Grenzen überschreiten
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
warum zeige ich Ihnen zum Einstieg in diesen Kongress und zur Einstimmung auf meine Rede einen Ausschnitt aus einer Modenschau?
Wir sprechen heute über die Auflösung und Veränderung von Grenzen weltweit. Wir sprechen auch über unsere Beziehungen zu dieser Welt und die damit verbundenen Herausforderungen für die kulturelle und politische Bildung. Und diese sind – das möchte ich vorausschicken – keineswegs mehrheitlich verunsichernd oder problematisch. Das Prinzip heute szenografierter Modenschauen heißt Eintauchen, sich auf eine Reise in bekannte und unbekannte Sphären einlassen. Darauf möchte ich in der Folge aufbauen. Was Sie gerade gesehen haben, war ein Ausschnitt aus der Laufsteginszenierung des Londoner Designers Alexander McQueen im September 2009 „Plato’s Atlantis“. McQueen hat, so der Wiener Standard, die visionärsten Modenschauen der vergangenen 15 Jahre geschaffen. Er verwischte die Grenzen von Mode und Kunst, von Laufsteg und Bühne. Seine Inszenierungen schafften es in die hochkarätigsten Museen und sind heute bereits Gegenstand von kulturgeschichtlichen Ausstellungen. Beispiele dafür sind die McQueen-Retrospektive „Savage Beauty“ im New Yorker Metropolitan Museum of Art 2011, die dann 2015 noch einmal leicht verändert im Londoner Victoria & Albert Museum gezeigt wurde:
Folie 1: Bild Alexander McQueen
„Plato’s Atlantis“ begründete McQueens Ruhm als konzeptioneller Modedesigner. In der Show ging es um die Spannungen zwischen Natur und Technologie, Evolution und Devolution, Vergangenheit und Zukunft. Sie war – und damit steht sie für die szenografierten Shows der großen Designer heute – ein mediales Gesamtkunstwerk, das alle Sinne gleichermaßen adressierte. Sie wurde per Livestream ins Internet übertragen und wartete mit der Weltpremiere des Lady-Gaga-Songs „Bad Romance“ auf. Den atmosphärischen Prolog bildete der an die Stirnseite projizierte Film. Der Laufsteg wurde von Industrierobotern beherrscht, die multiperspektivische Life-Aufnahmen der Show lieferten. Das inhaltliche Narrativ bildete Platons Erzählung des Mythos von Atlantis. Pamela Scorzin, Professorin für Kunst und Medientheorie, sieht hier Aspekte von High and Low Culture verbunden und kombiniert mit „visuellen Anklängen an popkulturelle Science-Fiction-Produktionen der Gegenwart, wie beispielsweise Alien, Abyss oder Avatar“. Referenzpunkte bieten nach ihrer Analyse der Klimawandel, die Erderwärmung, das Darwin-Jahr 2009, die Evolution, die schaumgeborene Venus, Eva aus dem Paradies, Reptilien, Meeresbewohner und geklonte Zukunftswesen. Scorzin spricht von einem „paradoxen Kernthema ‚reversive Evolution‘. McQueen selbst sah die natürliche Evolution nicht als Widerspruch zu Technologie und künstlicher Intelligenz, sondern betonte deren Potentiale für kreative Transformationsprozesse. Und dies ist einer der Gründe, warum ich das Beispiel gewählt habe: wo wir zur Zeit gesellschaftlich und politisch vor zahlreichen offenen Fragen stehen und auch in der kulturellen und politischen Bildung nach angemessenen Ansätzen suchen, kann uns die Kunst auf neue und phantastische Wege führen.
