Familienaufstellung im Denkraum

Die Bildhauerin Isa Genzken (*1948) zählt heute zu den einflussreichsten Künstlerinnen und Künstlern ihrer Generation. Spätestens seit ihrer Retro­spektive im Museum of Modern Art in New York 2013 erfährt sie international höchstes Ansehen. Doch schon in den frühen 1970er-Jahren war sie im Kreis von Künstlern wie ihrem Lehrer Gerhard Richter (*1932) und Blinky Palermo (1943 –1977) und an der Seite des legendären Kunsthistorikers Benjamin Buchloh (*1941) maßgeblich daran beteiligt, in der von den Folgen des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust verunsicherten Kunstwelt Deutschlands eine neue Moderne zu schaffen; eine Moderne, die sich kritisch mit den Entwicklungen der „Neuen Welt“ USA wie Minimalismus, Konzeptkunst und Pop-Art sowie der Medien- und Alltagskultur Deutschlands auseinandersetzte. Mit beeindruckender Schaffenskraft hat die Künstlerin über mehrere Jahrzehnte hinweg eine eigenständige und unverwechselbare Bildsprache hervorgebracht, die sich unter dem Einfluss der in den späten 1980er-Jahren aufkommenden Technoszene und dem Boom der globalisierten Konsumkultur erneut grundlegend veränderte. Das Raumensemble „Schauspieler II, 8, 11, 12 und Untitled“ ist eines der Schlüsselwerke innerhalb der aktuellen künstlerischen Entwicklung von Isa Genzken. Sie besteht aus mehreren figürlichen Skulpturen: vier lebensgroße Schaufensterpuppen, die Genzken in dem für sie charakteristischen Collageprinzip mit ihren eigenen, abgetragenen und teilweise fetischhaften Kleidungsstücken sowie mit Arbeits- und Schutzbekleidung ausstattet und mit Deko-Materialien, Spiegelfolien und greller Sprühfarbe ergänzt. Hinzu kommen autobiografische Fotografien, die die Künstlerin selbst zeigen. Einige von diesen wurden von dem Künstler und Fotografen Wolfgang Tillmans (*1968) aufgenommen, mit dem Isa Genzken eine lange Künstlerfreundschaft verbindet. Das einende Element dieser figurativen Anordnung bildet dabei eine großformatige Bodenarbeit, die in Form von Farbabzügen zahlreiche kunsthistorische Referenzen von Albrecht Dürers Rosenkranzfest bis hin zu Ausschnitten aus Michelangelo Buonarrotis Fresko aus der Sixtinischen Kapelle reichen und wiederum mit weiteren Bild­materialien mit stark autobiografischem Charakter kombiniert werden. Die figür­lichen Skulpturen, die eine Frau, zwei Männer und ein Kind repräsentieren, sind um die Bodenarbeit herum inszeniert und bilden eine vielschichtige und spannungsreiche Anordnung von familiären Bezugspunkten mit unterschwellig sexuellen Konnotationen. Das bühnenhafte Tableau, in dem durchaus apokalyptische Endzeitszenarien anklingen, bezeugt Genzkens konsequente, kritische und selbstkritische Beschäftigung mit unserer gesellschaft­lichen Gegenwart. Vor allem die Kinder­figur, ausgestattet mit Football-Schutzhelm und orangefarbener Rettungsweste mit Reisepass, die das doppelbödige Treiben der „Erwachsenen“ beobachtet, spricht aktuelle Themen wie Missbrauch, Flucht und Überlebenskampf an.

Isa Genzken, Schauspieler II, 8, 11, 12, 2014, und Untitled, 2014; MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main; © VG Bild-Kunst, Bonn 2017 / Foto: Axel Schneider
Isa Genzken, Schauspieler II, 8, 11, 12, 2014, und Untitled, 2014; MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main; © VG Bild-Kunst, Bonn 2017 / Foto: Axel Schneider

Isa Genzken wurde 1948 in Bad Oldesloe geboren und studierte zunächst von 1969 bis 1971 an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg Malerei, anschließend bis 1973 Fotografie und Grafik an der Hochschule der Künste in Berlin und schließlich bis 1977 an der Düsseldorfer Kunstakademie als Meisterschülerin von Gerhard Richter. Heute lebt und arbeitet sie in Berlin.

