Die traditionsreiche keramische Produktion des sogenannten Kannenbäckerlandes, das sich vom Westerwald bis zum Mittelrheintal hinzieht und offiziell als Region um die Stadt Höhr-Grenzhausen bezeichnet wird, war geprägt durch das salzglasierte graue Steinzeug, das mit blauen Ritzzeichnungen versehen wird.
Für den alltäglichen Gebrauch entstanden seit dem 15. Jahrhundert aufgrund der Festigkeit und Undurchlässigkeit des gesinterten Scherbens die charakteristischen Kannen, Vorratstöpfe und Trinkgefäße zunächst für einen vorwiegend ländlichen Benutzerkreis. Der Historismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts bevorzugte diese Objekte im Sinne eines altdeutschen Stils, Trinkgefäße wie Bierhumpen, die mit Zinndeckeln versehen wurden, oder voluminöse Bowlengefäße erfreuten sich großer Beliebtheit.
Die Stilkunst um 1900 wandte sich mit besonderer Hingabe der Keramik zu. Sie galt als „Königsklasse“ und war sogar auf den großen Leistungsschauen der internationalen Weltausstellungen mit neuartigen, innovativen Formen, Dekoren und Glasuren prominent vertreten. Zahlreiche Künstler faszinierten die Möglichkeiten dieser Materie und die Hinwendung zur angewandten Kunst – keramische Kunstwerke erschienen gleichbedeutend mit Artefakten der freien Kunst.
Aufgrund der deutschen Kunstgewerbereform wurde auch die Region Höhr-Grenzhausen von dieser Bewegung erfasst und partizipierte an dem künstlerischen Aufschwung durch einen Generationswechsel der beiden größten und bekanntesten Steinzeughersteller Merkelbach und Hanke. Bereits vor 1900 hatte Reinhold Merkelbach den väterlichen Betrieb in Grenzhausen übernommen. Es erfolgte die Zusammenarbeit mit Reformkünstlern wie Richard Riemerschmid, Paul Wynand und Albin Müller. Um 1902 kam der belgische Jugendstilkünstler Henry van de Velde (1863 – 1957) dazu. Seit 1901 hatte auch August Hanke mit 26 Jahren die Leitung der Steinzeugfabrik seines Vaters, Reinhold Hanke, in Höhr inne. Als ausgebildeter Chemiker und begeisterter Anhänger der Reformbewegung des Jugendstils gewann Hanke Künstler wie Peter Behrens, Albin Müller (auch genannt Albinmüller) und Paul Wynand als Entwerfer, ebenso wie Henry van de Velde.
Die neuen keramischen Arbeiten wurden auf der Düsseldorfer Industrieausstellung 1902 gezeigt, an der van de Velde auch konzeptionell maßgeblich an einer Sektion beteiligt war. Ein Kollektivstand der „Thonindustriellen des Unterwesterwaldkreises“ der Region Höhr-Grenzhausen auf der Industrieausstellung zeigte die neuen Künstlerentwürfe, Hankes Produktion erhielt eine Silbermedaille.
Der aus Antwerpen gebürtige Universalkünstler Henry van de Velde hatte schon vor seinem Amtsantritt in Weimar von der preußischen Kunstverwaltung den Auftrag erhalten, sich der Modernisierung der Kunstindustrie in den preußischen Rheinprovinzen anzunehmen. Besonders das Westerwälder Steinzeug, das zwar populär war, aber durch sein historisierendes altdeutsches Repertoire als veraltet galt, sollte einen innovativen Produktionsschub durch neuartige moderne Entwürfe erhalten. Bei Merkelbach und bei Hanke entstanden von van de Velde herausragende Arbeiten wie die berühmten großen Bodenvasen, die unter anderem im Nietzsche-Archiv in Weimar oder auch in verschiedenen Museen zu finden sind, aber auch Gebrauchsgegenstände wie Bierseidel, Kannen und Vasen, die seine originäre Formensprache mit dem rustikalen Erscheinungsbild einer autochthonen bäuerlichen Tradition verband. Für van de Velde entsprach damit die Steinzeugkeramik des Westerwalds seiner eigenen künstlerischen Überzeugung, da er die internationalen artifiziellen, verfeinerten Objekte des Art Nouveau ablehnte, wie er in seinem 1902 erschienenen Essay „Kunstgewerbliche Laienpredigten“ ausführte.
