Für immer jung

Philipp Otto Runge, Selbstbildnis im blauen Rock, 1805, 40,3 × 28,9 cm, Hamburger Kunsthalle
Philipp Otto Runge, Selbstbildnis im blauen Rock, 1805, 40,3 × 28,9 cm, Hamburger Kunsthalle

Der frühe, plötzliche, häufig auch gewaltsame Tod war in diesen Zeiten ein ständiger Begleiter. Mit den napoleonischen Heeren hatte sich ja beileibe nicht nur die Hoffnung auf Freiheit, sondern auch das Elend in ganz Europa verbreitet. Auch in der zuvor florierenden Handelsstadt Hamburg war längst die Not eingezogen. Und mit ihr die Krankheit und der Tod. Man kann das frühzeitige Sterben des Malers Philipp Otto Runge, der am 2. Dezember 1810 in Hamburg von der Schwindsucht dahingerafft wurde, auch im Zusammenhang mit der von Napoleon erzwungenen Kontinentalsperre sehen. Die Familie Runges war unmittelbar davon betroffen. Sein älterer Bruder Daniel, ohne dessen Beistand und Unterhaltszahlungen er niemals ein Künstlerleben hätte führen können, musste sein Handelsunternehmen aufgeben. Keine guten Zeiten für Geschäftsleute. Und auch nicht für Himmelsstürmer. Schon 1807 traten die ersten Anzeichen der Erkrankung auf. „Der Krieg“, schreibt Runge bitter, „hat die Art unserer Existenz verändert.“

Todesahnung, ja selbst Todessehnsucht hatte jedoch schon den ganzen Weg Philipp Otto Runges begleitet. Unentwegt hadert er mit sich, mit der Welt um sich herum. „Ich kann mich nicht in die Zeit schicken und möchte mich gern zur Ewigkeit geschickt machen“, schreibt er etwa in einem Brief von 1805, der wie so viele seiner Schriften zu den eindringlichsten Zeugnissen des frühromantischen Geistes und Gefühlslebens gehört; das schmerzliche Gefühl des Bruchs mit der Welt, der Entfremdung, drückt sich in ihnen ebenso aus wie die Sehnsucht nach Verschmelzung mit dem Du, nach Verbrüderung mit dem Kosmischen, nach Rückkehr in einen verlorenen paradiesischen Zustand jenseits des Sündenfalls.

Ein paar Jahre früher, am 9. März 1802, adressierte Philipp Otto Runge an seinen Bruder Daniel sogar die Fiebervision eines ganzen Weltuntergangs, „wo die Erde sich aufthun und uns alle verschlingen könnte, das ganze menschliche Geschlecht“. Dieser Untergang sollte allerdings nicht das Ende aller Zeiten sein, sondern nur der Auftakt zu besseren. Auf der Tabula rasa der alten, abgelebten, innerlich ausgehöhlten sollte eine neue Welt entstehen. Im – zutiefst christlich, ja mystisch geprägten – Denken Runges waren Sterben und Werden untrennbar miteinander verbunden, die Nacht und der Morgen, das Ende und der Anfang. Der Bilderzyklus zu den „Tageszeiten“, der im Zentrum seines ganzen Werkes steht, um den sein Schaffen jahrelang, fast schicksalhaft kreist, in immer neuen Umlaufbahnen, soll nicht zuletzt auch den „innern Zusammenhang“ der Schöpfung sichtbar und sinnfällig machen.

Selbst als letztlich Unvollendeter, dessen künstlerische Sprache nicht recht ausreifen konnte und dessen großes Projekt im wesentlichen Fragment und Versprechen bleiben musste, hat Philipp Otto Runge diesen so hymnisch gefeierten Kreislauf der Schöpfung auf geradezu wundersame Weise bestätigt: Dadurch, dass die Saat seines komplexen, von den Zeitgenossen und der Nachwelt weitgehend ignorierten, wenn nicht verlachten Werkes nach einem ganzen Jahrhundert dann endlich doch aufging, im Jugendstil insbesondere, im Symbolismus, in der Kunst der frühen Moderne. Und durch einen zweiten Sohn, den seine Frau tatsächlich nur ein paar Stunden nach dem Tod des Malers auf die Welt brachte. Es liegt darin so viel beziehungsreiche Symbolik und frappierende Sinnfälligkeit, dass man nur staunen kann.

Nicht nur, weil sich hier das zyklische Kreisen des Lebens genauso verdichtet wie in Runges Hauptwerk „Der Kleine Morgen“ von 1808, wo ein frisch geborener Säugling im ersten Sonnenstrahl des Tages auf der Erde liegt, den klaren und noch unverstellten Blick zum Himmel emporgerichtet, indes gleichzeitig, in der Randzone, die Seelen der Verstorbenen zum ewigen Licht aufsteigen. Sondern auch deswegen, weil dem Kleinkind in Runges Werk und Weltanschauung überhaupt eine so große und wichtige, ja überragende Bedeutung zukommt. Kinder müssen wir werden, wenn wir das Beste erreichen wollen, lautet seine berühmte Losung. Sein Programm von der Rückkehr zum verlorenen Paradies durch die neue Kunst, die er zu begründen gedachte, zu deren Wegbereiter er sich bestimmt, ja gleichsam ausersehen fühlte, hat in der kindlichen Seinsweise seinen Fluchtpunkt. „So wie ein Kind im Paradies lebt und sich selbst unbekannt und selig ist“, so müsse der Mensch sich auf seinen Ursprung zurückbesinnen, um wieder in jenen „innern Zusammenhang“ mit der Schöpfung und ihrem Schöpfer einzutreten. Kein Wunder, dass Runge zu einem der größten Kinder- und Kindheitsmaler der Kunstgeschichte avancierte. Neben seinen komplexen poetischen Allegorien gehören vor allem die Bilder von Juvenilen, die ahnungslos und unschuldig, köstlich selbstvergessen im Goldenen Zeitalter der Kindheit leben, zum Kernbereich seines künstlerischen Werkes; er hat sie, so Rilke, mit Herzklopfen gemalt.

