Ein Wohnzimmer in Schweden. Über einer Anrichte hängt Jakob Philipp Hackerts zarte Tuschpinselzeichnung „Auf Hiddensee“ von 1764. Sie hängt dort noch gar nicht so lange: Achtzig Jahre hatte sie sich in der Sammlung des Kupferstichkabinetts befunden, bis die Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) das Werk 2019 an die Erben des jüdischen Kaufmanns Friedrich Guttsmann restituierte. Er hatte es vor seiner Flucht unter Druck verkauft. Ein Fall von Tausenden, die den Kunstraub der Nazis in ganz Europa beschreiben. Fast achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist dieses monströse Verbrechen keineswegs aufgearbeitet. 200.000 Werke wurden in Deutschland und Österreich geraubt, 600.000 sind es wohl europaweit. Zahlen, hinter denen immer Schicksale stehen. Die Restitution der Hackert-Zeichnung hat der Familie von Friedrich Guttsmann nicht nur ein Werk zurückgebracht, sondern auch ein Stück verlorener Würde. Darum geht es, wenn Museen, Bibliotheken und Archive erlittenes Unrecht rückgängig machen wollen. Unsere Reihe „Kunst, Raub, Rückgabe – Vergessene Lebensgeschichten“, die wir gemeinsam mit den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, dem Rundfunk Berlin-Brandenburg und dem Bayerischen Rundfunk – unterstützt von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) – gestartet haben, erzählt genau davon. Von den Menschen, ihren Lebenswegen, ihrer Liebe zur Kunst und den Tragödien, die sie erleben mussten und die hinter den Aktenvermerken stecken. Wir wollen noch viele dieser Geschichten erzählen. Denn: Die Nazis raubten nicht nur Kunst, sie raubten auch Seelen. So einfach ist das.
Wenn wir jetzt auf 25 Jahre Washingtoner Konferenz zurückblicken, die die Grundlagen für die Aufarbeitung legte, der sich öffentliche Kultureinrichtungen seither verpflichtet fühlen, dann lässt sich konstatieren, dass es in dieser Zeit gelungen ist, vielfach „faire und gerechte Lösungen“ zu finden. Die sprichwörtlich gewordene Formulierung markiert den Anspruch, in gutem Einvernehmen mit den Nachfahren nach einer Einigung zu suchen. Damit ist nicht gesagt, dass dies manchmal auch mit schwierigen Gesprächen einherging. Die SPK hat in dieser Zeit über 350 Kunstwerke und mehr als 2.000 Bücher zurückgegeben. Einige Werke konnten für die Sammlungen zurückgekauft werden oder wurden sogar als Dauerleihgaben überlassen. Den Provenienzforscherinnen und -forschern, den Juristinnen und Juristen in unserem Hause ging es in ihrer Arbeit immer um Transparenz und Klarheit. Auch wenn das manchmal anders behauptet wurde. Für mich als Präsidenten gilt: Was nicht rechtmäßig erworben wurde, kann in unseren Sammlungen nicht verbleiben. Verantwortung für das geschehene Unrecht zu übernehmen, bedeutet eben auch, Recht am Eigentum wiederherzustellen. So bitter das auch manchmal für eine öffentliche Sammlung sein mag.
Um die Washingtoner Prinzipien auch für die Bundesrepublik Deutschland umzusetzen, entschlossen sich der Bund, die Länder und die Kommunalen Spitzenverbände, bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz eine Arbeitsstelle für Provenienzforschung (AfP) einzurichten, um gerade diesen Bereich in Deutschland zu fördern, zu stärken und zu systematisieren.
Von einem engagierten Team unter der Leitung von Dr. Uwe Hartmann wurde in der Arbeitsstelle ab 2008 die Provenienzforschung und Restitutionspraxis deutschlandweit vernetzt und koordiniert. Außerdem wurden Fördermittel für Forschungsprojekte vergeben. Die Mittel kamen vom Bund aus dem Ressorthaushalt des BKM, die Kosten der Arbeitsstelle selbst übernahm die Kulturstiftung der Länder. Die Mittel standen ausschließlich für Nachforschungen zum Verbleib von Kunstwerken und anderen Kulturgütern zur Verfügung, die infolge der NS-Herrschaft ihren rechtmäßigen Eigentümern entzogen wurden und in öffentliche Sammlungen in Deutschland gelangt waren. Schon im ersten Jahr ihres Bestehens wurden die neuen Fördermöglichkeiten intensiv in Anspruch genommen. Die organisatorisch bis zum Jahresende 2014 bei der SPK angegliederte Arbeitsstelle wurde zum 1. Januar 2015 in das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg überführt. Sie hat einen ganz wesentlichen und wichtigen Beitrag zur Institutionalisierung der Provenienzforschung und zur Verstetigung der Forschungsergebnisse geleistet, den das DZK seitdem fortführt und ausbaut.