Die Maxime „Gewerbeförderung durch Kunst“, die um 1900 ein neues Produktionszeitalter in Deutschland beginnen lassen sollte, fand gerade in dieser Region und Produktionsgruppe ihre frühzeitige charakteristische Ausprägung. Die volkstümlichen keramischen Erzeugnisse aus Steinzeug waren als ein Gebrauchsgut für ein breites Publikum bestimmt und boten durch die lokale Tradition der handwerklichen Kenntnisse ein solides Fundament, um auch künstlerische Experimente umzusetzen. Das keramische Ausgangsmaterial Steinzeug erhielt nach dem Brand eine Salzglasur, die zu der typischen grauen Färbung führte und sich fast ausschließlich für den blauen Ritzdekor eignete. Obwohl die Steinzeugproduktion sich durch hohe Auflagen auszeichnete, ist jedem Stück durch die individuelle, nicht bis zuletzt steuerbare Brandführung, der Platzierung im Brennofen und der Erfahrung des Töpfers eigentlich ein Unikatcharakter eigen. Aufgrund des hohen Tonvorkommens ist in der Westerwaldregion eine große Bandbreite an kleinen Steinzeugfabriken zu finden.
Im Gegensatz dazu zeichnet sich das Steingut (diese Begriffe werden häufig verwechselt bzw. falsch gebraucht) durch eine eher fabrikmäßige, serielle Produktionsweise aus.
Die Westerwälder Keramik konnte in der Reformkunst des deutschen Jugendstils zudem in stilistischer Hinsicht eine besondere Rolle spielen. Die beiden wegweisenden Fabrikationsbetriebe in Höhr und Grenzhausen bildeten unterschiedliche Prioritäten in der Formen- und Dekorsprache aus.
Bei Reinhold Merkelbach in Grenzhausen stand die künstlerische Adaption der historischen Vorbilder im Vordergrund. Seine Ausrichtung orientierte sich an dem oftmals angestrebten Rückgriff auf nationale Identität im neuen Stil. Die einfachen traditionellen grafischen Elemente eigneten sich als Vorbild für die flächige, abstrahierende Linienkunst der Jahrhundertwende, die Materialgerechtigkeit und die Robustheit der Keramikmasse verstärkte den Charakter des Authentischen, und die reduzierte Farbigkeit in der Kombination des grauen Scherbens mit dem blauen Ritzdekor zeigte eine plastische visuelle Eindringlichkeit. Als „Kunst für alle“ verstand sich besonders die moderne deutsche Stilkunst, die eine starke Rückbesinnung auf die eigene „Volkskultur“ einforderte.
Der Betrieb von Hanke, unter der Leitung des jungen Nachfolgers, verschrieb sich mehr der internationalen Stilrichtung der neuen Keramik. Hanke, der unter anderem an der Chemisch-Technischen Versuchsanstalt der Königlichen Porzellanmanufaktur in Berlin ausgebildet worden war, wandte sich vorwiegend den innovativen Erkenntnissen von Kunstglasuren zu, die gegen Ende des Jahrhunderts bei allen Keramiktechnikern im Vordergrund des Interesses standen, wie die geflammten farbigen Reduktionsglasuren, besonders die Sang-de-Boeuf oder Ochsenblutglasur aus China und Japan: Vorbild sowie technische und ästhetische Herausforderung gleichermaßen.
