Bei kaum einem großen Künstler ist es so deutlich wie bei Caspar David Friedrich: Wenn man seine Bilder nicht aufregend findet, gibt es zu ihm keine Hintertür über die Biografie, das Menschliche. Bei van Gogh, Raffael, Picasso, Frida Kahlo oder Michelangelo kann man auch das Leben spannend (oder zumindest abscheulich) finden, bei Friedrich gibt es dafür kaum Stoff. Er war ein Spätzünder, der seine Leidenschaften in die Kunst bannte. Ein familiennaher, durch den frühen Tod der Mutter und eines Bruders tief verletzter, vergrübelter Greifswalder, ein eher unauffälliger Student in Kopenhagen (ein Beispiel frühen Schaffens: das Album Amicorum auf Seite 14/15 in diesem Heft), der dann nach Dresden zog und dort, erst mit Anfang dreißig, Gemäldeerfolge hatte, mit dreiundvierzig seine Caroline fand und selbst eine Familie gründete, danach keine richtige Professur an der Kunstakademie und also auch kein gutes Gehalt bekam, allermeist von Geldsorgen geplagt nach einem Schlaganfall 1835 nicht mehr malte, nur noch zeichnete, und dann 1840 starb, bis ins 20. Jahrhundert einzig Kennern ein Begriff. Seine Reisen nach Rügen, ins Elbsandstein- und Riesengebirge sind nur legendär, weil die daraus resultierenden genialen Zeichnungen, Sepien und Skizzenbücher auch Motivmaterial für die Gemälde entbergen; sein Franzosenhass wird nur in dem Bild Chasseur brillant, wo er einen französischen Soldaten sich im deutschen Wald verirren lässt, zur Waffe hat Friedrich selbst nie gegriffen, obschon mitten in den Napoleonischen Kriegen lebend; sein tiefer christlicher Glaube, allerdings ein ebenso tief gebrochener, hat keine Pilgerreise gezeitigt, oder doch, eine ewig geheimnisvolle in die Kunst – wobei auch ein geometrischer Bildaufbau, etwa mithilfe des Goldenen Schnitts, eine wichtige Rolle spielt. Was Friedrich schriftlich hinterließ, eine Äußerung genannte Gemäldekritik und Briefe, vor allem an die Familie, wird zumeist nur aufschlussreich, wenn es im engeren Sinne um Kunst geht. Und die berühmtesten Spitzen seines Lebens sind fast immer punktuell oder wunderlich: Der preußische Kronprinz entflammt schon als Fünfzehnjähriger für seine Kunst und lässt Der Mönch am Meer und Die Abtei im Eichwald kaufen, Friedrichs Durchbruchsbilder, schwingt sich aber nicht zum alles überstrahlenden Mäzen auf, wurde ja auch erst 1840 im Todesjahr Friedrichs König; der weltberühmte Goethe mag Friedrich erst wenig und dann gar nicht mehr; der schwermütige Feuerkopf Heinrich von Kleist verliebt sich in Mönch am Meer, bringt sich jedoch kurz darauf um.
Doch steht Friedrich, was die Malweise, die Symbolik und die totale Konzentration auf seine eigene Vorstellung angeht, am Beginn der Moderne. Seine Bilder sind unerhört, krass, neu, gewagt, sogar anrüchig. Die Verschmelzung von Landschafts- und Altarbild im Tetschener Altar hat ihm scharfe Kritik eingebracht, sein einsamer Mönch am Meer darf als Beginn des Minimalismus und des Breitbildformats gelten – eine einzige winzige Figur nebst vierundzwanzig Möwen auf fast zwei Metern Länge! Sein Wanderer über dem Nebelmeer wird zum Sinnbild der Romantik, des Erhabenen – und neuerdings auch zum Anhaltspunkt für eine tiefschürfende Diskussion des neuen Sehens, das mit Friedrich entsteht, so in „Der Maler und der Wanderer. Caspar David Friedrichs Urkino“ des Friedrich-Kenners László F. Földényi (2021 erschienen). Friedrich hat begonnen, die Malerei aus den Grenzen des Genres, die Landschaft aus der Vernachlässigung und das Altarbild aus dem Kirchenraum zu befreien, dabei Gefühl und Glauben ästhetisch individualisiert. In seinem früheren Friedrich-Buch „Die Nachtseite der Malerei“ erklärt Földényi: „Wenn der Mensch Erlösung weder von Gott noch von der Welt erhofft, dann nimmt im Niemandsland stehend die absolute Freiheit des selbstbewussten Geistes die Form des Willens und der Fantasie an.“
Während 2024 Friedrichs 250. Geburtstag gefeiert wird – geboren ist er im Werther-Jahr 1774 –, kann man in großen und kleineren Ausstellungen seine wirkmächtigen Bilder bewundern, oft eine Mischung aus Willen und Fantasie, von Kandinsky sogar als Beginn der abstrakten Kunst bezeichnet. Allein in Friedrichs Heimatstadt Greifswald gibt es drei Shows, „Lebenslinien“, „Sehnsuchtsorte“ und „Heimatstadt“, allesamt von der Kulturstiftung der Länder gefördert und von der Friedrich-Expertin Birte Frenssen kuratiert, die dort seit bald 30 Jahren nicht nur eine Handvoll guter Gemälde und eine große Zeichnungssammlung des Künstlers pflegt, sondern die es jetzt unter anderem auch geschafft hat, dass die Kreidefelsen aus dem schweizerischen Winterthur erstmals in die Heimat kommen.
