König Ohne Fassung
Lübeck war eines der bedeutendsten mittelalterlichen Kunstzentren des Nordens. Als führende Macht im Hansebund gehörte die Stadt zu den zentralen Umschlagplätzen eines riesigen Handelsnetzes, das von Island im Westen bis an die russische Grenze im Osten reichte. Hier wurde mit allen erdenklichen Waren gehandelt, nicht zuletzt mit Luxusgütern und sakraler Kunst, die zu großen Teilen aus Lübeck geliefert wurde.
Aber Erfolg lockt bekanntlich auch Neider auf den Plan. Ende des 15. Jahrhunderts beginnen sich die Machtverhältnisse im Ostseeraum zu verschieben und niederländische Händler drängen immer stärker in den von Lübeck dominierten Markt. Dies lässt sich deutlich an dem hohen Anteil niederländischer Altaraufsätze ablesen, die damals nach Skandinavien und ins Baltikum geliefert wurden und in starker Konkurrenz zu Lübecker Produkten standen. Der Erfolg dieser niederländischen Werke war so groß, dass sie in zunehmendem Maße auch von Lübecker Auftraggebern bestellt wurden – Statussymbole, mit denen man sich ein weltmännisches Image verschaffen konnte.
Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs hat sich davon nur noch wenig in Lübeck erhalten. Zu den raren Beispielen gehört ein kleines hölzernes Relief im Depot des St. Annen-Museums, das die Ankunft der Heiligen Drei Könige in Bethlehem darstellt. Die Szene zeigt ein großes Gefolge, das durch die bergige Landschaft zur Heiligen Familie geritten kommt. Der älteste König kniet bereits vor dem Kind, während die anderen noch mit ihren Pferden beschäftigt sind. Die Heilige Familie ist heute verloren. Sie war ursprünglich auf einem weiteren Relief an der rechten Seite dargestellt.
Auf einem relativ kleinen Format von knapp 50 × 70 Zentimetern bietet sich eine Fülle an erzählerischen Details – vom Zaumzeug der Pferde über die unterschiedlichsten Kleidungsstücke bis hin zur Gestaltung des Deckelpokals, den ein Diener für die Könige hält. Trotz der vielen Einzelheiten wirkt das Relief klar strukturiert, was durch die zu großen Teilen erhaltene Farbfassung erreicht wird. Körper, Kleidung, Tiere und Landschaft werden klar voneinander abgesetzt und in ihrer unterschiedlichen Materialität betont. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Kleidung, an der Pelzbesätze von Brokatstoffen und gemusterten Borten unterschieden werden.
Das Relief gehörte zu einem größeren Altaraufsatz der Lübecker Jakobikirche, von dem sich kein weiteres Teil erhalten hat. Das Reststück im St. Annen-Museum zeigt ein breites Querformat, dass man sich zusammen mit der verlorenen Darstellung der Heiligen Familie ursprünglich mindestens doppelt so breit vorstellen muss. Ein derartiges Format lässt sich eigentlich nur in der Predella eines Altaraufsatzes unterbringen, dem direkt auf dem Altartisch platzierten Unterbau des Schnitzaltars. Die Anbetung der Könige wurde üblicherweise in einem größeren Erzählzusammenhang dargestellt, so dass man sich für die verlorenen Teile weitere Szenen aus der Kindheitsgeschichte Christi hinzudenken kann. Thematisch würde dies vielleicht auf einen der Gottesmutter geweihten Altar hindeuten, ohne dass sich seine ursprüngliche Aufstellung aber genauer rekonstruieren ließe.
Anders steht es dagegen um die künstlerische Herkunft. Die kleinteilige Schnitzweise der die Werkblöcke übergreifenden Szene deuten ebenso wie die Fassung auf eine Entstehung in den nördlichen Niederlanden hin, in der Zeit um 1500. Aus dieser Region haben sich aufgrund der Bilderstürme nur wenige mittelalterliche Kunstwerke erhalten, wodurch das Relief auch über Lübeck hinaus zu einer Besonderheit wird. Seine erzählerische Raffinesse hatte man schon vor 500 Jahren erkannt: Sie wurde zum Vorbild für einen Lübecker Bildschnitzer, der 1512 einen Altar an die Marienkirche in Prenzlau lieferte. Bis dahin hatte man die Heiligenlegenden in einzelnen Szenen dargestellt, die jede für sich in einem abgeschlossenen Fach montiert waren. Hier dagegen wurde eine über drei Fächer hinweg reichende Darstellung gewählt, die in gleichberechtigter Weise den Zug der Heiligen Drei Könige mit der Anbetung des Kindes verbindet – ganz so, wie man sich die verlorene Komposition des niederländischen Schnitzaltars vorzustellen hat.
Mit Blick auf die vielen Bezüge, die sich daran aufzeigen lassen, ist es mehr als bedauerlich, dass das St. Annen-Museum das Relief im Depot verwahren muss. Der schöne Anblick täuscht darüber hinweg, dass die hervorragend erhaltene Farbfassung stark gefährdet ist. Sie hat an vielen Stellen den Kontakt mit dem Untergrund verloren und liegt frei auf dem Material, so dass sie bei kleinster Bewegung abfallen kann. Mit Ihrer Unterstützung möchten wir die Fassung festigen lassen, um das Relief wieder ausstellungsfähig zu machen. Helfen Sie mit, dieses Juwel spätmittelalterlicher Bildschnitzerkunst zu retten!