Ein anderer Grund für die Wahl des Beispiels liegt darin, dass die Show ein Exempel für eine durch und durch konzipierte, künstlich und künstlerisch szenografierte Raumgestaltung ist. Wir leben schon lange nicht mehr in natürlichen Umgebungen, heute aber in zunehmend durchgestylten ästhetisierten Welten. Diese Welten stimulieren Wahrnehmungen, Gefühle und Handlungen absichtsvoll und blenden dabei alles Prekäre und echtes Leben mit seinen Schattenseiten aus. Nichts wird dem Zufall überlassen. Störfaktoren oder Peinlichkeiten gibt es nicht – es sei denn, sie sind von der Regie als Interventionen geplant, (wie bei der Modenschau „Seduzioni Diamonds“ von Valeria Marini 2010, bei der ein vermeintlich blutüberströmtes Modell Zuschauer/innen zum Eingreifen veranlasst.) Das sind im Sinne kritischen Hinterfragens Themen für die kulturelle, aber auch für die politische Bildung, weil es ihr essentieller Anspruch ist, sich nicht ein „X“ für ein „U“ vormachen zu lassen.
Es geht um Stimmungen. Ob Sie nun heute durch Ihre Stadt spazieren oder durch den Wald laufen. Es gibt wenig Raum auf der Erde, der nicht das Ergebnis absichtsvoller Gestaltung zum Zweck des Stimmungsmanagement ist. Der Wiener Journalist Robert Misik analysiert das Phänomen unter dem Stichwort Lifestyle-Kapitalismus. Für ihn ist es wichtig, dass wir einen besonderen Zusammenhang verstehen: In den letzten Jahrzehnten haben wir erlebt, wie Kultur und Bildung nach ökonomischen Kriterien organisiert wurden. Der Mensch wurde als „homo ökonomicus“ adressiert, nicht aber in seiner freiheitlichen politischen Rolle. Daneben aber wurde – meist relativ unbemerkt – gleichzeitig die Ökonomie kulturalisiert. Die Menschen der westlichen Gesellschaften kaufen noch in seltensten Fällen Produkte, weil sie sie brauchen. Nein, sie kaufen Produkte, um sich ein Image zu geben, um sich zu branden, um anderen ihre Identität zu vermitteln. Ich kaufe, also bin ich. Man kauft die Ware nicht im Hinblick auf ihre Funktion, sondern als Kulturware. Und man kauft dabei einen Lebensstil und eine Stimmung mit. Auch linke Konsumkritik wird durch entsprechende Kleidung und entsprechende Produkte zum Ausdruck gebracht. Industrien von Mood-Managern sind damit beschäftigt, Stimmungen zu schaffen und dazu passende Produkte zu entwerfen. Ob es um Sportlichkeit, Erholung, Wellness oder Liebe geht: ohne entsprechende Produktpaletten lassen sich die Gefühle kaum noch herstellen. In letzter Zeit verzichten Firmen sogar auf das Zeigen oder In-den-Mittelpunkt-Stellen von Produkten, wofür die Werbefilme von Wes Anderson für Prada, H&M oder Stella Artois Beispiel geben. Es geht darum, Produkte mit einer Erzählung zu versehen:
Misik fragt danach, auf wessen Kosten das westliche Konsummodell geht. Nach seiner Auffassung wirke die Verbreitung des westlichen Lebens- und Konsumstils fast schon kolonialistisch. Der westliche Lebensstil habe einen unübersehbaren Magnetismus, auch deshalb, weil er hybride sei, sich viele Stile einverleibe und sie so zum Dekorativen mache. Er mache die Welt in gewisser Weise einförmig, auch wenn es viele Lifestyle-Communities gebe. Diese Kritik hat richtige Aspekte, übersieht aber, wie beispielsweise der Berliner Historiker Sebastian Conrad herausgearbeitet hat, dass es gerade das Wesen von Kolonialität ausmacht, dass diese auch im „Inneren“ kolonialisiert, dass sie also Begehren nach bestimmten Standards wie dem weiß-europäischen Schönheitsideal erzeugt. Darüber hinaus beruht sie auf der rücksichtslosen Ausbeutung von Rohstoffen und der kolonisierten Menschen als Arbeitskräfte. Anzulegen ist demnach ein „weiter Kolonialismusbegriff“ – hier „Kolonialität“ genannt, der sich nicht entlang geografischer Grenzen definiert, sondern ‚Verflechtungen‘ zwischen Kolonien und kolonisierenden Staaten generell, aber auch koloniale Phantasien und Erinnerungen sowie die Rückwirkungen von Kolonialismus auf die Metropolen einschließt. Diese Formen der Verflechtungen beruhen gleichzeitig auf der Asymmetrie, die die Unterwerfung ganzer Gesellschaften und damit strukturelle Ungleichheit produziert, worauf Shalini Randeria und Sebastian Conrad ihren Begriff der „verflochtenen Geschichten ungleicher Modernen“ gründen.