Wer die Ergebnisse des Washington-Prozesses in Deutschland bewerten will, darf also nicht nur auf die Bilanz der Beratenden Kommission schauen. Diese Schiedsstelle wird ja nur angerufen, wenn die Parteien nicht zueinanderkommen. Und da sind doch die 22 Befassungen als Bilanz gar nicht so schlecht, zeigen sie doch, dass es in der Mehrzahl der Fälle gelungen ist, sich außerhalb der Kommission zu einigen. Gleichwohl muss die Reform dieses Gremiums jetzt auch wirklich umgesetzt werden. Dazu gehört, dass die Nachfahren der Opferfamilien die Beratende Kommission einseitig anrufen können, wenn die Einigung nicht gelingt. Denn es darf nicht sein, dass die Nachfahren gerade in diesen besonders schwierigen Konstellationen auf die Mitwirkung der heutigen Eigentümer angewiesen sind. Die Erfahrung lehrt aber, dass es richtig bleibt, vorher eine Einigung zwischen Antragsteller und Kultureinrichtung zu suchen.
Aber wie oft passiert es tatsächlich, dass sich eine öffentliche Einrichtung dem Gang vor die Kommission verweigert? Ich denke, dass dies nicht das Haupthindernis ist, wenn es um die Aufarbeitung des NS-Unrechts geht. Viel schwerer wiegt zum Beispiel, dass private Besitzer von geraubter Kunst sich immer noch in großer Zahl der Aufklärung entziehen. Das kann nicht sein, denn bei diesem Thema ist die gesamte Gesellschaft gefordert, nicht nur der öffentliche Kulturbetrieb. Geraubte Werke befinden sich längst nicht nur in Museen oder Bibliotheken. Natürlich lassen sich Privateigentümer nicht gegen ihren Willen vor die Beratende Kommission zwingen, aber eine neue gesetzliche Grundlage könnte hier durchaus Abhilfe schaffen.
Die Provenienzforschung und die damit verbundene Restitutionspolitik in den öffentlich geförderten Kultureinrichtungen ist Alltag geworden. Für die SPK lässt sich sagen, dass gerade das Fortschreiten der systematischen Aufarbeitung der Bestände die Stiftung inzwischen immer öfter in die Lage versetzt, selbst die Erben zu ermitteln und proaktiv das Gespräch mit ihnen zu suchen oder durch eine Publikation die Rechercheergebnisse öffentlich zu machen und Gesprächsbereitschaft zu signalisieren. Das Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin spielt hierbei eine wichtige Rolle. Freilich bräuchten wir alle mehr Stellen und auch mehr akademischen Nachwuchs, um schneller zu sein. Die Verankerung der Provenienzforschung in die Lehre ist auf gutem Wege, hat aber noch deutlichen Entwicklungsbedarf. Hinzu kommt, dass viele Provenienzforscherinnen und -forscher lediglich zeitlich befristete Projektstellen innehaben. Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung, dass wir diese Expertise langfristig für die Kultureinrichtungen durch die Einrichtung von Dauerstellen sichern. Die Aufarbeitung des NS-Unrechts wird uns noch lange beschäftigen.
Hinzu kommt, dass die Forschung vor immer komplexeren Fällen steht. Auch deshalb sind die Nachwuchs-Frage und die Sicherung des Wissens so bedeutend. Ging es nach der Washingtoner Konferenz vor allem um sogenannte Beschlagnahmefälle, haben wir es jetzt häufig mit immer komplexeren Verkäufen zu tun. Viele Fälle drehen sich um wirtschaftliche Notlagen, dramatische Lebenssituationen, Verkäufe unter Zwang. Wie diese zu bewerten sind, was es vielleicht noch braucht, um die Aufarbeitung neu zu akzentuieren, könnte Thema einer Folgekonferenz sein.
Der Umgang mit NS-Raubkunst zeigt, dass wir Forschung, Rückgaben und Erinnerungskultur miteinander verbinden müssen. Mir liegt vor allem an der Vermittlungsarbeit in den Schulen, die deutlich intensiviert werden muss. Es geht darum, zu zeigen, wie vital und vielfältig jüdisches Leben in Deutschland einst war. Und wie sehr das Kulturland Deutschland davon geprägt war. Was wir tun, ist nicht nur der Weg Unrecht wieder in Recht zu verwandeln, es ist auch ein Weg, dem Antisemitismus in jeder nur denkbaren Ausprägung zu begegnen. Heute ist das wichtiger denn je.