Kandinskys „Abstieg“

Als Alois Schardt das Amt des Direktors am Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) 1926 übernahm, hatte ihm sein Vorgänger Max Sauerlandt eine beachtliche Sammlung rund um die deutschen Expressionisten – insbesondere die „Brücke“-Künstler – hinterlassen. In der Tradition dieser fortschrittlichen Sammlungspolitik entwickelte der neue Direktor das Museumsprofil weiter, ergänzte es um exquisite Werkgruppen des „Blauen Reiters“ und des Bauhauses. Wer damals herausragende zeitgenössische Kunst suchte, fand sie nicht nur in Essen und Berlin, sondern auch an der Saale. Neben Künstlern wie Franz Marc, Lyonel Feininger und Paul Klee wollte Schardt auch Wassily Kandinsky (1866–1944) in seiner Sammlung vertreten wissen: Die Kunst des russischen Konstruktivisten war damals bereits begehrt und hoch gehandelt, dennoch gelang es dem findigen Museumsdirektor zwischen 1927 und 1929 insgesamt acht Papierarbeiten Kandinskys für Halle zu erwerben. Unter ihnen auch das Aquarell „Abstieg“, das Schardt 1929 in der Galerie Neue Kunst Fides in Dresden kaufte.

Nach einem Kunststudium in München firmierte der in Moskau geborene Kandinsky als Protagonist diverser Künstlergruppierungen, darunter die mit Gabriele Münter begründete Gruppe „Phalanx“ und der „Blaue Reiter“ mit Franz Marc. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs emigrierte Kandinsky zurück in seine russische Heimat, wo er Inspiration bei den dortigen Konstruktivisten fand. Waren seine Werke zuvor von expressiver Abstraktion geprägt, bediente sich der Künstler spätestens ab den 1920er-Jahren reduzierter Farben und klarer geometrischer Formen. Die Komposition „Abstieg“ malte Kandinsky 1925 schließlich unter dem Eindruck der Bauhaus-Formlehren, die er selbst zu diesem Zeitpunkt bereits seit drei Jahren als Meister der Werkstatt für Wandmalerei im Weimarer Bauhaus unterrichtete. Das Aquarell zeugt vom engen künstlerischen Austausch mit seinem Kollegen Paul Klee: Ein asymmetrischer Pfeil durchbricht die 48 x 32 cm große, in sieben horizontale Farbebenen unterteilte Arbeit. Von oben bis kurz unter die Bildmitte ragt das spitz zulaufende Dreieck, das die einzelnen Abschnitte nicht nur formal durchkreuzt, sondern zugleich – wie Licht, das durch ein Prisma fällt – die Farben des Hintergrunds bricht und sie changieren lässt. Insbesondere die waagerechten Farbabstufungen und der Pfeil sind ein deutlicher Bezug auf Arbeiten Paul Klees, mit dem Kandinsky zu jener Zeit den Bauhaus-Vorkurs lehrte. Mit der aus dem Zentrum versetzten schwarzen Pfeilspitze, gehalten von zwei farblich hervorstechenden Senkrechten, verlieh Kandinsky der Komposition das vertraute dynamische Moment seiner Werke.

Als Teil von Alois Schardts wertvoller, sorgfältig erweiterter Kollektion wurde das Werk bereits 1933 in die oberen Etagen des Museums verbannt: In der „Schreckenskammer“ diffamierten die Nationalsozialisten die zeitgenössische Avantgarde als „Verfallskunst“. Ihr jähes Ende fand die hallesche Sammlung schließlich im Sommer 1937, als die Nationalsozialisten bei der Aktion „entartete Kunst“ schonungslos fast den gesamten Bestand beschlagnahmten und etliche Arbeiten kurz darauf in der Femeausstellung in München zeigten. Bis auf sein frühes Aquarell „Konzentriertes“ von 1916, das in einem Wandschrank in der Moritzburg überdauerte, fiel auch die Kandinsky-Werkgruppe samt „Abstieg“ den Nationalsozialisten in die Hände. 1940 von Hildebrand Gurlitt angekauft, wechselte die Komposition von 1925 über die Jahre immer wieder den Besitzer, gelangte aus deutschem Privatbesitz in die USA und schließlich, in den 1980er-Jahren, in eine japanische Privatsammlung. 2016 wurden die Verkaufsabsichten des Besitzers bekannt und so gelang nach acht Jahrzehnten der Stiftung Dome und Schlösser in Sachsen-Anhalt mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, der Ernst von Siemens Kunststiftung, der Saalesparkasse und des Landes Sachsen-Anhalt der Rückerwerb von Kandinskys „Abstieg“ für das Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale). Die Rückkehr des beschlagnahmten Werks gleicht einen der zahlreichen Sammlungsverluste von 1937 aus und verdeutlicht zugleich die stilistische Entwicklung Kandinskys am Bauhaus – insbesondere im Zusammenklang mit dem frühen Aquarell „Konzentriertes“.