Grußwort von Prof. Dr. Markus Hilgert anlässlich der Erwerbung:
Irgendwann um die Mitte des Jahres 1919, nachdem der Oldenburger Großherzog Friedrich August von Oldenburg (1852 –1931) im Jahr zuvor zur Abdankung gezwungen worden war, verließen in einer geheimen Aktion hochkarätige Werke der zum Privatbesitz erklärten Großherzoglichen Gemäldesammlung das Land, um über die Grenze in die Niederlande geschafft zu werden. Darunter befand sich ein großformatiges Leinwandgemälde von Peter Paul Rubens und seiner Werkstatt: „Der gefesselte Prometheus“. Von Gustav Pauli, dem damaligen Direktor der Hamburger Kunsthalle, war die Sammlung im Auftrag des neu gegründeten Landtags im Februar 1919 noch geschätzt worden, da es Verhandlungen mit dem abgedankten Großherzog über den Erwerb der Sammlung gab. Das in der sogenannten Pauli-Liste unter der Nr. 121 geführte Prometheus-Gemälde wurde von ihm auf 160.000 Mark beziffert.
Doch die Verhandlungen über einen Ankauf der Sammlung, um sie für die Öffentlichkeit zu bewahren, kamen ins Stocken, und am 25. September des Jahres verkündete die Zeitung Volksstimme: „Der wertvollste Teil der alten Bilder der Großherzoglichen Gemäldegalerie ist seit einiger Zeit nicht mehr in Oldenburg. Der Großherzog ließ sie durch Vermittlung einiger Geschäftsleute über die Grenze nach Holland bringen.“ Wann und wie genau die Werke außer Landes gebracht wurden, bleibt ungewiss. Doch tatsächlich tauchten sie dort ab 1921/22 auf dem Kunstmarkt auf. Von da aus verstreuten sich die Gemälde in alle Richtungen. Der aus Oldenburg stammende Philosoph Karl Jaspers schrieb: „So fand ich denn die in der Kindheit bewunderten Gemälde wieder in Berlin, in Amsterdam, im Haag, in Abbildungswerken über amerikanische Sammlungen: das nicht wegzuräsonnierende Zeichen, daß auch diese einzige vorübergehende Welt Oldenburger Geistigkeit ihr Ende gefunden hat.“
Der Verlust brannte sich tief in das kollektive Gedächtnis nicht nur der Oldenburgerinnen und Oldenburger ein, sondern auch weiter darüber hinaus. Der Fall schaffte es bis in die Münchner Neuesten Nachrichten sowie in den Simplicissimus, wo eine Karikatur den ehemaligen Oldenburger Großherzog vor einer Galeriewand mit leeren Rahmen zeigt (Abb. S. 59). Die Rufe nach einem Gesetz zum Schutz nationalen Kulturguts wurden immer lauter, und am 11. Dezember 1919 trat die Verordnung über die Ausfuhr von Kunstwerken in Kraft, nachdem in der Weimarer Reichsverfassung der Schutz von Kulturgütern zur Staatsaufgabe erklärt worden war. Für Rubens’ Prometheus kam diese Verordnung allerdings zu spät. Er befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr in Oldenburg.
Es sollte einhundert Jahre dauern, bis das Gemälde wieder an genau den Ort zurückkehrte, an dem es einst hing. Im Oktober 2019 wurde es für eine Sonderausstellung als Leihgabe aus Privatbesitz im Augusteum des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte angeliefert. Hier am historischen Ort war seit der Eröffnung am 19. Juni 1867 die Großherzogliche Kunstsammlung als erstes Kunstmuseum der Region für die Öffentlichkeit zugänglich.
Mit dem „Gefesselten Prometheus“ hatte Rubens zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine spektakuläre ikonographische Innovation geschaffen. Erst mit seiner Darstellung des antiken Titanen, dessen nackter Körper sich in Rubens’ kühner Komposition über die gesamte Bilddiagonale erstreckt, erhielt der von den Göttern bestrafte Prometheus als prominentes und viel zitiertes Bildthema Einzug in die Kunstgeschichte. Rubens selbst pries den „Prometheus“ im Jahr 1618 in einem Brief an den englischen Botschafter in den Niederlanden, Sir Dudley Carleton, an, mit dem er über den Tausch einiger seiner Gemälde gegen antike Marmorstatuen des englischen Gesandten verhandelte, und er erwähnte, dass der Adler von seinem Malerkollegen Frans Snyders gemalt sei: „… un Prometheo legato sopra il monte Caucaso con una aquila che li becca il fegato. Originale di mia mano e l’aquila fatta dal Snyders.“ („… ein Prometheus, an den Kaukasus gebunden, mit einem Adler, der ihm die Leber herauspickt. Entstanden von meiner Hand, und der Adler von Snyders gemacht.“). Ob Rubens hier von dem Oldenburger Bild spricht, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Denn wie bei erfolgreichen Bildfindungen üblich, hatte die Rubens-Werkstatt mehrere Versionen des schon seinerzeit viel gerühmten Motivs geschaffen, um die hohe Nachfrage nach Werken des Meisters zu befriedigen. Von ihnen ist neben der Oldenburger Version heute nur noch diejenige im Philadelphia Museum of Art überliefert. Sie ist in intakterem Zustand als die Oldenburger Leinwand und gibt einen Eindruck davon, wie bildgewaltig die Komposition und wie vorzüglich die Malerei ist.
