Fixierte Dispositionen
Der dicke Edding, mit dem Produktionsleiter Harry Baer Änderungen notiert hat, frisst gierig das Papier auf. Klebstoff blutet aus ins Papier, weil Ergänzungen großflächig mit Tesafilm angestückelt wurden. So zerstörte sich langsam, aber stetig der monumentale Drehplan von Fassbinders berühmter Fernsehserie selbst. Überall sind die Papierecken bestoßen, Einrisse ziehen sich tief ins filmhistorische Dokument, Verschmutzungen machen so manches unleserlich. Jahrzehntelang in einer Posterrolle aufbewahrt, verweigerte sich der monumentale Dispositionsplan der Literaturverfilmung beharrlich, in die ursprünglich plane Form zurückzukehren. Wochenlange sanfte Feuchtigkeitszugabe und vorsichtige Lagerung zwischen Stoffbahnen brachten den Plan wieder in den Urzustand. Gerrit Thies, der leitende Dokumentar der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, kann leidenschaftlich von den verborgenen Kämpfen mit den Schätzen aus der deutschen Filmgeschichte berichten, die er gemeinsam mit Restauratorinnen ausfechten muss. Wie kann man die vielfältigen Spuren der Arbeit an Fassbinders Berlin Alexanderplatz-Verfilmung erhalten, gleichzeitig aber die fragilen Dokumente der Literaturverfilmung schützen vor weiterem Zerfall?
Die Kinemathek mit Museum und Sammlung in der Mitte Berlins am Potsdamer Platz, sie ist kein Universalarchiv des Films, sondern eine höchst individuelle Sammlung: Überwiegend gehen die Bestände auf die Vor- und Nachlässe von Regisseuren, Produzenten, Bühnenbildnern und Schauspielern zurück. Aber auch die Bestände von Produktionsfirmen und Filmstudios sind für die Archivare von großem Interesse. Eine private Sammlung begründete die Kinemathek: Der Regisseur Gerhard Lamprecht (1897–1974) hatte bereits als Zehnjähriger ein Filmarchiv angelegt und Zeit seines Lebens Filmkopien und Materialien von Filmschaffenden zusammengetragen. Der Regisseur u. a. der Billy-Wilder-Version von „Emil und die Detektive“ (1931) bestimmte mit diesem Ansatz auch die zukünftige Strategie der Sammlung, nachdem das Land Berlin Lamprechts privates Archiv 1962 erworben hatte. Denn die langgehegte Idee eines zentralen filmhistorischen Archivs in Westdeutschland zerplatzte in den 1970er-Jahren, stattdessen findet die Sammlung des Filmerbes bis heute dezentral statt. Die Westberliner Akademie der Künste aber hatte im Gegensatz zu ihrem Ostberliner Pendant bis in die 1980er-Jahre keine Filmsektion. Umso wichtiger wurde die Initiative der Deutschen Kinemathek, insbesondere die privaten Nachlässe aufzuspüren und für die Öffentlichkeit zu erhalten. Mit dem Filmhistoriker Gero Gandert (1929–2019) und dem langjährigen Leiter der Sammlungen der Kinemathek Werner Sudendorf waren höchst erfolgreiche Akquisiteure dafür in der Filmszene unterwegs, um Bestände detektivisch zu orten und zu sichern. Sie wollten damit wenigstens teilweise ausgleichen, was der Zweite Weltkrieg von der Filmgeschichte zerstört hatte oder was beispielsweise durch die Aufspaltung großer Filmfirmen wie der Ufa verloren gegangen war. Nicht zuletzt durch den guten Ruf, den man sich erarbeitete, kamen so wichtige Bestände wie die Nachlässe von Marlene Dietrich mit u. a. Tausenden von Kleidern, von Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau in die Kinemathek. Die Protagonisten des Neuen deutschen Films entwickelten dagegen selbst ein frühes Bewusstsein für die umfassende filmhistorische Archivierung, berichtet Gerrit Thies. Der Regisseur Werner Schroeter beispielsweise, obwohl teilweise selbst ohne festen Wohnsitz, ließ sein Archiv professionell betreuen und sichern.
