Was für ein Wechselspiel zwischen Weite und Enge, Hoffnung und Desillusion, Ideologie und individuellen Lebensentwürfen! Die gesamte erste Etage des Jüdischen Museums in Berlin ist bis zum 14. Januar 2024 einem ganz besonderen Thema gewidmet: „Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR.“ Das Land aber war lediglich ein halbes und der Staat DDR von Anbeginn an eine Diktatur. Wie lebte es sich darin, aus welchen Gründen waren die ab 1933 aus Nazi-Deutschland Vertriebenen oder jene, welche die Konzentrationslager und den Holocaust überlebt hatten, in jenen Teil ihrer ehemaligen Heimat zurückgekehrt?
Die Ausstellung, mitfinanziert von der Kulturstiftung der Länder, lässt sich Zeit und Raum, diese existentiellen Fragen anzureißen – und die Besucher und Besucherinnen tun gut daran, schon zu Beginn den überaus informativen Begleitkatalog bei sich zu haben; er liegt keineswegs schwer in der Hand und erhellt so manchen Hintergrund als Ergänzung zum Visuellen der Exponate. Didaktisch ist hier zum Glück jedoch nichts, die großzügig geschnittenen Säle sind mitnichten überfrachtet, stattdessen wirkt da ein Vertrauen in die Assoziations- und Empathiefähigkeit des Publikums. Wobei sogleich am Anfang die Note gesetzt ist, eine Stimmung des Unbehaustseins und der (nicht allein geografischen) Heimatlosigkeit. Schwarze Buchstaben auf weißer Wand, eines der berühmtesten Gedichte des Lyrikers und Dramatikers Thomas Brasch (1945–2001): „Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber/ wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber/ die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber/ die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber/ wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber/ wo ich sterbe, da will ich nicht hin:/ Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“
Als diese Zeilen 1977 in der Bundesrepublik veröffentlicht wurden, lebte der Sohn jüdisch-kommunistischer Remigranten freilich selbst schon seit einigen Monaten im Westen; wie so viele andere Künstler und Intellektuelle hatte auch Thomas Brasch die DDR im Zuge der Ausbürgerung Wolf Biermanns unter Protest verlassen. Braschs Vater hingegen hatte es in der DDR sogar zum stellvertretenden Kulturminister gebracht, während die Mutter, Parteimitglied auch sie, bis zu ihrem frühen Krebstod 1975 im kargen Ostberlin stets still ihrem geliebten Wien nachgetrauert hatte.
An den Fotowänden und in den Vitrinen, gefüllt mit diversen Orden und offiziellen Dokumenten, wird auch an jene erinnert, die aus politisch-idealistischen Gründen in den Ostteil Deutschlands zurückgekehrt waren und dort Karriere machten – dann als parteitreue Kommunisten, nicht in erster Linie als Juden. Dass sie in ihren Funktionen in Staat und Partei auf ehemalige hochrangige Nazis treffen würden, schien – im Gegensatz zur jungen Bundesrepublik – sehr unwahrscheinlich, aber es warteten andere Gefahren. So gab es bereits in den ersten Jahren der DDR eine brachiale Hetze gegen den 1948 auf UNO-Beschluss gegründeten Staat Israel, und der aus Stalins Moskau importierte Sprech von der „Wühlarbeit zionistischer Agenten und Kosmopoliten“ zielte selbstverständlich auf jüdische Existenz und griff in infamer Weise auf die jahrhundertealten Stereotype antisemitischer Verschwörungstheorien zurück.
In den sowjetisierten Staatsapparaten Ungarns und der Tschechoslowakei kam es zu Schauprozessen, deren prominente Angeklagte ehemals hohe KP-Funktionäre waren – und Juden. Die Furcht, dass solches auch bald in Ostberlin geschehen könnte, brachte unzählige Mitglieder der seit Sommer 1945 (wieder) bestehenden Jüdischen Gemeinde zur schweren Entscheidung, nun erneut zu fliehen und die DDR zu verlassen – ein Exodus aus Ostberlin, Leipzig, Dresden und Erfurt, den thematisiert zu haben eines der hervorzuhebenden Verdienste der Ausstellung ist.