Die von Misik erwähnten Lifestyle-Communities werden im globalen Kapitalismus zu Zielgruppen, denen man wiederum passende Produktpaletten verkaufen kann. Dabei unterstützen sie heute in der Regel Promis und Stars, insbesondere aus den popkulturellen Szenen. Bei Modenschauen z.B. wird einkalkuliert, dass die geladenen Gäste der Front Row bereits während der Show die sozialen Medien mit Bildern und Informationen bespielen. (Wir hoffen darauf, dass Sie das hier vom Olymp aus tun.) Ein weiteres Beispiel dafür sind die Entwürfe des als links und kritisch geltenden Stararchitekten Rem Koolhaas für die Luxus-Modemarke Prada. Das Prinzip dafür lautet, die Marke stützt die Marke stützt die Marke. Prada und Koolhaas profitieren wechselseitig vom Image des Partners. Vordergründig beschäftigen sie sich mit Kunst, wie hier am Beispiel der Mailänder Fondazione Prada zu sehen ist, eines von Koolhaas Architektenbüro OMA zu einem Kulturzentrum mit mehreren Museen umgebauten Industriegelände:
Folie 2/ Bild Milano
Folie 3/ Bild Tagesspiegel
In einem solchen komplett durchdachten Stadtteil, dessen letzter Zweck nur der Verkauf von Produkten der Marke ist, ohne dass dies offensichtlich wird, wird das Phänomen besonders gut verstehbar, das sich in den letzten Jahren unter dem Begriff der „Immersion“ einen Namen gemacht hat. Das der Immersion zugrunde liegende Prinzip ist das einer performativen Schaffung von virtuellen Räumen bzw. Lebensräumen, in denen Menschen unter „künstlichen“ oder „künstlerischen“ Bedingungen leben bzw. erleben. Hierdurch wird das Feld des Kulturellen erheblich erweitert. Sprach man vor einigen Jahren im Zusammenhang mit Immersion nur vom „Eintauchen“ in virtuelle Welten, und meinte dabei insbesondere das Feld des Digitalen, insbesondere das der Computerspiele, so hat sich mittlerweile die Kunst des Phänomens angenommen. Hier wird Immersion nicht nur als visuell-räumliche Illusion, sondern als ideelle Einbettung des Subjekts in szenische Vorgänge wirksam: Die Grenzen zwischen dem Hier und Dort, dem Eigenen und dem Fremden, dem Körperlichen und Technischen werden unscharf. Heute ist eine Vielzahl immersiver Inszenierungsweisen kennzeichnend für die analogen Künste der Gegenwart. Die künstlerischen Produktions- und Rezeptionsweisen werden durch beschleunigte medientechnische Entwicklungen in Theater, Performance, Installation sowie Video- und Computer-Art seit dem Ende des 20. Jahrhunderts rasant fortentwickelt. Ein Beispiel dafür ist die Produktion „Situation Rooms. Ein Multi-Player Video-Stück“ von Rimini Protokoll, das 20 Menschen aus mehreren Kontinenten (fiktiv) in einem Filmset versammelt, deren Biografien von Waffen mitgeschrieben wurden. Nachgebaut wurden Räume, die die globalisierte Welt der Pistolen, Panzerfäuste, Sturmgewehre und Drohnen, der Regierenden und Flüchtenden zeigen sollen. Das Set bietet eine Bühne für unerwartete Nachbarschaften und Kreuzungen, an denen die Zuschauenden als Teilnehmende und als gleichzeitig Zuhörende via Kopfhörer und ausgestattet mit Tablets und Kopfhörer biografische Sequenzen – auch mittels augmented reality-Technologie er-leben. Rimini Protokoll gelingt hier eine immersive Inszenierung, die vom Teilnehmenen Position verlangt. Der Zuschauende wird zum Mittäter, zum Koproduzenten.
