Heit’rer Heinrich

Aus Paris, in der hochsommerlichen Hitze des Jahres 1801, schreibt Heinrich von Kleist (1777–1811) an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge nach Frankfurt (Oder): „Ja, vielleicht werde ich diese Reise nach Paris, […] doch noch segnen. Nicht wegen der Freuden, die ich genoß, denn sparsam waren sie mir zugemessen.“ Jedoch vergällt nicht die zehrende Sehnsucht nach der Liebsten dem Autor seinen Aufenthalt in der Stadt an der Seine. „[D]aß uns die Wissenschaften weder besser noch glücklicher machen“, erschüttert den jungen Kleist bis ins Mark. Dem Untergang geweiht wähnt er die Grande Nation. In jugendlich-absoluter Konsequenz verwirft er seine philosophischen wie naturwissenschaftlichen Studien. Glück verheißt ihm hingegen plötzlich das bäuerliche Leben, wie er Wilhelmine im Oktober desselben Jahres schreibt: „Ein Feld zu bebauen, einen Baum zu pflanzen, und ein Kind zu zeugen.“ Auf der oberen Aar-Insel (heute: Kleist-Insel) im schweizerischen Thun glaubt er es zu finden. Fest in der Hand eines Bürgerkriegs, ist die Schweiz jedoch kein fruchtbarer Boden für sein Vorhaben, und er verlässt das Land wieder. Nach Stationen in Oßmannstedt und Weimar landet er im März 1803 schließlich in Leipzig, schreibt an seine Lieblingsschwester: „Ich weiß wahrhaftig kaum anzugeben, warum? Kurz, ich bin hier.“ Das Ringen um ein erfülltes Leben: Auf drei Seiten verdichtet Heinrich von Kleist an der Schwelle zur Dichterwerdung seine Lebenssituation. „Ein einziges Wort von euch, und ehe ihrs euch verseht wälze ich mich vor Freude in der Mittelstube“,  erwidert Kleist in ungewohnter Heiterkeit Ulrikes Schreiben vom 18. Februar. Denn nicht ohne Wirkung wird eine zehn Tage zuvor erschienene hymnische Rezension zu seiner ersten, noch anonymen Veröffentlichung „Die Familie Schroffenstein“ geblieben sein: „Endlich doch wieder ein rüstiger Kämpfer“, freute sich darin der Dramatiker Ludwig Ferdinand Huber über Kleist, der „um den poetischen Lorbeer aufsteht“.

Zerstreut in alle Winde sind die Handschriften Heinrich von Kleists. Die eng beschriebenen drei Seiten aus dem März 1803 waren einst im Besitz der Preußischen Staatsbibliothek, die die kostbaren Autographen Heinrich von Kleists im 2. Weltkrieg ins Schloss Fürstenstein nach Schlesien zum Schutz auslagerte – heute liegen sie in der Biblioteka Jagiellońska in Krakau. Von der Empfängerin selbst abgetrennt, fehlten jedoch schon immer die letzten sieben Zeilen. Dieser zärtliche Abschiedsgruß tauchte 2015 beim Allgäuer Antiquar Thomas Kotte auf. Wo sich das Autograph befand, seit es bei der Auktion vom 26./27. Oktober 1908 im Buch- und Kunstantiquariat Gilhofer und Ranschburg in Wien unter den Hammer kam, lässt sich nur vermuten. Die Tochter des Zipf-Brauerei-Besitzers, Emilie Schaub (gest. 1942), soll das Manuskript für ihre vor den 1920er-Jahren gebildete Sammlung erworben haben. Von den Erben gelangte es nun wieder in den Handel.

Dass diese literaturhistorische Rarität nun für die Öffentlichkeit gesichert werden konnte, verdankt sich nicht zuletzt dem bürgerschaftlichen Engagement. In einer erfolgreichen Spendenaktion gelang es Museumsdirektorin Hannah Lotte Lund über die Grenzen der Heimatstadt des Dichters hinaus 129 Paten für „Ein Stück Kleist“ zu finden. „Die Kulturstiftung der Länder freut sich, dass ein Brieffragment Kleists an seinen natürlichen Ort gefunden hat. Ein ganz besonderer Anlass zur Freude ist dabei die Unterstützung durch die Öffentlichkeit: Es dürfte kein anderes historisches Schriftstück geben, bei dem jedes Wort einen Förderpaten gefunden hat. Von einer viel beklagten ‚Kulturferne‘ ist hier erfreulicherweise nichts zu spüren!“, resümiert Frank Druffner, kommissarischer Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder.

Als neunte Handschrift gesellt sich das Brief-Fragment zur autographischen Sammlung des Kleist-Museums, die seit der Wende beherzt aufgebaut wird. Die Stärkung des Museums als öffentlichkeitsbezogener Forschungsort – insbesondere in der regionalen Vernetzung mit weiteren sammelnden Institutionen im Raum Berlin-Brandenburg, die Kleist-Schätze hüten – bietet der Kulturstiftung der Länder daher immer wieder Fördermöglichkeiten ganz im Sinne ihres Gründungsauftrags. Seit 1993 und mit diesem Kleist-Autograph zum sechsten Mal unterstützte die Stiftung Ankäufe für das Frankfurter Museum. Das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg förderte den aktuellen Erwerb mit.

 

Die Umschrift im Wortlaut:
Und nun küsse in meinen Namen jeden Finger meiner ewig
verehrungswürdigen Tante! Und, wie sie, den Orgelpfeifen gleich,
stehen, küsse sie Alle? von der obersten bis zur letzten, der kleinen
Maus aus dem Apfelkern geschnitzt! Ein einziges Wort von euch, und ehe ihrs euch verseht
?? wälze ich mich vor Freude in der Mittelstube. Adieu! Adieu! Adieu!
O du meine Allertheuerste!
Leipzig, d. 14t März, 1803                             Heinrich.