Erst seit den 1880er-Jahren war es in Europa möglich, diese begehrten, nur aus Ostasien bekannten Kunstglasuren herzustellen, fast zeitgleich brachten die Porzellan-Manufakturen Sèvres, Frankreich, und KPM in Berlin durch eigene intensive Forschungsarbeit diese speziellen Glasuren zur Produktionsreife.
Der Ehrgeiz des engagierten Kunstgewerblers und Kunstfabrikanten August Hanke zeigte sich in seiner zeitgenössischen Firmenproduktion. Als Repräsentant seiner Firma auf der Weltausstellung 1900 in Paris hatte er die neuen Reduktionsglasuren kennengelernt, die von den Deutschen und Franzosen gezeigt wurden. Bereits zu Beginn seiner Direktionszeit erreichte er dann ebenfalls die schwierige Herstellung dieser Kunstglasuren für die Steinzeugproduktion. Hankes Arbeiten waren nach 1900 konkurrenzlos in der Westerwald-Region und Vorbild für weitere Betriebe. Auch als – allerdings anonymer – Entwerfer seines Unternehmens war August Hanke tätig.
Das Westerwälder Steinzeug des Jugendstils zeigt jene charakteristische Ausbildung einer modernen Kunstindustrie, die um 1900 im Sinne einer Qualitätssteigerung der Produktion nationale Bedeutung hatte. Die Reform-Künstler der Zeit wie Peter Behrens, Albin Müller, F. H. Ehmke, Adelbert Niemeyer, Paul Wynand und Richard Riemerschmid waren mit ihren Entwürfen bei führenden Unternehmen beteiligt wie Behrens bei der AEG oder Riemerschmid bei den Dresdner Werkstätten, aber auch mit großem Erfolg bei den Kunstfabrikanten des Westerwalds.
Besonders Henry van de Veldes Formprinzipien erwiesen sich als sehr erfolgreich, seine Schülerin Erica von Scheel führte bei Merkelbach und Hanke Vasen, Schalen und Kannen aus, die auf den internationalen Ausstellungen in St. Louis 1904 und Dresden 1906 gezeigt wurden. Die „Schule van de Velde“ wurde ebenso von Mathilde Satz-Glücksburg und Thilo Schoder vertreten sowie von zahlreichen anonymen Entwerfern. Plastische, skulpturale Arbeiten kamen durch Hans Wewerka ins Repertoire.
Mit dem mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder erfolgten Ankauf der Sammlung von Jugendstil-Keramik des Westerwälder Steinzeugs der passionierten Kunsthistorikerin und Sammlerin Beate Dry-von Zezschwitz gelangt nun ein bedeutendes Konvolut in das renommierte, 1976 gegründete Keramikmuseum Westerwald, das die Epochensektion „Jugendstil“ außerordentlich bereichert.
Die umfangreiche Sammlung Dry-von Zezschwitz, über lange Jahre gewachsen, zeichnet sich durch die typische Entdeckerfreude eines an sich bis dahin unbekannten und damals nicht als kunstwürdig erachteten Gebiets aus. Darüber hinaus gelang der Sammlerin die grundlegende Erforschung ihres Bestandes.
Mit wissenschaftlicher Neugier und Energie wurden nicht nur die prominenten Namen von modernen Entwerfern herausgefunden, sondern auch die anonymen Objekte in den allgemeinen Kontext eingeordnet. Ein Standardwerk entstand, das mit der Sammlung korrespondiert und auch im Zusammenhang mit dem Ankauf der weiterführenden Forschungsarbeit des Museums dient.
Das Spezialmuseum für Westerwälder Keramik in Höhr-Grenzhausen kann gerade mit dieser Erwerbung jene spezifische Ausprägung der deutschen Kunstindustrie um 1900 umfassend ausbauen und repräsentativ einer breiten Öffentlichkeit vorstellen – ein immer wieder faszinierendes und vielseitiges Kapitel der deutschen Kunst-, Wissenschafts- und Wirtschaftsgeschichte.