Der Stadtanalytiker Walter Siebel hat die Beobachtungen räumlicher Inszenierungen auf die Städte als Gegenstände ästhetischer Bemühungen übertragen. Das Phänomen ist natürlich keineswegs neu, hat aber heute durch planvolle Kulturalisierungsstrategien eine besondere Qualität erreicht. Mit Schlagwörtern wie „Kultur als Standortfaktor“ und Investitionen in Stadtkronen wie die Hamburger Elbphilharmonie oder in unverwechselbare Festivals werden Städte zu weltweit bekannten Marken, deren Bewohner/innen und Besucher/innen sie unter ästhetischen, mitunter „touristischen“ Gesichtspunkten betrachten. Die Umgestaltung der Innenstädte und mancher In-Viertel für die ‚kreative Klasse‘ und die Wohlhabenden nach ökonomisch-kulturalistischen Gesichtspunkten, droht die öffentlichen Funktionen der Städte zu verdrängen. Siebel kritisiert u.a. daran, dass die Bürger/innen nur noch als Kunden angesprochen werden und nicht als „Produzenten von Stadtkultur“. Diese sei aber „etwas anderes als ein kulinarisches Serviceangebot für hochqualifizierte Arbeitskräfte“. Der Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz analysiert die Kulturalisierung unter dem Aspekt der dadurch erzeugten positiven Affekte: Die Ästhetisierung von Städten, Arbeitsplätzen, Shopping Malls, Restaurants und Wellness-Industrien vermittelt einerseits sehr gute Gefühle; andererseits – und das betont auch Siebel – werden die „Nachtseiten“ übertüncht, mit denen es die politische, aber auch die kulturelle Bildung immer auch zu tun haben. Dazu gehören Armut, Gewalt, soziale Polarisierung, das Hochziehen neuer Grenzen (zwischen Gated Communities und ökonomisch Benachteiligten) sowie die Verdrängung des Öffentlichen. Im Kapitalismus geht es nach wie vor nicht so zu, wir auf dem Ponyhof. Nicht unerwähnt lassen sollte man im Zusammenhang mit der Analyse von Immersion das Motiv der Kontrolle, das den Inszenierungen innewohnen kann. Der Kunst- und Theaterwissenschaftler Andreas Wolfsteiner erläutert dies am Beispiel der Geistlichen Übungen, die der Mitbegründer des Jesuitenordens Ignatius von Loyola seit den 1520er Jahren entwickelte. Loyola entwarf Praktiken zum Eintauchen in Bildwelten auf der Grundlage der Versenkung in die Sinne. Ziel war eine Verrückung des subjektiven Standpunkts, ein Sich-Versetzen an einen alternativen Ort. Die Praktiken hatten jedoch den Nebeneffekt der Durchsetzung von Kontrolle und absoluter Disziplin (Gehorsam). Immersion im Sinne von Entrückung ist das Gegenprogramm zu kritischer Reflexion, was wir bei den aktuellen Immersionsansätzen immer bedenken sollten.
Ich habe Ihnen diese Beispiele gezeigt, um zu verdeutlichen, dass wir an die Frage der kulturellen Bildung in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts neu herangehen müssen. Kennzeichen der Kultur war schon immer das Streben, sich „Welt“ verfügbar zu machen. Der Soziologe Hartmut Rosa arbeitet in seinen Werken heraus, dass der Wille, „Welt in Reichweite zu bringen,… das treibende Motiv der Moderne überhaupt“ ist. Dazu dienten in der Vergangenheit nicht zuletzt die Museen, die „Welt“ durch Objekte, Kulturgegenstände, an bestimmten Orten greifbar machten. Die Zoos der Innenstädte sind Erfindungen der Bürgergesellschaften des 19. Jahrhunderts, mit denen fremde (brutal angeeignete) Tierwelten anderer Kontinente in Köln oder Düsseldorf greifbar werden sollten. In den Anfängen wurden vereinzelt sogar Menschschauen inszeniert und als „Wilde“ markierte Menschen ausgestellt, wie z.B. bei den „Völkerschauen“ in Hamburger Hagenbecks Tierpark.