Schon in den Jahren zuvor aber hatte es, wie die Historikerin Annette Leo in ihrem erhellenden und ob der präsentierten Fakten auch erschreckenden Begleittext schreibt, von sowjetischer Seite gewaltsame Repressionen gegeben. So war etwa die 1947/48 in allen vier Besatzungszonen gegründete Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) im Osten zunehmend unter Druck geraten, ihre Überparteilichkeit aufzugeben und sich lediglich im Sinne Moskaus und der 1946 gegründeten SED zu äußern. Repräsentanten der Jüdischen Gemeinde, die sich – wie etwa Fritz Katten – als VVN-Mitglieder nicht an diese Direktive hielten, zahlten einen entsetzlich hohen Preis: Katten war 1949 unter dem konstruierten Vorwurf, ein amerikanischer Spion zu sein, verhaftet und von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Straflager verurteilt worden; erst 1956 wurde er – „vorzeitig“, wie es zynisch hieß – entlassen.
In den paranoiden, von den antisemitischen Moskauer „Ärzte-Prozessen“ geprägten letzten Monaten des Gewaltherrschers Josef Stalin hatte sich dann alles abermals verschärft. Die nun hier in Berlin gezeigten Zeitungsausschnitte, in denen es von Vokabeln wie „Verräter, zionistische Agenten, entlarven, vernichten“ nur so wimmelt, verdeutlichen auf beklemmende Weise, um was für ein „Land“ es sich bereits in jener frühen Walter-Ulbricht-DDR gehandelt hatte – jenseits der gesundbeterischen Formel von den „zumindest guten Anfängen“.
Wie aber sah es mit jenen aus, die blieben, sich mehr oder minder ängstlich anpassten oder im Gegenteil ganz offensiv davon überzeugt waren, dass in der DDR – trotz allem – eine sozial gerechte und „antifaschistische Alternative“ im Entstehen war? Für Schriftsteller wie etwa Anna Seghers, Stephan Hermlin und Arnold Zweig stand außer Frage, dass sie in einer von ihnen als „restaurativ“ wahrgenommenen Bundesrepublik mitsamt deren in den Verwaltungsapparaten und im Justizwesen weiterhin präsenten NS-Tätern nicht hätten leben können. Aber auch sie stellten ihre jüdische Erfahrung quasi hintenan und argumentierten vor allem als Kommunisten oder – wie im Falle Arnold Zweigs – als mit dem Staatssozialismus Sympathisierende.
Freilich gab es gerade für Zweig, den immerhin weltberühmten Autor der antimilitaristischen Erste-Weltkriegs-Romane „Erziehung vor Verdun“ und „Der Streit um den Sergeanten Grischa“, eine Schmerzgrenze, die schon aus Selbstachtung nicht überschritten werden durfte. Ein Jahr vor seinem Tod und physisch schon hinfällig, fand er im Sommer 1967 noch den immensen Mut, die Unterschrift zu einer von der SED geforderten medien-öffentlichen Stellungnahme „jüdischer Repräsentanten“ zu verweigern: In klassischer Täter-Opfer-Umkehr sollte das im Sechs-Tage-Krieg von den arabischen Staaten tödlich angegriffene Israel als „imperialistischer Aggressor“ gebrandmarkt werden. (Dabei hatte die DDR, wie ein großformatiges Bild in einem der Ausstellungssäle zeigt, noch 1961 zum Jerusalemer Prozess gegen den Holocaust-Organisator Adolf Eichmann drei prominente jüdische Journalisten als Korrespondenten nach Israel entsandt.)
Den im Parteiorgan „Neues Deutschland“ abgedruckten Unterwerfungstext aber hatte damals u. a. auch die renommierte Malerin Lea Grundig unterschrieben. Ohne jede retrospektive Besserwisserei vermittelt die Ausstellung anhand Grundigs beeindruckenden Bildern, Grafiken und Lithografien einen Eindruck von der Ambivalenz gerade prominenten jüdischen Lebens in der DDR. Geboren 1906 in Dresden, in der Weimarer Republik Mitglied der KPD und nach 1933 im Widerstand aktiv, war Lea Grundig nach einer fast einjährigen Odyssee über Prag, Wien, Donau, Schwarzes Meer und Bosporus schließlich 1940 im damaligen britischen Protektorat Palästina angekommen. Dort hatte sie alsbald hebräisch gelernt und sich der demokratisch linkssozialistischen Kibbuz-Bewegung angeschlossen. 1949 nach Dresden zurückgekehrt, wurde die Künstlerin dort schnell mit den harschen Forderungen nach einem Sozialistischen Realismus konfrontiert, dem ihr an der ästhetischen Moderne geschultes Werk genügen solle. In Briefen aus dieser Zeit, die sie an einen Freund nach Tel Aviv geschickt hatte, schrieb sie von „müssen“, nicht von „wollen“. Und geriet dann doch, wie auch andere ihrer Generation, in eine „Loyalitätsfalle“ (Karin Hartewig), begann sich mit dem System zu arrangieren, wog den beginnenden Ruhm als wunderbare Kinderbuch-Illustratorin gegen das Verdrängen ihrer Vergangenheit, wurde 1963 schließlich sogar Mitglied im Zentralkomitee der SED und starb, preisgekrönt und offiziell hochverehrt, 1977 – also just in jenem Jahr, in dem ein Nachgeborener wie Thomas Brasch seine kritischen Zeilen im Westen veröffentlicht hatte.
