Leonardo des Nordens in Aachen
Albrecht Dürer gönnte ihm in dem Tagebuch seiner Niederlande-Reise keinen Federstrich. Dabei gehörte der am Niederrhein gebürtige Joos van Cleve, der sich 1511 in Antwerpen niedergelassen hatte und dort das größte und produktivste Maleratelier betrieb, um 1520 längst zum Establishment der flämischen Handelsmetropole. Bis an den Hof des französischen Königs und Leonardo-Verehrers Franz I. sollte sein Ruf in den folgenden Jahren eilen; wohlhabende Kaufleute und Regenten standen ihm Modell. Doch auch der niederländische Kunsttheoretiker Karel van Mander wusste in seinem 1604 erschienenen „Schilder-Boeck“ nichts von van Cleves malerischen Qualitäten zu berichten. Andere Quellen wiederum verwechselten den Meister mit seinem Sohn Cornelis. Erst das 19. Jahrhundert entdeckte den Künstler wieder, doch blieb seine erste monographische Schau bis heute überfällig. Im Aachener Suermondt-Ludwig-Museum ist sie nun ab dem 17. März zu sehen.
Der vielversprechende, publikumswirksame Titel der Ausstellung „Leonardo des Nordens – Joos van Cleve“ geht nicht auf historische Quellen zurück, sondern ist vielmehr ein spätes Attribut aus dem 20. Jahrhundert. Dass van Cleve ihm jedoch gerecht wird, unterstreichen Museumsdirektor Peter van den Brink und Kuratorin Alice Taatgen mit rund 60 Altarstücken, Porträts und Andachtsbildern, die sie aus internationalen Museums- und Privatsammlungen für die Schau in Aachen zusammentragen haben.
Bereits in Antwerpen, dem bedeutendsten, von Künstlern und Kaufleuten aus ganz Europa aufgesuchten Handelsplatz des 16. Jahrhunderts, und wohl auch am französischen Hof Franz I., wo Leonardo da Vinci von 1516 bis 1519 seine letzten Lebensjahre verbrachte und wo die Forschung van Cleve zwischen 1529 und 1534 vermutet, wird der Rheinländer mit Arbeiten des Universalgenies in Berührung gekommen sein. Hiervon zeugt nicht nur van Cleves weich konturierter Stil, der dem Sfumato Leonardos nachempfunden ist, sondern auch die in der niederländischen Kunst bis dahin unbekannten harmonischen Proportionen, die weich gerundeten Figuren und anmutigen Bewegungen. Auch ganzer Bilderfindungen des Italieners bediente sich van Cleve: Das nach einer verlorenen Komposition Leonardos entstandene Gemälde „Kirschenmadonna“ aus dem Besitz der Peter und Irene Ludwig Stiftung, das das Cover des Ausstellungskataloges ziert, ist hierfür ebenso ein herausragendes Beispiel wie die „Küssenden Kinder“, die das Suermondt-Ludwig-Museum mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder erwerben konnte. Vielfach von van Cleve selbst und seinen Mitarbeitern kopiert und variiert, trugen diese Werke schnell zur Verbreitung und Popularität der Kunst des Mailänders in den Niederlanden bei.
Bei allem Leonardesken bleibt mit dem Kolorit, der delikaten Oberflächenbehandlung und dem unerschöpflichen Detailreichtum gleichwohl auch der Flame in Joos van Cleve spürbar. Nicht zuletzt ist es gerade diese harmonische Verbindung italienischer und flämischer Elemente, die die schönsten Leonardo-„Übersetzungen“ im Norden hervorgebracht hat.