Kreide als Skalpell

Er tut das Maul auf, 1949, Kreidelithographie, 39 x 25 cm, Kupferstichkabinett Berlin; © Stiftung Gerhard Altenbourg, Altenburg / VG Bild-Kunst, Bonn 2015 /Foto: bpk / Kupferstichkabinett, SMB / Volker-H.Schneider
Er tut das Maul auf, 1949, Kreidelithographie, 39 x 25 cm, Kupferstichkabinett Berlin; © Stiftung Gerhard Altenbourg, Altenburg / VG Bild-Kunst, Bonn 2015 /Foto: bpk / Kupferstichkabinett, SMB / Volker-H.Schneider

Erstarrte Augen, ein zähnefletschender Mund inmitten wilder Kreidestriche: Gesichter und Figuren mutieren bei Gerhard Altenbourg zu surrealistischen Landschaften. Die monströsen Wesen seiner Kreidelithographien aus der Nachkriegszeit – gezeichnete Metamorphosen zwischen Mensch und Natur – erscheinen auch als Reminiszenzen des Künstlers an den Zweiten Weltkrieg, an dessen Ende der 17-jährige Altenbourg sich gezwungen sah, einen feindlichen Soldaten zu erschießen. Im Werkstatteifer der Nachkriegsjahre sezierte der Künstler – noch Student an der Kunsthochschule in Weimar – mit dem Kreidestift als Skalpell die Abgründe seines Ichs. Im schwarz-weißen Liniengeflecht des graphischen Frühwerks verbindet Altenbourg einzelne Körper- und Naturstücke zu einem irritierenden ebenso wie poetischen Kosmos.

Der 1926 geborene Gerhard Altenbourg entwickelte sich in den kommenden Jahren zu einem Virtuosen auf dem Papier. Als künstlerischer Opponent des sozialistischen Realismus litt er jedoch Zeit seines Lebens unter den Repressionen des DDR-Regimes: 1950 wurde er von der Hochschule ausgeschlossen, 1964 wegen angeblicher Zollvergehen angeklagt, bis um 1980 wurden wiederholt seine Ausstellungen verboten. Im thüringischen Altenburg in die innere Emigration getrieben, taten die Restriktionen Altenbourgs Schaffen keinen Abbruch. War ihm der künstlerische Erfolg in der DDR lange Zeit verwehrt, so kam der Ruhm im Westen umso rascher: An der documenta II (1959) nahm er mit einem Künstlerbuch teil und Galeristen wie Rudolf Springer und Dieter Brusberg machten Altenbourg westdeutschen Sammlern bekannt: Das schwedisch-deutsche Sammlerehepaar Solgärd und Rolf Walter verfiel Altenbourgs Œuvre schon frühzeitig. Mit leidenschaftlicher Hingabe sammelten sie überwiegend frühe Arbeiten. Nun kommen davon über 100 Werke – u. a. Druckgraphiken, Aquarelle, Künstlerbücher und ein Lithostein – in das Kupferstichkabinett Berlin. Die Kulturstiftung der Länder und die Ernst von Siemens Kunststiftung unterstützten den Ankauf aus der Privatsammlung Walter.

Damit gelingt eine bemerkenswerte Erweiterung des exquisiten Berliner Altenbourg-Bestandes. 26 Jahre nach dem Tod des Künstlers im Jahr 1989 ist nun Altenbourgs früher Zeichenkosmos in der ersten Berliner Museumsausstellung nach der Wiedervereinigung ab dem 20. März 2015 erlebbar.