So fügt es sich jedenfalls vortrefflich, dass auch ein herausragendes Kinderbild im bedeutenden Konvolut von sieben Hauptwerken Runges figuriert, die nun, zum 200. Todestag des Malers, endgültig in den Besitz der Hamburger Kunsthalle überführt werden konnten. „Otto Sigismund im Klappstuhl“ von 1805 zeigt – bemerkenswerterweise auf Augenhöhe, wie öfters in Runges Kinderbildern – den ersten Sohn des Malers, dessen rundes, fast feistes Gesicht nicht nur gute Kost verrät, sondern auch die Ideenwelt des Vaters. Drückt sich doch in der Vorstellung der Frühromantik die Vollendung der Natur am liebsten in der Kreisform aus. In einem Brief wird der stolze Vater später schreiben: „Das kleine Kind ist sehr dick und nähert sich der Vollkommenheit, nemlich der Kugelform immer mehr.“

Ganz ohne Allusionen auf den paradiesischen Urzustand, viel eher als Vertriebener, präsentiert sich der Maler dagegen in den drei kapitalen, ja epochalen Selbstporträts, die das Herzstück des Konvolutes bilden: Hat er im grandiosen „Selbstbildnis am Zeichentisch“ (um 1800) noch den schöpferischen Augenblick, die künstlerische Inspiration, festzuhalten gesucht, so begegnet uns im berühmten „Selbstbildnis mit braunem Kragen“ (um 1803) bereits der sehnsüchtige, fast mehr nach innen denn auf die Welt gerichtete Blick des Romantikers, der, wie einmal treffend geschrieben wurde, „das Gefühl anspruchsvollen Alleinseins ausstrahlt“. Blass, melancholisch, mit deutlich spürbarer innerer Anspannung, ja Verkrampfung richtet er schließlich vom „Selbstbildnis im blauen Rock“ (1805) den Blick auf uns, mehr Denker als Künstler, eher ein „transzendentaler Arzt“ oder „Priester“ im Sinne des – von ihm sehr verehrten – Novalis. Aber auch die anderen Bilder des Konvoluts öffnen den Blick auf eminente Momente aus der kurzen Schaffenszeit Runges: Die Ölskizze „Mutter Erde mit ihren Kindern“ von 1803 ist das früheste erhaltene Zeugnis für seinen Plan, den Zyklus der Zeiten in farbiger Fassung auszuführen. Und das berühmte Programmbild „Die Lehrstunde der Nachtigall“ markiert die Hinwendung Runges zu einer dezidiert romantischen Kunstauffassung.

Mag also der am 23. Juli 1777 in Wolgast geborene Maler zu seinen Lebzeiten mit dem kümmerlichen, wenn überhaupt vorhandenen Kunstleben seiner Wahlheimat Hamburg auch zutiefst unglücklich gewesen sein, so führt doch heute kein Weg an der Stadt vorbei, wenn man sich für die norddeutsche Romantik und speziell für die Kunst Philipp Otto Runges interessiert. Die nun endgültig erworbenen Arbeiten – bei ihrem Ankauf wurde die Stadt Hamburg von der Kulturstiftung der Länder und weiteren Förderern unterstützt – unterstreichen dies aufs schönste. Sie stammen übrigens aus dem Besitz der Nachfahren des Künstlers und sind seit rund hundert Jahren in der Hamburger Kunsthalle zu sehen, seitdem von hier aus, unter dem damaligen Direktor Alfred Lichtwark, die Wiederentdeckung und Neubewertung Runges ausging. Wie um Wiedergutmachung zu leisten für das damalige Desinteresse an Kunst in der Kaufmannsstadt, das Runge immer wieder beklagte. Im Bildnis der Eltern – eine in Öl ausgeführte Studie zu diesem Meisterwerk von 1806 rundet das Konvolut ab – hat der Maler in gewisser Weise auch dem legendären hanseatischen Mangel an Kunstsinn ein Denkmal gesetzt, den diese mit ihren Mitbürgern teilten. Aber eben zugleich auch der pragmatischen Solidität und frommen Tugendhaftigkeit, die er an ihnen schätzte. Ihrer Standfestigkeit. Nicht wenige verstehen dieses Bildnis deswegen als Feier des hanseatischen Selbstbehauptungswillens, der den Fährnissen auch dieser Zeit widersteht. Runge selbst jedoch war ihnen nicht mehr gewachsen.