Künstler/innen aller Gattungen und Wissenschaftler/innen suchten in ihren Werken und Studien nach Weltdeutungen. Kolumbus „Er-Findung“ Amerikas‘ zählt dazu genauso wie Freuds Auslotung der psychischen Tiefen. Die Erforschung des Weltalls, beginnend mit Kopernikus‘ technischen Annäherungen bis zur Landung auf dem Mars, stehen genauso für die Ausdehnung von Weltaneignung – Rosa sagt dazu „Weltreichweitenvergrößerung“ -, wie die gezeigten Beispiele der Immersion, der Schaffung von virtual reality und der Überschreitung künstlerischer Genres wie bei Rimini Protokoll. Nach Hartmut Rosa lässt sich nun die Geschichte der westlichen Moderne erzählen als Fortschrittsgeschichte, aber auch als Verfallsgeschichte. Sie lässt sich erzählen als „Geschichte des kulturellen Niedergangs …, in dessen Verlauf die Menschen zuerst das Gefühl für den Sinn ihrer Existenz und nach und nach auch ihre Freiheit gegenüber einer sich verselbständigenden ökonomisch-technischen Maschinerie einbüßten“. Dem Programm der Weltreichweitenvergrößerung steht und stand immer auch die Angst vor einem Weltverstummen gegenüber. Während die Aneignung der Welt von Ökonomie, Technik und auch Politik vorangetrieben wird, „scheint parallel dazu in der philosophischen und künstlerischen Selbstreflexion der Moderne die Angst, mitunter auch die Verzweiflung, vor dem Anwachsen der Entfremdung zuzunehmen“. „Eine zentrale Inspirationsquelle der Kunst“ liege von der Frühromantik bis ins späte 20. Jahrhundert, „in der schmerzhaften Erfahrung einer erstarrten, erfrorenen, schweigenden Welt“.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, woran arbeiten Sie aktuell? Was fragen Sie sich? Was brauchen Sie, um Ihre Arbeit gut zu machen und voranzutreiben? Welche Impulse könnten Ihnen helfen? Wir, die Veranstalter dieser Kongressreihe Kinder zum Olymp!, haben in den letzten beiden Jahren viele Gesprächen mit Praktiker/innen und Expert/innen geführt. Wir haben dabei den Eindruck gewonnen, dass die Frage in den Vordergrund getreten ist, wie mit den weltweiten rasanten Veränderungen in Politik, Gesellschaft und Kunst umzugehen ist. Es geht, so glauben wir, zurzeit weniger als früher um Fragen der Bildungsqualität, der Teilhabe, der Vernetzung von Kunst und Schule im Ganztag. Die Bildung selbst muss sich neu verorten. Sie überschreitet deshalb Grenzen, verlässt den Seminarraum, das Atelier, die „Tempel“ der Künste und muss sich neu sortieren. Dabei hilft der Fokus auf die europäische Moderne als Fortschritts- und als Verfallsgeschichte. Als Bildungsakteure kennen wir diese beiden Seiten der Moderne sehr gut und wissen auch um deren eurozentristischen und damit unterkomplexen Charakter – das sollten wir im Hinterkopf behalten. Seit Schiller gelten hierzulande die ästhetische Erziehung, die Kunst und das Spiel, als Ansätze der „Wiederherstellung einer intakten Beziehung zwischen Subjekt und Welt“. – Ansätze, die allerdings seit jeher angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse als unvollkommen und kontingent hingenommen werden. Es ist es das Selbstverständnis der kulturellen und politischen Bildung, die Fortschritts- und die Verfallsgeschichte der Moderne, deren Merkmale sich in der dynamischen Spätmoderne eher noch stärker akzentuieren, immer wieder neu zu verhandeln und in ihren Widersprüchen zu reflektieren. Wo in der politischen Diskussion von der Repräsentationskrise die Rede ist, bemühen sich die Kulturvermittler/innen um die Schaffung von Partizipationsmöglichkeiten. Wo Milieus auseinanderstreben, die soziale Spaltung tiefer wird und Kinderarmut wächst, schaffen wir Zugänge zu Kunst und Kultur, adressieren Benachteiligte und bemühen uns um Netzwerke, die bei der integrativen Arbeit unterstützen. Während der Jahre 2015/16 wurde der Fokus auf die Geflüchteten gerichtet: Die Kulturvermittler/innen, aber auch zahlreiche Künstler/innen übernahmen dabei in der Ohnmacht der Kommunen häufig Ordnungsfunktionen, reflektierten ihr Selbstverständnis, politisierten sich und suchten nach Allianzen mit der politischen Bildung. Kurz: Wir bemühen uns, – aber, das muss man ehrlicherweise zugeben – wir betreiben noch größtenteils Stückwerk, rennen den Ereignissen hinterher und kleben überall dort Pflaster drauf, wo es weh tut.