Seit mehr als 30 Jahren bewegt sich Isa Genzken mit ihren Werken an der Schnittstelle von Skulptur, Architektur, Fotografie, Film, Malerei, Politik und Populärkultur. Sie hat ein vielschichtiges und komplexes Werk geschaffen, in dem unterschiedlichste Materialien Verwendung finden: Beton, Gips, diverse Harze und Holz, aber auch Kunststoff und Alltagsgegenstände. Genzken war auf der documenta 1982, 1992 und 2002 vertreten, hatte international beachtete Einzelausstellungen u. a. im Portikus Frankfurt (1992), in der Kunsthalle Zürich (2003) und der Wiener Secession (2006). Eine erste umfangreiche Werkschau fand 2009 im Museum Ludwig in Köln statt, gefolgt von der bereits erwähnten großen Retro­spektive im New Yorker Museum of Modern Art im Herbst 2013, die maßgeblich zum internationalen Renommee der Künstlerin beigetragen hat. Isa Genzken vertrat darüber hinaus Deutschland 2007 auf der Biennale in Venedig.

Mit großem Erfolg hat das MMK Museum für Moderne Kunst im Frühjahr 2015 die Ausstellung „Isa Genzken. New Works“ gezeigt. Die neue Werkgruppe mit dem Titel „Schauspieler“ ist unmittelbar nach der großen Retrospektive der Künstlerin im New Yorker Museum of Modern Art entstanden. Die „Schauspieler“ zeichnen sich durch einen autobiografischen Bezugs­rahmen und eine auffallend persönliche Perspektive aus, aus der die Künst­lerin soziale und gesellschaftliche Beziehungen kommentiert und den Betrachter unerwartet nah an sich heranlässt.

Man kann das Werkensemble von Isa Genzken auch wie ein dreidimensionales collagiertes Bild betrachten, in dem die unterschiedlichsten Materialien verwendet und in einen neuen inhaltlichen Zusammenhang gesetzt werden. Isa Genzken reißt die tradierte Grenze zwischen Malerei und Skulptur ein und holt zugleich die Wirklichkeit in die Kunst. Ebenso erweitert sie ihre Arbeit in den realen Ausstellungsraum durch die ausgelegte großformatige Bodenarbeit und die darum herum platzierten skulpturalen Elemente.

Dabei  wird  überdeutlich,  wie  Isa Genzken, die selbst in ihrem Frühwerk Ende der 1970er-Jahre an die Minimal Art anknüpft, mit  den  als  absolut  gesetzten Prinzipien eines Donald Judd oder Carl Andre radikal bricht. Geht es Judd noch um den Ausschluss des Transzendentalen und Illusionären aus der Kunst, führt Genzken über die Verwendung von persönlicher Kleidung, Deko-Materialien und Alltagsgegenständen wie Schutzhelm und Rettungsweste eine explizit politische und (zeit-)kritische Ebene ein, die auf ein Außen verweist und dem Betrachter nicht nur den realen Raum zum Betreten überlässt, sondern auch einen Denkraum, der über die einzelnen Bestandteile der Raumskulptur hinausweist. Ähnlich der klas­sischen Bodenplattenarbeiten von Carl Andre ist auch bei Isa Genzken die Partizipation des Betrachters mitgedacht und das Betreten und das Durchschreiten des von der Installation definierten Ausstellungs­raumes möglich und erwünscht.

Förderer dieser Erwerbung: Kulturstiftung der Länder, Hessische Kulturstiftung, MMK Partner, private Förderer des MMK