus mit einer Invasion von Altären, welche zumal die von den Protestanten geschmähte Verehrung der Heiligen wieder zum Erblühen bringen sollte. Für die von ihm 1526, ein Jahr nach dem Bauernkrieg, neu errichtete Pfarrkirche St. Martin in Meßkirch ließ er außer dem Hochaltar mit der Anbetung der Könige elf Heiligenaltäre mit gemalten Retabeln aufrichten. Meßkirch war kein Vorort der altdeutschen Malerei gewesen. Woher rief der katholische Herr und Graf die Künstler und vor allem den leitenden Meister, der sich als ein glänzender Kompositeur und Kolorist erwies, vertraut mit der Tradition der voraufgehenden altdeutschen Malerei? Die Quellen schweigen in dieser Frage. Auch die Zimmernsche Chronik erzählt nichts von der Tätigkeit eines Malers. Für Kunsthistoriker besonders intriguierend: Wir kennen nicht einmal seinen Namen. Seit der alte Bayersdorffer ihn 1882 als „Meister des Meßkircher Altars“ getauft hat, gehört er als „Meister von Meßkirch“ in die Geschichte der altdeutschen Malerei und hat dort seinen festen Platz. Alle Versuche der durch diese Anonymität genierten Forschung, dem Unbekannten aus den Quellen irgendeinen Namen aufzuhalsen, haben zu keinem schlüssigen Resultat geführt. Zu seiner aparten Malerei gehört ein gewisser Eklektizismus, in den von verschiedenen Seiten Anregungen eingeflossen sind. Am deutlichsten ist die Nähe zu Hans Baldung Grien, zu dessen Freiburger Jahren. Vielleicht ist der Unbekannte von dort gekommen, obwohl ihm die Schärfe und Kälte Baldungs abgehen.
Die Trophäe unter den Neuerwerbungen ist der sogenannte Wildensteiner Altar. Er trägt seinen Namen nach der im Besitz der Familie Zimmern befindlichen Burg, ist aber schon 1623 in der Schlosskapelle in Meßkirch nachweisbar. Das Retabel ist mit Ausnahme der Rahmung vollständig erhalten. Im geöffneten Zustand zeigt es ein Bild mit inhaltlich zugeordneten Flügeln, geschlossen nebeneinander vier hochrechteckige Tafeln. Die Maße sind bescheiden. Ihre Höhe beträgt wenig mehr als 60 cm. Das lässt auf den Altar in einer Privatkapelle schließen, dem Programm nach in der Marienkapelle einer der Schlösser oder Burgen des Gottfried Werner von Zimmern. Dafür spricht auch die ungewöhnlich kostbare Ausführung mit reichlicher Verwendung von Gold.
Das Mittelbild ist ein volltönendes Palladium der Katholizität, vor allem der Marien- und Heiligenverehrung. Im Zentrum schwebt vor einer strahlenden Sonne und einer Aura aus zartem Rosa und Gelb Maria als apokalyptisches Weib und Königin des Himmels. Sie ist in ein leuchtend blaues Gewand gekleidet und setzt ihre Füße auf eine Mondsichel, während über ihrem Haupt zwei Engel eine Bügelkrone halten. Als künftiger Salvator Mundi legt das Kind seine Hand auf eine goldene Weltkugel. Wie das umgebende Wolkenband deutlich macht, sind wir Zeugen einer Erscheinung. Den Schlüssel für das Verständnis der Vision liefert die Offenbarung Johannes 12.1: „Dann erschien ein großes Zeichen am Himmel, eine Frau mit der Sonne bekleidet. Der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von Sternen um ihr Haupt.“ Wie auf einem Rosenkranzbild wird die Himmelskönigin von einem Kreis von 14 Heiligen umschlossen. Vierzehn, das ist bekanntlich die Zahl der Nothelfer. Sie sind die Fürbitter für die außerhalb der himmlischen Sphäre knienden Stifter. Sie erscheinen als Büsten oder Dreiviertelfiguren, sind lebhaft charakterisiert. Zu unterst erblickt man die Bischöfe Martin und Erasmus, gleich über ihnen folgen der Pestheiler Rochus und der Christusträger Christophorus. Um Haupt und Büste Mariens versammeln sich die Jungfrauen: Ursula mit den Pfeilen, Katherina mit dem Schwert und dem Verlobungsring, die gelehrte Odilie von Hohenberg mit Buch. Manche von ihnen wurden im Hause Zimmern besonders verehrt.