Was wir heute brauchen, habe ich mit dem Begriff der „trans-kulturellen Bildung“ in meiner Vortragsüberschrift angedeutet. Bisher haben wir überwiegend den Begriff einer „interkulturellen“ Bildung benutzt, der von weitgehend geschlossenen und miteinander interagierenden Kulturen ausging. Am Ende des Tages haben wir uns dann die Augen gerieben, wenn dabei nur die gegenseitige Bestätigung gängiger Stereotype herauskam. Trans-kulturelle Bildung stellt für mich stärker auf den Gedanken des Austauschs miteinander verflochtener und ungleicher Gesellschaften ab. Trans-kulturelle Bildung akzentuiert den Gedanken der Entgrenzung, der Selbstkritik unserer Disziplinen und plädiert für mehr Ambiguität durch Kontrollverlust. Trans-kulturelle Bildung impliziert für mich deshalb auch, dass sich kulturelle und politische Bildner/innen stärker zusammen tun, Fachdiskurse führen, Bildungsansätze debattieren und sich auch mit anderen Akteuren und deren Perspektiven und Strategien vernetzen sollten. Trans-kulturell bedeutet für mich, dass (nationale) Vergangenheit und (globale) Zukunft von Gesellschaften in eine (selbst-)kritische Beziehung zueinander gebracht werden, wie dies zum Teil in den Debatten um das Humboldt-Forum gefordert wird. Die Verantwortlichen des Humboldt-Forums müssen hier noch erheblich nacharbeiten, da sie bislang kritische Stimmen nicht ernst genug nehmen und die Dekolonisierung der Sammlungen der Ethnologischen Museen nicht ausreichend vorantreiben. Beispielgebend könnten hier die Ansätze des Kurators Paul Spies für die Berlin-Ausstellung im Humboldt-Forum sein, der stärker auf Partizipation und Co-Kuratorenschaft setzt.
Voraussetzung für ein Neudenken der Bildung ist die Erkenntnis, dass es nicht nur den Gesellschaften des globalen Westens zusteht, Weltaneignung zu betreiben und Weltentfremdung zu bekämpfen. Geflüchtete sind hier, weil es in ihrem Teil der Welt Kriege, Armut und Umweltzerstörung gibt. Aber sie sind auch hier, weil sie – genau wie wir – Welt in Reichweite bringen wollen oder z.B. mittels digitaler Medien bereits gebracht haben. Bisher haben die Kultur- und Bildungsakteure wie viele andere aus der Mittelschicht über Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte gesprochen. In Wirklichkeit aber haben sie vielfach ihr kulturelles, soziales und ökonomisches Kapital in Stellung gebracht, um ihre Privilegien zu behalten und nur für sich selbst Beteiligungschancen am politischen Geschehen herauszuschlagen. Und dabei wirken sie sowohl ins Innere ihrer Gesellschaften hinein als auch global. Sie sind und bleiben bisher die Autorinnen der geltenden Narrative; sie bestimmen mit, was Kultur, was Bildung und was das Politische ist. Das muss sich ändern. Es ist für die Bildung der Zukunft fundamental, dass das Prinzip der Kontroversität bzw. der Multiperspektivität, das auf die Bildungsgegenstände und -ziele angewandt wird, einer trans-kulturellen Bildung als fundamentaler Parameter zugrunde gelegt wird. Eurozentristische Sichtweisen sind traditionellerweise einseitig und hegemonial. Das beschreibt die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozie Adichie in Ihrem Vortrag „The Danger of a single Story“:
Die Geflüchteten, aber auch der weltweite Austausch mit Kulturakteuren und die Präsenz von Menschen vielfältigster Herkunft in den Städten geben uns Gelegenheit, eigene Lebensweisen und Selbstverständlichkeiten zu relativieren. Dabei gilt es, im Rahmen der Bildungsansätze die eigenen demokratischen Werte in entschiedener Solidarität in den globalen Kontext zu stellen. Paul Mecheril, Direktor des Center für Migration, Education and Cultural Studies an der Universität Oldenburg, schlägt als Zielstellung von Bildung vor, „sich zu den epochaltypischen Schlüsselproblemen globaler Ungleichheit in ein Verhältnis zu setzen“. Bildung impliziert nach seiner Auffassung „sich selbst durch Wissen in Frage stellen zu lassen“. Als Bildungsziel für das 21. Jahrhundert nennt er „Solidarität unter einander Unvertrauten“, wobei Fremdheit nicht durch das Auftauchen von Migrant*innen entstehe, sondern „konstitutiver Teil pluraler, demokratischer Gesellschaften“ sei.