Die am 28. April gestartete Schau „Lebenslinien“ (bis 4. August) zeigt freilich zuerst eine weitere Friedrich’sche Rarität, das Aquarell Greifswalder Marktplatz. Wie auch Wiesen bei Greifswald, um das sich zentral die Ausstellung „Heimatstadt“ vom 16. Oktober an drehen wird, ist dies ein seltenes topografisch genaues Werk, da Friedrich seine Bilder meist aus mehreren Ansichten zusammenbaut und sogar die Greifswalder Klosterruine Eldena ins Riesengebirge versetzt, „Dichtung und Wahrheit bunt miteinander verschmelzend“, wie ein Kunsthistoriker 1931 schreibt. Nun, bei der Heimatstadt macht Friedrich Ausnahmen von seiner unaufgeregt fantastischen Kompositionspraxis. Vor allem, weil er beim Markplatz auch zweifelsfrei zu identifizierende Figuren zeigt, nachzulesen in Frenssens grundlegendem Bildband Natürlich romantisch. Vorab der Hinweis, dass Friedrich den Marktplatz 1818 während seiner Hochzeitsreise mit Caroline getuscht hat, die er erstmals der Familie vorstellte, seinen vielen Brüdern, um genau zu sein: Heinrich, mit umgebundener Schürze, ist aus seinem Laden am Markt getreten, rechts von ihm Adolf mit Peitsche in der Hand, das Familienstammhaus in der Langen Straße als Seifensieder führend. Links Christian mit Zylinder und Zollstock. Vor Adolfs Wagen dessen Sohn Gustav Adolf, im Wagen turnen dessen Bruder Karl und Heinrichs gleichnamiger Sohn. Links die Frauen der Brüder: Christians Elisabeth mit Tochter Caroline und dem kleinen Heinrich Adolf, neben ihr Adolfs Frau Margarete und deren Schwester. Das Rathaus steht heute immer noch so schön und rot da in Greifswald und der Turm des Doms St. Nikolai im Hintergrund ebenfalls – wobei der Dom im April ein grandioses neues Kirchenfenster von dem Künstler Ólafur Elíasson bekommen hat.
Aus Adolfs Besitz, der auf dem Marktplatz rechts vorne mit der Peitsche stehende Friedrich-Bruder, stammt das Gemälde Zum Licht hinaufsteigende Frau (siehe S. 6). Es kam nach einigen auswärtigen Stationen 2005 (unter anderem unterstützt durch die Kulturstiftung der Länder) zurück nach Greifswald, ist dort jetzt neben dem Pendant Hinabsteigende Frau mit Kerze im Landesmuseum und ebenfalls in der Ausstellung „Lebenslinien“ zu bewundern. Solche Szenen häuslichen Lebens im Innenraum sind bei Friedrich selten; was er damit ausdrücken wollte, bleibt unklar. Der kunsthistorische Gigant Helmut Börsch-Supan, an dessen Werkverzeichnis-Grundlagen auch heute niemand vorbeikommt, sieht darin Symbolhaftes von Auf- und Abstieg, Licht und Dunkelheit, Ewigkeit und Vergehen. Herrmann Zschoche, erst Filmemacher und dann spätberufener Kunstforscher, berührt eher das Alltägliche: Die Kerzen-Frau sei wohl auf dem Weg in die Speisekammer. Existenzialismus oder abendlicher Snack, warum hat der Maler das gemalt? Was hat ihn fasziniert an der Frauenfigur, wahrscheinlich seine Caroline mit Schürze und Häubchen? Was hat ihn fasziniert an diesem doppelten Blick aus dem Dunklen ins Licht, von Maler und Figur gleichermaßen? Diese Bilder könnten ein Nähezeugnis aus der für Friedrich wohl glücklichsten Lebenszeit sein, die an seine Heirat 1818 anschließt und in der seine Frau oft als Bildfigur in der Kunst erscheint. Vielleicht sind diese Bilder – dazu gehört sicher auch
Auf dem Segler – die besten Zeugnisse seiner weltlichen Liebe. Göttliche, universelle Liebe findet man bei ihm häufig, so in immer wiederkehrenden Darstellungen der Ruine Eldena im Riesengebirge, in der unwirklichen Überhöhung von Neubrandenburg, der Stadt, aus der seine Eltern stammen – alles in Greifswald zu bestaunen, alles wunderschön und entrückt. Diese unermesslichen Himmel, diese Weite! Die Frau auf der Treppe wirkt dagegen nahbar.
