Kinder zum Olymp!
Michele Niosi ist Küstenwächter auf der Mittelmeerinsel Lampedusa und hat zwei unvereinbare Aufträge. Er soll Menschen in Seenot retten und Europa vor illegalen Einwanderern schützen. In dieser Lage wird er zum Helden – und zum unfreiwilligen Helfer finsterer Gestalten, die aus dem Schicksal der Vertriebenen für sich Kapital schlagen wollen. Auf der anderen Seite sind die Menschen im Boot: Zwölf Tage und Nächte lang irren eine junge und eine alte Frau gemeinsam mit weiteren 83 Flüchtlingen über das Mittelmeer in eine ungewisse Zukunft – Stoff für dramatisches Theater und für die politische Auseinandersetzung mit einem brandaktuellen Thema.
80 Schülerinnen und Schüler aus drei Münsteraner Schulen haben dieses Thema unter dem Titel „Third Class Titanic“ zu ihrem gemacht. Entstanden ist ein spektakuläres Stück Musiktheater: In selbstgeschaffenen Dialogen, mit Livemusik, Chor und Tanz schildern sie das Dilemma der Küstenwache Süditaliens, die ankommenden Flüchtlingsströme abwehren zu müssen und gleichzeitig die Pflicht, die in Seenot geratenen Menschen zu retten. Über sieben Monate entwickelten die Schüler in verschiedenen Theater- und Musikgruppen dramatische Szenen, die dann in gemeinsamen Proben zu einer Musiktheater-Collage zusammengesetzt und bei einem öffentlichen Theaterabend präsentiert wurden. Gemeinsam mit der Lehrerin Elisabeth Levkau vom Gymnasium Paulinum Münster hielt die Regisseurin Barbara Kemmler vom Cactus Junges Theater Münster während der gesamten Projektdauer als professionelle und erfahrene Kulturpartnerin die Fäden in der Hand.
Von der Brisanz des Themas einmal abgesehen, prallten bei diesem spannenden Projekt Welten aufeinander. Gymnasiasten der Traditionsschule Paulinum, Deutschlands ältestem Gymnasium mit dem Gründungsjahr 797, trafen auf Hauptschüler mit verschiedenstem Migrationshintergrund. „Hier bot sich die Chance, Menschen kennenzulernen, mit denen man sonst kaum Berührungspunkte hatte. So konnten die Jugendlichen mit sehr unterschiedlichen sozialen Hintergründen gemeinsame Erfahrungen machen und dabei die verschieden gelagerten Kompetenzen entdecken. Nach anfänglichen Berührungsängsten waren die Gruppen schnell zusammengewachsen und es haben sich Freundschaften zwischen Hauptschülern und Gymnasiasten entwickelt. Die Intensität der Probenarbeit hat zu einem sehr respektvollen und herzlichen Miteinander aller geführt, die daran teilgenommen haben“, berichtet Elisabeth Levkau. Die Jury des Kinder zum Olymp!-Wettbewerbs war angesichts der Kraft und Qualität dieser eindrucksvollen Produktion begeistert und zeichnete das Projekt mit dem Hauptpreis des Kinder zum Olymp!-Wettbewerbs 2011/ 2012 in Höhe von 5.000 Euro aus.
Der Wettbewerb, der seit seinem Beginn in Kooperation mit der Deutsche Bank Stiftung stattfindet, war dieses Jahr zum achten Mal ausgelobt und ist inzwischen bereits in die neunte Runde gestartet. Es zeigte sich erneut, welche künstlerische Ausdrucksvielfalt quer durch die kulturellen Sparten möglich ist, wenn sich Schulen mit professionellen Partnern aus der Kultur zusammentun.
In Freiburg zum Beispiel begann alles mit Rainer Maria Rilke. Als die Sozialpädagogin und Lehrerin Barbara Davids den Dichter den elf muslimischen Jugendlichen ihrer Gruppe vorstellte, waren die irritiert: Was sollten sie mit den Gedichten anfangen? Dann aber brachte sie „Der Panther“ zum Weinen, Nachdenken – und dazu, selbst Gedichte zu schreiben. Über ein Jahr hat das Projekt gedauert: „Es war harte Arbeit“, so die Protagonisten. Auf einer poetischen Expedition erkundeten sie ihre persönlichen Lebensgeschichten, ihre Wünsche und Träume. Sie schrieben Gedichte auf Deutsch und in der Sprache der Herkunftsländer ihrer Eltern und schufen Vertonungen und begleitende Illustrationen, unterstützt durch den Hörspielmacher Matthias Baumann und die Künstlerin Hilde Bauer. Nach Berlin reiste die ganze Freiburger Gruppe im September 2012, um im Konzerthaus unter dem Jubel der fast 400 Mitgewinner ihren Preis in der Sparte Literatur in Höhe von 1.000 Euro aus den Händen von Ties Rabe, Hamburger Schulsenator und derzeitiger Präsident der Kultusministerkonferenz, in Empfang zu nehmen.
Bereits zum dritten Mal wurden bei Kinder zum Olymp! nicht nur einzelne Kooperationen zwischen Kultur und Schule ausgezeichnet. Zwei Schulen mit überzeugendem kulturellen Profil standen ebenfalls auf der Preisträgerliste: Die Waldschule Flensburg und das Ratsgymnasium Minden ermöglichen allen ihren Schülern regelmäßig und verbindlich die Mitwirkung an kulturellen Angeboten – und das nicht nur im freiwilligen Nachmittagsbereich. Sie zeigen, wie es gelingen kann, jenseits einzelner Projekte Strukturen zu schaffen, die Schülerinnen und Schülern aller Altersstufen in verschiedenen Sparten einen aktiven Zugang zu den Künsten ermöglichen. Und sie entsprechen damit – allerdings noch als rühmliche Ausnahme – der zentralen Kinder zum Olymp!-Forderung nach einer strukturellen Verankerung kultureller Bildung in der Schule.