Vor solchen Jahrhundert-Hintergründen, aber auch Abgründen vermitteln selbst religiöse Exponate aus den Jüdischen Gemeinden der DDR-Bezirke kein Gefühl der Sicherheit. Umso mehr diese Ende der achtziger Jahre nur noch 400 Mitglieder umfassten und manche der führenden Gemeinde-Funktionäre sogar als Inoffizielle Mitglieder der Staatssicherheit tätig waren. Am schockierendsten aber ist wohl jene Fotografie, auf der ein breit grinsender Jassir Arafat im Kampfdrillich (dessen juden-mordende PLO-Kommandos auch in der DDR ausgebildet wurden, wie die Historiker Michael Wolfsohn und Jeffrey Herf recherchiert haben) einer jungen FDJlerin das Gesicht tätschelt. Diese hatte ihm zuvor bei einer staatlichen Veranstaltung eine Rede gehalten, deren Text selbstverständlich nicht von ihr stammte. Der Name der damals 15-jährigen: Marion Brasch, die kleine Schwester von Thomas Brasch, die dann nach 1989 zur Chronistin ihrer hochkomplexen Familie werden würde.
Überhaupt, die Gegenwart: Die Videoinstallationen der Ausstellung zeigen nicht nur Interviews mit Zeitzeugen verschiedenen Alters und Ausschnitte aus DDR-Filmen mit jüdischer Thematik (so etwa der 1974 sogar für den Oscar nominierten Jurek-Becker-Verfilmung „Jakob der Lügner“) sondern auch Alltagsszenen u. a. aus der Oranienburger Straße, über der nun längst wieder die Kuppel der 1866 eingeweihten Neuen Synagoge leuchtet. Im Zweiten Weltkrieg beschädigt, in der DDR jahrzehntelang eine Ruine, war 1988 die symbolische Grundsteinlegung für den Wiederaufbau erfolgt. Gleichzeitig wurden staatliche Pläne auf Eis gelegt, den Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee, mit über 100.000 Grabstätten größter jüdischer Friedhof Europas, durch ein gigantisches Straßenbau-Projekt zu verschandeln. Woher rührte die plötzliche, aber nur vermeintliche Sensibilität der DDR? Staats- und Partei-Chef Honecker wollte damals, absurde Hybris der de facto bereits zerbröselnden Macht, unbedingt ins Weiße Haus nach Washington eingeladen werden – und folgte dem antisemitisch-antiwestlichen Verschwörungs-Mythos, man müsse sich nur „mit den Juden gut stellen, um bei den Amerikanern etwas zu bewirken“. Tempi passati? Wohl nicht wenige der Besucher und Besucherinnen werden nach dieser Ausstellung und der Lektüre des Katalogs entdecken, wie viel bisher unbekannt war oder verdrängt wurde.
Freilich gibt es auch freudige Momente, ganz und gar nicht museal. So kommt der 1936 geborene Liedermacher Wolf Biermann, dessen Vater als jüdischer Kommunist in Auschwitz ermordet worden war, noch immer häufig aus seiner Geburtsstadt Hamburg nach Berlin, wo er seine künstlerisch so entscheidenden DDR-Jahre verbracht hatte. Das großformatige Bild, das ihn als kecken jungen Schnauzbärtigen auf der Weidendammer Brücke an der Friedrichstraße zeigt, findet nämlich gar nicht so selten eine Fortsetzung im Realen: Der nun bejahrte, aber noch immer jung-agile Wolf, Gitarrenkasten in der Hand, auf dem Weg von Bert Brechts Berliner Ensemble hinüber auf jene Brücke, die er durch sein berühmtes Lied vom „Preußischen Ikarus“ gleichsam zu einem doppeldeutschen Literaturort gemacht hat. Nur das einstige Machtorgan „Neues Deutschland“ steckt nun gewiss nicht mehr provokativ in Biermanns Manteltasche.