Frucht des Bürgersinns
Heute wäre das sensationell: eine Bibliotheksordnung, die sich mit drei Punkten begnügt. Punkt eins verweist auf die Öffnungszeiten und darauf, dass der Besuch „unentgeltlich“ sei. Punkt drei macht klar, dass es sich um eine Präsenzbibliothek handelt, worin Bücher und Musikalien über „Verlangzettel“ anzufordern sind und „nur im Lesezimmer“ eingesehen werden dürfen. In sich hat es Punkt zwei: „Die Benutzung des Lesezimmers ist, soweit der Raum reicht, Jedem (Herren wie Damen) gestattet.“ Das war 1894, im Eröffnungsjahr der Musikbibliothek Peters, keine Selbstverständlichkeit. Aber wo das hauseigene Statut die „musikalische Erbauung der Jugend“ gebot, wo Studenten und anderen Interessierten der Zugang zu den oft nur schwer greifbaren Schriften und Partituren zeitgenössischer Musik erleichtert werden sollte, durfte das weibliche Geschlecht nicht fehlen. Das nennt man fortschrittliche Bildungspolitik. Die Musikbibliothek Peters, erzählt ihre heutige Leiterin Brigitte Geyer, sei überhaupt die erste öffentliche Bibliothek Deutschlands gewesen, die Frauen offenstand.
Städtische Musikbibliotheken haben es generell nicht einfach. Verglichen mit den Besucherzahlen in der Abteilung Kinder- und Jugendliteratur bringen sie nur eine schwache Quote. Noch schwieriger wird ihre Daseinsberechtigung gegenüber der öffentlichen Hand, wenn sie über keine Tonträger verfügen. Mit Tonträgern und Instrumentalschulen des Musters „Gitarre spielen leicht gemacht“ lässt sich immerhin ein breites Publikum ködern.
Das vermag auch die Musikbibliothek der Leipziger Städtischen Bibliotheken, aber eben nur mit ihrer allgemeinen, nicht mit ihrer bedeutendsten Sammlung. Diese, die Musikbibliothek Peters, ist eine integrale wissenschaftliche Spezialbibliothek, eine wahre Schatztruhe für Musikologen, hochbedeutend zumal für Forschungen zum 19. und frühen 20. Jahrhundert. Obwohl seit eh und je in Leipzig beheimatet, bietet sie einen repräsentativen Querschnitt durch die europäische Musikgeschichte, freilich mit einer starken Akzentuierung des kompositorischen und musikliterarischen Schaffens im mitteldeutschen Raum.
Tonträger hat sie nie besessen. Ihr Bestand vereint seltene Handschriften, Erstdrucke und – bedingt durch Kriegsverluste und spätere Entnahmen – eine leider nur noch mäßig große Anzahl von Briefen von Komponisten oder anderen Personen des musikalischen Lebens, genauer: des historischen musikalischen Lebens, denn die Sammlung Peters ist abgeschlossen. Seit den 1940er Jahren werden durch die nationalsozialistische Verfolgung der Verlegerfamilie für sie keine Neuerwerbungen mehr getätigt. Heute zählt sie rund 24.000 Medieneinheiten oder Bände. Unter den Autographen und Erstausgaben findet sich eine nicht endenwollende Reihe großer Namen: Johann Sebastian Bach und seine Söhne, Beethoven, Bellini, Berlioz, Gluck, Händel, Haydn, E. T. A. Hoffmann, Liszt, Lortzing, Mendelssohn-Bartoldy, Monteverdi, Mozart, Pergolesi, Scarlatti, Schumann, Telemann, Verdi, Wagner und so fort. Dazu kommen Notenausgaben mit handschriftlichen Eintragungen bedeutender Meister, Sammelbände alter Kirchenmusik, Choralbücher, byzantinische und mittelalterliche Gesänge in Form wertvoller Graduale, wissenschaftlich-kritische Editionen, Biografien, eine Vielzahl von Fachzeitschriften des 18. bis 20. Jahrhunderts und eine Sondersammlung von Opernlibretti, die im 17. Jahrhundert beginnt.
Barbara Wiermann, Musikwissenschaftlerin und Leiterin der Musikabteilung der Sächsischen Landes¬bibliothek (s. ihren Beitrag in diesem Heft), gerät ins Schwärmen, fragt man sie nach der Musikbibliothek Peters. Als Forscherin und als Lehrende an Leipzigs Musikhochschule habe sie die Sammlung als „unglaublich bereichernd“ erfahren. Das liege vor allem an der Chance, mit Primärquellen zu arbeiten statt mit Analysen aus zweiter Hand. Sammler, gleich ob fürstlicher oder bürgerlicher Herkunft, prägten mit ihrem Tun die (Musik-)Geschichte. In der Musikbibliothek Peters wären Studenten direkt mit dem Material konfrontiert, das erlaube ihnen eine frische empirische Herangehensweise. Zugleich aber müssten sie reflektieren, dass es nicht zufällig sei, was sich in einer Bibliothek befinde. Auch das sei zu lernen. Musikalien seien kein klassisches Sammlungsgebiet von Bibliotheken. Erst heute nähmen die Verantwortlichen eine Neuorientierung vor.
