Im Netzwerk
Wäre es nicht sinnvoll, Nachlässe bedeutender Schriftsteller in jeweils eigenen Archiven aufzubewahren und zu betreuen? Nicht unbedingt. Gerade die Konzentration vieler Nachlässe an einem Ort wie dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach hat für die Forschung große Vorteile. Denn Literatur ist eine vernetzte Angelegenheit, und sie war es auch schon im Papier-Zeitalter. Schriftsteller sind kommunikative Menschen, ihre Spuren finden sich immer auch in anderen Nachlässen, in Verlags- und Redaktionsarchiven. Korrespondenzen, Netzwerke und Konstellationen sind besonders gut sichtbar und erforschbar, wenn sie an einem Ort aufbewahrt, in einer Datenbank verzeichnet werden.
Manchmal kann dieser Netzwerk-Vorteil auch als Argument in Erwerbungsverhandlungen dienen. Als Siegfried Lenz im April 2014 das Marbacher Literaturarchiv besuchte, war er überrascht, wie viele seiner Bücher, Dokumente, Briefe und Manuskripte, von deren Existenz er oft selbst kaum noch etwas wusste, bereits vorhanden waren, etwa in den Vor- und Nachlässen von Paul Alverdes, Paul Celan, Hilde Domin, Martin Gregor-Dellin, Willy Haas, Rudolf Hartung, Bernt von Heiseler, Jan Herchenröder, Günter Kunert, Wilhelm Lehmann, Fritz J. Raddatz, Marcel Reich-Ranicki, Hans Wolffheim oder Carl Zuckmayer; nicht zu vergessen die Archive der Zeitschrift „Merkur“, des Piper-Verlags oder der literarischen Agentur „Ruhr-Story“. Einige wenige Beispiele seien hier näher vorgestellt.
Da ist zunächst der Nachlass des Hamburger Literaturwissenschaftlers Hans Wolffheim (1904 –1973), der aus einer jüdischen Familie stammte und 1933 aus dem Schuldienst vertrieben wurde. Als er 1945 aus dem amerikanischen Exil zurückkehrte und eine Laufbahn an der Hamburger Universität begann, gehörte Siegfried Lenz zu seinen ersten begeisterten Studenten.
Die Freundschaft zwischen Siegfried Lenz und Marcel Reich-Ranicki reicht bis 1957 zurück. Damals war der Literaturkritiker gerade im Begriff, in die Bundesrepublik zu übersiedeln. Als Reich-Ranicki 1983 sein 25-jähriges Dienstjubiläum im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ feiert, bedauert Lenz, dass er nicht persönlich kommen kann, und ruft in Erinnerung, was beide verbindet: „Das einzige, was uns bleibt, lieber Marcel, ist ein Aufbruch in die Erinnerung: wir denken an den Sommertag, an dem Du zum ersten Mal bei uns warst, besorgt und beredt und zur Rückkehr in ein Land entschlossen, in dem Dich kaum jemand erwartete, obzwar es Dir unendlich viel schuldete. Wir denken an die vielen Begegnungen bei Euch und bei uns, an Tosias [Reich-Ranickis Frau Teofila] unvergleichliche Gastfreundschaft, an hitzige Gespräche, an gemeinsame Badefreuden, denken auch an Missverständnisse und an die wunderbare verkürzte Verständigungs-Terminologie, zu der wir fanden. Ich denke mit großer Dankbarkeit an die Ratschläge, die Du mir gabst – weißt noch: Zeit der Schuldlosen? [gemeint ist das Hörspiel oder das Drama von Lenz aus den Jahren 1960/61] –, und das immer belebende Literaturgespräch, das ich mit Dir durch die Jahre führte.“
In den fünfziger und sechziger Jahren, als Zeitschriften und Zeitungen noch regelmäßig Kurzgeschichten veröffentlichten, nahm eine Gelsenkirchner Agentur namens Ruhr-Story den Autoren das mühsame Verwertungsgeschäft ab. Die Agentur wurde von Gunhild und Ernst-Adolf Kunz betrieben, der unter dem Pseudonym Philipp Wiebe auch eigene Texte veröffentlichte. Siegfried Lenz belieferte das Ehepaar, das auch mit Heinrich Böll befreundet war, regelmäßig mit neuer Kurzprosa. Die Agentur verzeichnete erfolgreich vermittelte Publikationen in einem Buch mit dem Titel „Autoren-Konto“.