Die Spuren des Oldenburger Gemäldes lassen sich bislang sicher bis in das Jahr 1802 zurückverfolgen, als es der gerade aus Neapel geflohene Johann Heinrich Wilhelm Tischbein wohl von John Stuart, dem 4. Earl of Bute, für seine Kunstsammlung erwarb. Zwei Jahre später verkaufte Tischbein seine aus 86 Gemälden bestehende Sammlung Alter Meister – darunter auch der „Prometheus“ – an den Oldenburger Herzog Peter Friedrich Ludwig, womit der Grundstock für die spätere Großherzogliche Gemäldegalerie Oldenburg gelegt war, die ab 1867 im eigens für die Sammlung errichteten Augusteum der Öffentlichkeit präsentiert wurde.
Die Provenienz des Bildes vor seinem Ankauf durch Tischbein ist noch zu klären. Sie gestaltet sich aufgrund der Tatsache, dass es mehrere Gemälde der Rubens-Werkstatt mit einem „Prometheus“ gegeben hat, als besonders komplex. In Verkaufskatalogen des 18. und 19. Jahrhunderts sind mehrere Fassungen des Prometheus-Themas bezeugt, die heute allerdings nicht mehr lokalisierbar sind bzw. vermutlich gar nicht mehr existieren.
Das Schicksal des Werkes nach seinem Transport von Oldenburg in die Niederlande ist hingegen gut dokumentiert: 1924 wurde der „Prometheus“ im Amsterdamer Auktionshaus Fredrik Muller versteigert. Zunächst erwarb ihn der Kunsthändler Jacques Goudstikker. Schon damals bemühte sich der Gründungsdirektor des Oldenburger Landesmuseums, Walter Müller-Wulckow, Hauptwerke aus dem Bestand der 1919 verlorenen Altmeistersammlung zurück zu erwerben. Dies tat er wiederholt auch im Falle des „Prometheus“-Gemäldes, für das er 1924, als es sich noch bei Goudstikker befand, das Ministerium des Inneren des Freistaats Oldenburg um finanzielle Mittel bat. Seine Bemühungen waren jedoch vergeblich, da die Zustimmung des Landtages nicht rechtzeitig erfolgte. So verkaufte Goudstikker das Gemälde an den in den Niederlanden lebenden, in Deutschland geborenen Industriellen Ernst Proehl, der an der Amsterdamer Herengracht residierte. Proehl – dessen Ehefrau jüdische Eltern hatte – war nach der Besetzung der Niederlande durch die deutsche Wehrmacht gezwungen, das Bild 1941 an den Kunsthändler Pieter de Boer zu verkaufen – ohne zu ahnen, dass dieser es über die „Dienststelle Mühlmann“ an den „Sonderauftrag Linz“ veräußern würde, da es für das sogenannte Führermuseum in Linz vorgesehen war. Nach dem Krieg gelangte es zum Central Collecting Point in München, von wo es 1946 zurück an die Niederlande restituiert wurde. Es dauerte jedoch bis 2009, bis es an die rechtmäßigen Erben zurückgegeben wurde. Durch einen Hinweis von Professor Nils Büttner von der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart erhielt das Landesmuseum wieder Kenntnis über den Verbleib des Gemäldes. Es befand sich zu restauratorischen Untersuchungen an der Akademie in Stuttgart. Durch Vermittlung zu den Eigentümern konnte das Gemälde dann von November 2019 bis Anfang Februar 2020 als Leihgabe in der Sonderausstellung „Götter & Helden. Mythologische Malerei im Barock und heute“ präsentiert werden, und im Jahr darauf gelang mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, der Ernst von Siemens Kunststiftung und des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur der endgültige Rückerwerb des Werkes.
Die bewegte Geschichte und die vielen Reisen des Bildes haben Spuren an dem Werk hinterlassen. Es hat Schäden und Maßnahmen erlitten, zu denen eine Doublierung, Risse in der Leinwand, Fehlstellen in der Mal- und Grundierungsschicht sowie Bereibungen und der Verlust des Firnis gehören. Hinzu kommen unzureichend ausgeführte Kittungen und Retuschen aus historischen Restaurierungen. Nach den Untersuchungen und konservatorischen Maßnahmen an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart befindet sich das Werk aktuell zwar in einem stabilen, doch nicht restaurierten Zustand. Der derzeitige Zustand des Gemäldes entspricht noch nicht den Anforderungen an eine dauerhafte museale Präsentation. Es gilt daher nun, restauratorische und konservatorische Maßnahmen vorzunehmen, um einen optisch geschlossenen Zustand wiederherzustellen. Dennoch bietet der jetzige Zustand aber die einmalige Gelegenheit, Bildaufbau und Malpraxis der Rubens-Werkstatt nachvollziehen zu können. Im kommenden Jahr wird das Meisterwerk dann nach über einhundert Jahren wieder dauerhaft an seinem alten Ausstellungsort – dem Oldenburger Augusteum – für die Öffentlichkeit zu sehen sein.
Anna Heinze ist Sammlungsleiterin für die Abteilungen Bildende Kunst sowie Kunstgewerbe/Design am Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg.
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