Unerlässlich erscheint zudem ein selbstkritisches Nachdenken über asymmetrische Beziehungen. Wer wen bildet, wer wen woran teilhaben lässt oder nicht, wer Inhaber „legitimer“ Positionen ist und wer diese infrage stellt, das hat schon immer und zu Recht zu heftigen Auseinandersetzungen über Machtverhältnisse geführt. Dies berührt die aktuellen Bemühungen um eine trans-kulturelle Bildung in der Einwanderungsgesellschaft in besonderer Weise. Die bisherigen Bildungsansätze und Bildungsanbieter laufen Gefahr, mit ihren Praktiken Menschen oder „Zielgruppen“ als Nicht-Gleiche, als Andere und unter Umständen sogar defizitäre Subjekte hervorzubringen. Bildungsangebote generieren demnach implizit Machtverhältnisse dergestalt, dass Angehörige von Mehrheitskulturen Minoritäten identifizieren, markieren und gleichzeitig abwerten, indem sie im Rahmen ihrer Bildungspraxis identitäre Zuschreibungen vornehmen.
Kulturelle Bildner/innen, Erzieher/innen, Lehrer/innen wissen aus ihrer pädagogischen Erfahrung heraus, dass es insbesondere die Methoden der Bildung und Vermittlung sind, die die unterschiedlichsten Abstufungen von „Othering“ einschließen. Andere werden dabei meist nicht nur als „anders“ betrachtet, sondern das Spektrum der Zuweisungen an Anders-Sein reicht nicht selten von exotisch bis barbarisch und rassistisch. Trans-kulturelle Bildung zielt demgegenüber, und das möchte ich ausdrücklich festhalten, auf die Vermeidung von Diskriminierung und Ausschluss in Bildungseinrichtungen. Es geht darum, Asymmetrien und Machtverhältnisse nicht nur zu reflektieren, sondern hinter sich zu lassen. Unser Bildungsziel lautet demnach: Eine andere Welt ist möglich!
