Erinnerungsstücke
Liebe Leserinnen und Leser,
gehören Sie auch zu den Menschen, die am Ufer des Meers die Welt vergessen können, weil sie, den Blick stets nach unten gerichtet, auf einer Schatzsuche nach Muscheln, Steinen und anderem Strandgut sind? Scheint es nicht so, als könnten wir durch diese Souvenirs einen Teil des Lichts, der Wellen, der Leichtigkeit in unseren Alltag retten, als wohne den Dingen die Kraft inne, uns in eine andere Zeit, an einen anderen Ort zu versetzen? Ebenso wie eine Melodie oder ein Duft können Gegenstände tatsächlich sinnfällige Impulsgeber für unsere Erinnerung sein, sie wecken vergessen geglaubte Bilder oder befreien ein Gefühl, das wir in sicherer Verwahrung wähnten. Nichts anderes bezeichnet das französische Wort souvenir, das von dem lateinischen Verb subvenire, „zu Hilfe kommen; in die Gedanken kommen, einfallen“, abgeleitet ist.
Das Verhältnis zwischen Dingen und Erinnerungen ist jedoch kein stabiles. Auch dies wissen wir aus eigener Erfahrung: Aus einstmals lebendigen Bildern können Fragmente werden, aus starken Empfindungen eine unbestimmte Ahnung. Manchmal rufen Dinge auch gar keine unmittelbare Erinnerung mehr hervor, weil die Erinnerung verdrängt wurde, andere Erzählungen sie überlagern oder weil die Menschen, die einmal Träger dieser Erinnerung waren, nicht mehr leben. Wer verstanden hat, wie flüchtig die Bindung von Erinnerungen an Dinge wirklich ist, versteht auch, dass gerade kulturerhaltende Einrichtungen wie Museen, Bibliotheken und Archive eben keine „Gedächtnisinstitutionen“ im Sinne von Hütern eines den Dingen dauerhaft und unverändert innewohnenden Erinnerungspotentials sind. Vielmehr gestalten sie die Geschichten, die sie über das ihnen anvertraute Kulturgut erzählen, maßgeblich selbst. Damit tragen kulturerhaltende Einrichtungen eine große Verantwortung für die gesellschaftliche Erinnerungskultur insgesamt.
Die Schwerpunktthemen dieser Ausgabe von Arsprototo greifen diesen Gedanken auf und beleuchten aus unterschiedlichen Winkeln die erinnerungspolitische Dimension von Kunst und Kultur. Im Schwerpunkt „Koloniale Kontexte“ (S. 18 – 41) spannen die Beiträge einen weiten Bogen von den Umständen der Aneignung entsprechender Kulturgüter im 19. und frühen 20. Jahrhundert über deren Rückführung in heutiger Zeit bis hin zur ambivalenten Rolle von Museen als „Akteure des Vergessens“.
Um einen Kampf gegen das Vergessen geht es auch im Schwerpunkt „Künstlernachlässe“ (S. 58 –71), mit dem die Kulturstiftung der Länder ihr langjähriges Engagement auf diesem Gebiet wieder aufgreift, um vorbildliche Initiativen in den Ländern zu porträtieren. Anlass war das erste „Berliner Kulturfrühstück“ im Februar dieses Jahres, das auf Initiative der Kulturstiftung der Länder und auf Einladung des Freistaates Sachsen in der sächsischen Landesvertretung in Berlin stattfand und Modellen für die Bewahrung von Künstlernachlässen gewidmet war.
Ein Erinnerungsstück ganz eigener Art legt Bernhard Schulz vor, der auf 30 Jahre Kulturstiftung der Länder zurückblickt und attestiert, dass in dieser Zeit „der schützende Schatten, den die Stiftung wirft, der einer prachtvollen Baumkrone geworden ist“ (S. 90 –97).
Wie bisher unterrichten wir Sie natürlich auch in dieser Ausgabe von Arsprototo ausführlich über spektakuläre Erwerbungen für Einrichtungen in Deutschland, die mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder realisiert werden konnten, sowie über Highlights unserer Ausstellungs- und Restaurierungsförderung. Erstmals in Arsprototo können wir Ihnen auch in knapper, transparenter Form Zahlen und Fakten zu den Aktivitäten der Kulturstiftung der Länder im Jahr 2018 präsentieren – die Bilanz unseres Engagements für Kunst und Kultur in Deutschland kann sich sehen lassen!
Für alle diejenigen von Ihnen, die zu bestimmten Themen noch mehr wissen wollen, ein Tipp zum Schluss: Unter vielen Beiträgen in diesem Heft finden Sie einen optischen Code, mit dessen Hilfe Sie auf unsere Angebote im Internet zugreifen können, darunter Videoaufzeichnungen von unseren Veranstaltungen, Podcasts zu herausragenden Erwerbungen oder unsere Bildergalerie auf Instagram. Versuchen Sie es, es lohnt sich!
Ihr Markus Hilgert