Ihm ist beispielsweise zu entnehmen, dass Lenz 1966 für 75 Abdrucke eine Summe von insgesamt 3.969,98 DM erhielt. Besonders begehrt waren in diesem Jahr seine Erzählungen „Hintergründe einer Hochzeit“, „Das unterbrochene Schweigen“ und „Die Augenbinde“. Das Themenspektrum der umfangreichen Korrespondenz zwischen Siegfried Lenz und dem Ehepaar Kunz reicht von alltäglichen Beobachtungen, Landschafts- und Reisebeschreibungen bis zu politischen Erörterungen. Immer wieder berichtet Lenz auch von literarischen Arbeiten. Am 4. Juni 1967 schreibt er aus Lebøllykke auf der dänischen Insel Alsen: „Lieber Philipp, herzlichen Dank für Ihren Brief; ich kann mir denken, wie sehr Ihr die Ungarn-Reise genossen habt, jedenfalls hat Ihr Brief eine unmittelbar infektiöse Wirkung […]. Wenn ich nur erst mit dem neuen Schinken, der ‚Deutschstunde‘ weiter wäre (die Sache wächst sich tatsächlich auf 600 Seiten aus); aber eines Tages werde ich gewiß hinfahren. – Ja, wir sitzen wieder auf der Insel, viel Wind, trüber Horizont, wenig Fische in diesem Jahr, doch es läßt sich so gut arbeiten wie eh und je. Für Gunni habe ich einige lustige Bollerupgeschichten, ich meine: Bollerup-Ideen; ich hoffe, daß ich sie im Herbst schreiben kann, denn bis zum ersten Oktober will ich ausschließlich am Buch sitzen (wie haushälterisch, werdet Ihr denken). Ich bin sehr gespannt, was Ihr zu dieser Sache sagen werdet eines Tages.“
Siegfried Lenz ließ sich überzeugen, dass Marbach der richtige Ort für seine Papiere ist. Ermöglicht wurde die Erwerbung dankenswerterweise durch die Kulturstiftung der Länder und die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Nur wenige Tage vor seinem Tod am 7. Oktober 2014 wurde der Vertrag unterzeichnet. Schon bei der ersten Sichtung erwies sich der Nachlass als eine wahre Fundgrube für künftige Forschungen und Editionen. Insgesamt handelt es sich um 36 Umzugskartons, zwei Wäschekörbe und eine Aktentasche voller Papiere: Handschriften seiner Romane und Erzählungen, Gedichte und Dramen, Rundfunkmanuskripte und Rezensionen, Studienaufzeichnungen und Materialsammlungen, Korrespondenzen und Fotos, Zeitungsausschnitte und gewidmete Bücher.
Die meist unveröffentlichten Briefwechsel bezeugen unter anderem seine vielfältigen Verbindungen zu Autoren der Gruppe 47 wie Heinrich Böll, Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger, Fritz J. Raddatz oder Hans Werner Richter. Korrespondenzen mit Verlagen, vor allem mit seinem Hausverlag Hoffmann und Campe, enthalten wichtige Aufschlüsse zur Genese, Vermarktung und weltweiten Rezeption seiner Werke. Sorgfältig dokumentierte Lenz auch sein politisches Engagement. Von seiner Reise nach Warschau beispielsweise, die er 1970 zusammen mit dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt unternahm, sind sogar Einladungskarten und Tischreden erhalten. Als enger Freund von Helmut Schmidt gehörte er zu dessen exklusiver Hamburger Freitagsgesellschaft, deren Aktivitäten sich anhand von Korrespondenzen, Reden und Protokollen rekonstruieren lassen.
Nachdem der Nachlass restauratorisch behandelt wurde, haben sofort die Ordnungsarbeiten begonnen. Denn das Interesse der Forschung und der Öffentlichkeit ist groß. Die Marbacher Ausstellung zum Thema „Reisen“ zeigte aus dem Nachlass einen bisher unbekannten Text, der 1953 nach einer Sardinien-Reise entstand und neben Fotografien zahlreiche Zeichnungen von Liselotte Lenz enthält.
Eine Gruppe junger Wissenschaftlerinnen aus Göttingen hat bereits begonnen, die Papiere im Hinblick auf eine künftige Gesamtausgabe durchzusehen. Dabei stießen sie auf überraschende Neuigkeiten, etwa auf einen bisher unveröffentlichten frühen Roman mit dem Arbeitstitel „… da gibt’s ein Wiedersehen“. Er beginnt verheißungsvoll: „Niemand öffnete die Tür. Proska klopfte ein zweites Mal, heftiger, entschlossener, mit angehaltenem Atem. Er wartete, beugte den Kopf und blickte auf den Brief in seiner Hand. In der Tür steckte ein Schlüssel; es mußte jemand im Hause sein.“