Dabei wird den aktuell stark diskutierten Diversity-Ansätzen ein hohes Potential beigemessen, die Differenzen als wertvolle Ressourcen in pädagogischen Arbeitsfeldern anzuerkennen und sich um das Auffinden von Gemeinsamkeiten anstelle von Unterschieden zu bemühen. Ziel ist die kritische Dekonstruktion von Vorannahmen über die Bedeutung von kulturellen Zugehörigkeiten. In einer Studie von Wiebke Trunk für das ifa, Institut für Auslandsbeziehungen, wird vorgeschlagen, Werke und deren Produzent/innen in die Diversitätsbetrachtung einzubeziehen. Kunst kann demnach ein Teil inklusiver kultureller Bildung werden, „wenn Kunstvermittlung der kulturellen Diversität sowohl in zeitgenössischen Werken als auch gegenüber den Rezipientinnen und Rezipienten in den Gesellschaften des 21. Jahrhunderts in adäquaten Formaten gerecht wird. Schließlich darf die strukturelle Dimension von Schule, Bildungs- und Kultureinrichtung nicht aus dem Blick verloren werden: Nicht nur sollten Programme und Bildungsformate entwickelt werden, die den Prinzipien der Vielfalt entsprechen, sondern es muss auch eine entsprechende Personalpolitik gemacht werden. Dabei müssen Maßstäbe geschaffen werden, denn wir haben es heute nicht selten mit neoliberalen Vereinnahmungen von Diversity-Ansätzen zu tun, bei denen bestimmte, in ein Konzept passende „Andere“ strategisch und unter Fortbestand der Machtverhältnisse inkludiert werden. Diversity-Ansätze reichen deshalb nicht aus. Wer Vielfalt leben und als Ziel verfolgen will, muss die globalen Ungleichheiten nicht nur moderieren, sondern bekämpfen und hinter sich lassen. Dekolonisierung ist deshalb immer Voraussetzung gelebter Diversität und muss in der Bildung als Prinzip und Methode zum Tragen kommen. Bildung in der globalisierten Welt ist eben keine nationale Hoheitsaufgabe mehr, sondern eine kollaborative Lernaufgabe für alle Beteiligten. Dabei ist es wichtig und unabdingbar, dass wir dazu Position beziehen.
Folie 4: Bild Humboldt-Universität
Sie sehen hier das Foyer der Berliner Humboldt Universität; an der Wand die 11. These von Karl Marx‘ Kritik an dem Philosophen Ludwig Feuerbach: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretirt, es kömmt drauf an sie zu verändern“. Feuerbach sei unfähig, die Gesellschaft als eine materielle Wirklichkeit zu begreifen, die aus dem Handeln der Menschen erwachse. Er vergesse, dass die Umstände von den Menschen verändert werden können und der Bildende selbst gebildet werden muss. Alexander McQueen, um noch einmal auf die Ausstellung im Moma zurückzukommen, hatte durchaus die Gefahr erkannt, dass Modezitate rassistisch oder orientalisierend sein können. Dennoch hat er immer wieder Andeutungen solcher Zitate in den eigenen Entwürfen gemacht und damit stereotype Wahrnehmungen verstärkt. Die New York Times kritisierte diesbezüglich, dass eine Sichtweise von Mode als Kunst verlange, dass Mode auch als Kunst behandelt werden solle. Demnach müsse von solcher Mode erwartet werden, dass sie eine kritische Distanz einnimmt und soziale wie politische Aspekte mitdenkt. Das impliziert eben auch Kritik am globalen Kapitalismus und die Distanz von seinen Institutionen, anstatt sich von ihnen finanzieren zu lassen und die Grenzen zwischen Kunst und Kommerz aufzuweichen.
Der Kunst können und wollen wir nichts diktieren. Wir können aber die Bildung in eine neue Richtung lenken. Bildung muss sich postkolonial verorten und dekolonisierend wirken. Anders kann sie im globalisierten Kontext nicht mehr gedacht werden. Bildung muss irritieren; sie muss dazu beitragen, Aspekte wie Ungewissheit, Utopie, Diversität oder Ambiguität zu fördern, die für die Zukunftsoffenheit der demokratischen Gesellschaften fundamental sind. In Weiterentwicklung der 11. Feuerbachthese darf darauf hingewiesen werden, dass es gerade die Bildung ist, die seit Wilhelm von Humboldt im Konzert der Geisteswissenschaften nicht nur auf Reflexion setzt. In dem Bericht an den König vom Dezember 1809 schreibt von Humboldt: „Es giebt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Giebt ihm der Schulunterricht, was hiezu erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher sehr leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschiehet, von einem zum andern überzugehen.“ Humboldt nennt Allgemeinbildung, was wir kulturelle politische Bildung oder Persönlichkeitsbildung nennen. Die Bildung ist es, die im Konzert der Geisteswissenschaften nicht nur reflektiert, sondern gesellschafts- und weltverändernde Praxis freizusetzen vermag. Wir können deshalb selbstbewusst auf das Potential unseres Aktionsfeldes blicken. In diesem Sinne, liebe Kolleginnen und Kollegen: „Kopf hoch und nicht die Hände“.
– Es gilt das gesprochene Wort –