Exilfilm, Avantgarde, Experimentalfilm oder deutscher Filmboom der 1990er-Jahre – das Personenarchiv mit Vor- und Nachlässen hat heute eine enorme Bandbreite, von Werner Herzog über Hildegard Knef, Heinrich Breloer bis zu Bernd Eichinger. Auch internationale Bezüge wie mit dem Nachlass des Produktionsdesigners Ken Adam, dessen Familie Berlin 1934 verlassen musste, kann die Kinemathek herstellen – auf ken-adam-archiv.de ist ein digitales Portal entstanden, das die Arbeit des weltberühmten Produktionsdesigners rekonstruiert. Die Sicherung des Filmerbes, die digitale Erfassung von Filmen und Dokumenten, seit langem ein großer Wunsch der Kinemathek und generell beim Filmerbe, steckt jedoch noch immer in den Kinderschuhen: Immerhin hatte es das Thema als Vorhaben in den letzten Koalitionsvertrag geschafft. Nun hofft man auf mehr finanzielle Unterstützung durch den Bund. Denn die Nutzer, gerade bei den filmischen Werken, erwarten heute eine digitale Verfügbarkeit, müssen aber oft enttäuscht werden. Auf vielen Filmen und Dokumenten liegen auch noch lange Urheber- und Persönlichkeitsrechte, berichtet Archivar Thies. Das mache eine wissenschaftliche Auswertung und digitale Veröffentlichung bei so manchem Bestand noch länger schwierig bis unmöglich.
Umso wichtiger, die Dokumente, die allesamt aus der Zeit der industriellen Papierproduktion stammen und damit unter ihrem Säuregehalt leiden, jetzt so gut wie heute möglich zu sichern. Bei den Drehbüchern von Friedrich Wilhelm Murnau beispielsweise habe man die Konservierung nach Lehrbuch gemacht, berichtet Gerrit Thies. Alle Papiere wurden gesäubert und in säurefreie Kartons gebettet, fehlende Elemente soweit rekonstruierbar ergänzt. Manch ein Besucher stand dann aber schon mal enttäuscht vor dem in seine Bestandteile zerlegten Originalmanuskript: Geht um den Preis einer idealen Konservierung die Aura des Originals verloren? Wirkt das in seine Einzelbestandteile zerlegte, umfassend ergänzte Exemplar gar mehr wie eine Replik denn als Original? Wie kann man die authentische Atmosphäre des kreativen Schaffensprozesses vermitteln und trotzdem etwas für die Nachwelt retten? Gerrit Thies will das im Einzelfall immer wieder neu bewerten: Dass man hier zwei Drehpläne der Produktion Berlin Alexanderplatz – einer von Günter Lamprecht (*1930), dem Darsteller des Franz Biberkopf, der zweite von Produktionsleiter Harry Baer (*1947) – hatte, war ein Glücksfall. Lamprechts Exemplar ist pur und nahezu unbeschädigt, Harry Baers Drehplan wiederum zeugt von den enormen logistischen Anstrengungen, die für die über 15-stündige Miniserie des WDR zu bewältigen waren. Nicht zuletzt wegen des großen Formats wurde bei der Restaurierung, die von der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) finanziert wurde, Neuland betreten. Nachdem der Plan wieder plan war, konnte ein Teil davon in einem extra konstruierten Holzgestell auf einen atmungsaktiven Rahmen montiert werden, um Feuchtigkeitsschwankungen zu begegnen. Die Tesafilm- und Kreppklebungen konnten durch klebefreie Materialien ersetzt werden, ohne die Wirkung zu beeinträchtigen. Gerrit Thies ist sich sicher, dass der Drehplan der Literaturverfilmung nach Alfred Döblins Erfolgsroman ein begehrtes Ausstellungsobjekt, eine gefragte Leihgabe werden wird. Dafür ist der Drehplan von Fassbinders Fernseherfolg jetzt gut gerüstet.
Stiftung Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen
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