Noch ein Grund, warum es Musikbibliotheken nicht leicht haben: Autographen und alte Bücher sind scheinbar weniger unterhaltsam als etwa Sammlungen bildender Kunst. Die Musikbibliothek Peters erschließt sich richtig nur dem Kenner oder Wissenschaftler. Und – als wäre diese Begrenzung des Nutzerkreises nicht hinderlich genug, wenn es um den Unterhalt geht – eine Forschungsbibliothek wie die Sammlung Peters kostet viel Geld. Da hilft es sehr, sagt Leiterin Geyer, dass sich Leipzig das Label „Musikstadt“ zum Leitbild erkoren hat. Hinzu kommt: In der Bevölkerung genießt die Sammlung Peters einen so hohen Ruf, dass sie oft mit der Städtischen Musikbibliothek, in die sie eingebettet ist, gleichgesetzt wird, als gäbe es dort nichts weiter von Bedeutung. Eines der wichtigsten Stücke der Sammlung ist ein Autograph von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Irgendwann wurde die Handschrift einmal in Dunkelgrün neu aufgebunden und später auch restauriert, sie steckt nun in einem Klappschuber mit Leineneinband – wie ein Kleinod im Futteral. Das Titelblatt ist ebenso reizend wie einfach. Mit Breitfeder geschrieben, steht dort in schöner klarer Schrift: „Die Erste Walpurgis-Nacht. Ballade für Chor und Orchester. Gedichtet von Goethe.“ Es sei dies überhaupt „die einzige autographe Partitur eines so großen Genres, also mit Orchester und Chor“, sagt Brigitte Geyer.
Zwischen 2004 und 2013 gab es Erbstreitigkeiten um die Sammlung. Der Musikverlag C. F. Peters, nach dem die Musikbibliothek benannt ist, stellte den mit Leipzig 1998 geschlossenen Dauerleih- und Verwahrvertrag in Frage. Zeitweilig stand es nicht gut um den Verbleib der kostbarsten Titel in der Stadt. Am Ende setzten sich die Parteien an einen Tisch. Man einigte sich auf eine Kaufsumme für die gesamte Sammlung. Partner, darunter die Kulturstiftung der Länder, griffen Leipzig beim Ankauf finanziell unter die Arme. Seit Februar 2013 ist die Stadt Eigentümerin der Musikbibliothek Peters.
Max Abraham, Bürger Leipzigs und Eigentümer des Musikverlages C. F. Peters, hatte Ende des 19. Jahrhunderts die in Konkurs geratene „Leihanstalt für musikalische Literatur“ des Musikalienhändlers Alfred Dörffel aufgekauft, diese zum Grundstock der von ihm geplanten Musikbliothek Peters gemacht und das Ganze dann seiner Heimatstadt und zum ewigen Verbleib gestiftet. Herrlichster Bürgersinn tat sich da kund. Nicht nur, dass Abraham seine private Sammlung öffentlicher Nutzung übergab, er stellte auch ein statt¬liches Gebäude zur Verfügung und entnahm seinem Vermögen vierhunderttausend Reichsmark für eine Stiftung, um mit den Zinserträgen den Unterhalt der Bibliothek zu finanzieren. Henri Hinrichsen, sein Neffe und Nachfolger als Verleger, setzte dieses Mäzenatentum fort und bekräftige Abrahams Willen, dass die Sammlung in Leipzig bleiben solle, unabhängig von Konkurs oder Wegzug des Verlags C. F. Peters – komme, was da wolle.
Wie Max Abraham waren auch die Hinrichsens Juden. Eine assimilierte Unternehmerfamilie, großzügig, engagiert, sehr um Leipzigs Wohl besorgt. Anders als Henri Hinrichsen wähnte, hat die hohe Reputation ihn und die Seinen nicht vor dem braunen Rassenhass geschützt. Zwei Söhne emigrierten rechtzeitig, nachdem die NSDAP an die Macht gewählt wurde, und gründeten in New York und London ihre eigene Edition Peters. Ein dritter Sohn kam in einem Internierungslager in Frankreich um, Henris Frau starb im besetzten Belgien an Diabetes, weil sie als Jüdin kein Insulin bekam. Henri Hinrichsen wurde in Auschwitz ermordet. Die Geschichte des Verlags und der Musikbibliothek Peters in Deutschland war ab der „Arisierung“ 1938 ein Wechselbad aus Enteignung und Restitution. Im nach dem Krieg zunächst amerikanisch besetzten Leipzig konnte Sohn Walter Hinrichsen eine Rückgabe von Verlag und Musikbibliothek erwirken, doch nur für wenige Wochen, bis die Amerikaner die Stadt an die Sowjets übergaben. Nach Gründung der DDR wurde alles „volkseigen“ um dann 1993, nach der deutschen Einheit, an Evelyn Hinrichsen als Vertreterin der Erbengemeinschaft restituiert zu werden. Mit dem nach langen Verhandlungen erreichten Ankauf entschloss sich die Stadt Leipzig endlich auch, Henri Hinrichsen persönlich zu würdigen und an sein Schicksal und das seiner Familie dauerhaft zu erinnern: Der neue Lesesaal der Stadtbibliothek trägt seinen Namen, und anlässlich der Übergabe der Bibliothek wurde durch die Enkelin Hinrichsens eine Porträtbüste enthüllt. Aber die Geschichte von glorreichem Bürgersinn und blutiger Verfolgung bleibt eine Wunde.