Alle Rückenfiguren-Gemälde von Friedrich, besonders aber die Kreidefelsen, sind eine „wahre Schule des Sehens“, so der Friedrich-Forscher Johannes Grave. Man sieht nicht nur die spektakulär zerklüfteten, schwindelnd hinabfallenden Kreidefelsen, um dann mit dem Blick fort in die endlose Weite des Meeres zu gleiten, direkt in den Himmel übergehend, eine luftig-duftige Horizontlinie. Nein, wenn man sich von dieser Achterbahnfahrt erholt hat, geht das Sehen erst richtig los, beziehungsweise das Sehen des Sehens. Man fokussiert die drei Figuren im Vordergrund und beobachtet, wie sie auf das Motiv schauen. Auch Florian Illies beschreibt die Gemälde-Figuren in seinem Nummer-eins-Bestseller „Zauber der Stille“: „Es gibt Regalmeter von Literatur, die sich mit der Frage beschäftigen, wer sie sein könnten. Denn wenn Friedrich wirklich sich selbst gemalt hat in der Bildmitte, zur Kante vorrobbend, dann passt der städtische Zylinder nicht, so etwas hat er nie an, wenn er über sein geliebtes Rügen läuft. Oder soll es der Zylinder des frischgebackenen Bräutigams sein? Aber eher will er doch den Gegensatz zeigen zu dem Mann rechts in seiner altdeutschen Tracht, die Friedrich so gerne gemalt hat, obwohl sie längst verboten ist. Der Altdeutsche rechts nämlich blickt souverän in die Weite, der Städter in der Mitte blickt ins Nichts. Und wenn das Bild etwas zu tun haben sollte mit der Hochzeitsreise und seinem Bruder Christian, dann hätte doch sicherlich der Familiensegen schief gehangen, wenn er auf dem Bild dessen Frau Elisabeth weggelassen hätte, die die vierte im Bunde gewesen ist.“ Die Bäume, wie ein natürlicher Bilderrahmen, fassen die drei Figurenblicke, die Felsen, die Tiefe und die Weite fast herzförmig zusammen – und dann gibt es da ja noch den vierten Blick, den der Kunstbetrachtenden. Sie müssen sich keinesfalls am Gesträuch festhalten wie die linke Frau, nicht an den Abgrund kriechen wie der mittlere oder lässigen Anlehne-Halt suchen wie der rechte Mann. Die Betrachtenden entscheiden, ob sie die Kluft der Felsen oder die Schönheit des Bildes wahrnehmen. Doppelt gut passt da der Kreidefelsen-Ausruf von Friedrichs Greifswalder Freund Karl Schildener: „Immer das Eine Wort: des ewigen Lebens im ewigen Vergehen!“ Denn heute ist das Gemälde selbst einer der von der mittleren Jubiläums-Ausstellung im Landesmuseum beschworenen „Sehnsuchtsorte“, vom 18. August 2024 an erstmals in Greifswald zu sehen. Die abgebildeten Kreidefelsen gibt es zwar noch, man kann ja weiter nach Rügen fahren und in den Jasmunder Nationalpark spazieren. Aber in dieser Form gibt es sie nicht – hat es sie vielleicht auch nie gegeben, denn Friedrich, mit seiner willensstarken Fantasie, erfand wahrscheinlich zumindest die filigran emporragenden Zinken. Denn an der permanent erodierenden Kreideküste, wo das weiche Material ständigem Winden und Fluten ausgesetzt ist, dürften sich solche feinen Formen, falls überhaupt, nur sehr kurz aufrecht halten. Im Bild bleiben sie für immer sichtbar.
Caspar David Friedrich 2024
Pommersches Landesmuseum
Rakower Straße 9, 17489 Greifswald
Lebenslinien: bis 4.8.2024
Sehnsuchtsorte: 18.8. – 6.10.2024
Heimatstadt: 16.10.2024 – 5.1.2025
www.pommersches-landesmuseum.de