Fassung bewahren
In einer Sammlung mittelalterlicher Kunst, wie sie das Lübecker St. Annen-Museum besitzt, hat die Formulierung „Fassung bewahren“ einen tieferen Sinn. Viele Arbeiten müssen aufgrund von Personalmangel und beschränkten Finanzmitteln zurückgestellt werden, eine mitunter aufreibende Verzögerung, die den zuständigen Kollegen einiges an Nervenstärke abverlangt. „Fassung bewahren“ betrifft aber auch den Kern musealer Denkmalpflege, sind es doch gerade die Farbfassungen auf den mittelalterlichen Skulpturen, die den Restauratoren aufgrund ihres hohen Alters viel Arbeit und Kopfzerbrechen bereiten.
Umso erfreulicher sind die seltenen Gelegenheiten, bei denen derartige Arbeiten durch äußere Hilfe ermöglicht werden. In Arsprototo 3/2014 hatten wir uns mit dem Aufruf an Sie gewendet, uns bei der Restaurierung eines Reliefs zu unterstützen, auf dem die Anbetung der Heiligen Drei Könige dargestellt ist. Das Relief entstand um 1500 in einer unbekannten Werkstatt in den nördlichen Niederlanden und befand sich ursprünglich in der Predella, also dem Unterbau eines Altaraufsatzes, der für die Lübecker Jakobikirche bestimmt war. Von diesem Altaraufsatz hat sich als einziger Rest dieses Relief erhalten, Teil einer ursprünglich größeren Szene, die sich rechts an den in Anbetung knienden König anschloss. Die hohe künstlerische Qualität der Arbeit zeigt sich nicht zuletzt in der zu großen Teilen original erhaltenen Farbfassung. Sie hatte in weiten Bereichen den Kontakt zum Holz verloren und lag nur noch als lose und damit höchst gefährdete Schicht auf dem Relief auf. Mit Ihrer Hilfe ist es gelungen, diese Fassung zu sichern und das Relief wieder dauerhaft in der Ausstellung präsentieren zu können.
Neben seiner künstlerischen Qualität nimmt das kleine Fragment auch kunsthistorisch einen besonderen Stellenwert in Lübeck ein. Werke wie dieses stehen beispielhaft für eine heute aufgrund der Bilderstürme in den Niederlanden kaum noch nachweisbare Kunstform, die im europäischen Kontext eine nicht zu unterschätzende Bedeutung besaß. Dies gilt auch für das Lübecker Relief. Obwohl die Hansestadt um 1500 zu den bedeutendsten Kunstmetropolen im Ostseeraum gehörte, vergaben viele Lübecker Stifter ihre Aufträge an auswärtige, bevorzugt niederländische Werkstätten. Verantwortlich dafür war ein veränderter Zeitgeschmack, der es diesen Werkstätten ermöglichte, im Ostseeraum neue Märkte zu erschließen. Der bis dato von Lübeck dominierte Absatzmarkt geriet unter starken Druck und reagierte mit künstlerischen Veränderungen auf die Konkurrenz. Das Lübecker Relief steht beispielhaft für eine alles umwälzende Entwicklung. Die Darstellung einer über die gesamte Breite der Predella reichenden Szene war aus Lübecker Sicht völlig neuartig, wurde aber sofort von einheimischen Künstlern für ihre eigenen Werke übernommen. Das lässt sich an einem der teuersten Werke nachweisen, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Lübeck entstanden sind, dem 1512 fertig gestellten Hochaltarretabel der Marienkirche in Prenzlau. Der dort in der Predella dargestellten Anbetung der Könige diente das Lübecker Fragment als unmittelbares Vorbild, wie sich an der von seinem Pferd steigenden Figur des jüngsten Königs zeigt. Dass der Lübecker Bildschnitzer dabei seine künstlerischen Eigenarten durchaus bewahren konnte, lässt sich jetzt im St. Annen-Museum überprüfen. Beide Werke sind für einen begrenzten Zeitraum zusammen zu sehen, als Teil der Sonderausstellung „Lübeck 1500 – Kunstmetropole im Ostseeraum“, eine Gegenüberstellung, die nicht zuletzt durch Ihre großzügige Spende ermöglicht worden ist, für die wir uns herzlich bedanken möchten.