Wir stehen vor einer der letzten großen Kompositionen der altdeutschen Malerei, einem gemalten Defensorium der Altgläubigkeit in der Stunde der Reformation. Auf der Mitteltafel ist alles noch spätgotisch, auf den Flügeln mit dem Stifterpaar sprüht und funkelt eine verspielte nordische Renaissance. Aus goldenen Schalen steigen farbige Marmorsäulen auf. Die Arkaden sind mit goldenen Rosetten geziert. Hinter den Stiftern erheben sich italisierende Palazzi mit Baldachin, Brücken und Uhrturm. Es ist pikant, wie hier das Verspielte sich mit dem Frommen mischt. Vorne knien die Stifter, regungslos, ja wie erstarrt im Rosenkranzgebet an die Muttergottes. Gottfried Werner erscheint in einer grau silbern glänzenden Reliefrüstung. Nur das Visier ist gelüftet. Aus dem Eisen tritt das Adelsantlitz mit der herrischen Hakennase hervor. In seinen Händen hält er den Rosenkranz: große Kugeln und eine goldene Nuss. Aber dann glänzt wieder der Luxus: Dolch und Zweihänder sind mit Gold verziert, auf dem Helm prangt ein roter Hirsch mit goldenem Geweih. Das prächtige Wappen zeigt auf blauem Schild den goldenen Löwen von Zimmern mit wirbelndem Schweif. Das Katholische und das Adlige, das Fromme und das Heraldische werden demonstriert. Die Unterschrift ist lapidar: „Gotfrid Wernher Grave und herre zu Zymbern, Herre zu willdenstein und moßkirch. Etatis 1536“. Der Klang auf dem rechten Flügel ist in sich gekehrt und fromm, tief verhüllt ist die Gräfin ins Gebet versunken. Ein langes schwarzes Gewand verbirgt nonnenhaft ihre leibliche Gestalt. Haube, Gebende und Rissentuch lassen vom Antlitz nur Augen und Nase frei, sogar der Mund bleibt unter dem Tuch. Der Rosenkranz in der Hand ist zierlich. Unter den Heiligen auf der Mitteltafel ist ihr räumlich Erasmus am nächsten, der bekanntlich gegen Schmerzen bei der Geburt angerufen wurde. Apollonia Werner war eine geborene Henneberg. Auf dem schmucken quadratischen Wappen sind daher Hennen zu sehen.
Die vier Tafeln des geschlossenen Retabels sind von ganz anderer Temperatur. Wir blicken auf einen der letzten gemalten Passionszyklen der altdeutschen Malerei. Wir lernen einen Maler kennen, der gefühlvoll, erschütternd oder dramatisch zu erzählen weiß. Inhaltlich beginnt die Bildfolge mit dem Abschied Christi von seiner Mutter Maria, einer Szene, die uns in den Evangelien nicht begegnet, aber in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit die Gemüter bewegte. Hier ist sie mit einer Empfindsamkeit geschildert, die eine kräftige, aber doch gedämpfte Farbigkeit mit einer fast an Italienisches erinnernden Sanftheit verbindet. Vielleicht ist es das schönste Bild des unbekannten Meisters von Meßkirch. Nicht weniger anrührend, aber nun von herzergreifender, schmerzender Emphase ist das Gethsemane-Bild, das vermutlich durch Dürer inspiriert wurde. Beim Anblick von Kelch und Kreuz erhebt Christus seine Arme und stößt die Worte aus: „nicht mein sondern dein Wille geschehe“ (Luk. 22.42). Es folgen die beiden Tafeln mit der Gefangennahme Christi, in denen man unseren Meister wegen seiner nächtlichen Szenen und seines Umgangs mit dem Licht von Mond und Fackeln bewundert.
Noch eine bedeutende Tafel des Meisters von Meßkirch hat das Land Baden-Württemberg für seine Museen erwerben können: die Innenseite eines Flügels des Hochaltars von St. Martin in Meßkirch, die in den Besitz der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe übergeht. Während die Mitteltafel, wie bereits erwähnt, die Anbetung der Könige zeigt, erscheinen auf den Flügeln wie beim Wildensteiner Altar die Stifter. Dabei ist zu erinnern, dass Gottfried Werner von Zimmern später im Chor von St. Martin in Meßkirch bestattet wurde, also vor diesem Altar. Die große Bronzeplatte von Pankkraz Labenwolf zeigt ihn in genau der gleichen Rüstung wie die Bildnisse. Möglicherweise war diese Disposition schon vorgesehen, als um 1535/40 der Hochaltar entstand. Gottfried Werner erscheint auf dem Meßkirchner Flügel in derselben Haltung und Rüstung wie auf dem Wildensteiner Altar. Es ist, als ob der Maler die gleiche Schablone benutzt hätte. Geändert ist das seelfürsorgerische Programm. Der Stifter betet nicht den Rosenkranz zu Maria, sondern fleht zu Christus um sein Seelenheil. Daher ist er auch nicht allein, sondern wird vom heiligen Martin von Tours, dem Patron der Pfarre in Meßkirch, empfohlen. Martin ist als würdevoller opulenter Kirchenfürst dargestellt. Das Purpur seines Pluviales prangt, das Gold seiner Mitra und seiner Krümme glänzt. Auf der Mitra erscheint eine Maria im Strahlenkranz, in der Krümme sieht man den Kreuzestod des Erlösers. Beide Gestalten mögen sich auf den betenden Grafen beziehen. Aber dann ein schriller Zwischenklang. Aus der unteren Ecke stemmt sich ein verkrüppelter Bettler zu Martin empor und greift an den Saum seines Pluviales. Deutliche Erinnerung an die legendäre Mantelteilung des noch heidnischen Martin vor dem Stadttor von Amiens! Es sind letzte Worte, Klänge der altdeutschen Malerei. An einzelnen Stellen apologetisch aufgesteift durch die heranziehende Reformation, aber von ungebrochener Schönheit. Eine Erwerbung künstlerisch wie konfessionsgeschichtlich beglückend und erhellend.