Entfesselte Antike

Zwischen Ekstase und Exzess schwankend, über eine üppig blühende Frühlingswiese tanzend, zelebrieren Nackte auf dem Ölgemälde Lovis Corinths (1858–1925) das „Bacchanale“ zu Ehren des antiken Weingottes. Seine Anhängerinnen, die sogenannten Mänaden, huldigten Bacchus in rauschenden Festen. Dessen eigene Teilnahme stellte dabei keine Voraussetzung, doch stets eine Möglichkeit dar. Als alter, untersetzter Mann könnte er es sein, der im Werk des deutschen Impressionisten eine entblößte Frau mit seiner Rechten packt. Oder ist es Silenos, sein Erzieher und treuer Begleiter der Mänaden, der nach der Unbekleideten greift, deren wehendes Haar die stürmische Bewegung verbildlicht? Die doppeldeutige Ikonografie des rotgesichtigen, efeubehangenen Nackten verschleiert seine Identität. Anders bei der Figur im Vordergrund: Die Augen verdreht, liegt mit erschlafftem Körper Pentheus im Blumenmeer. Der Dichter Euripides (480–406 v. Chr.) berichtet in seinem Drama „Die Bakchen“ davon, wie der Weingott den bereits verblendeten Pentheus anstiftet, als Mänade verkleidet die göttlichen Anhängerinnen zu belauschen. Schnell entlarvt, fällt der junge Mann dem bacchantischen Rausch seiner eigenen Mutter und seiner Tanten zum Opfer: Wie im Bild stemmt die Mutter im antiken Drama ihren Fuß in die Rippen des Sohnes, ergreift seinen linken Arm, um ihn auszureißen. Lust und Gewalt, das zeigt auch Corinths repräsentatives Großformat, liegen im Bacchus-Kult nah beisammen: Rechts im Bild nötigt ein dunkelhäutiger Satyr mit blutunterlaufenen Augen unter zorngerunzelter Stirn eine Nackte zum Kuss, links davon zerrt der Alte an der Entrückten, im Vordergrund holt die Mutter des Pentheus freudestrahlend mit der Rute aus.

Lovis Corinth, Bacchanale, 1896, 117 × 204 cm; Landesmuseum Hannover; © Landesmuseum Hannover
Lovis Corinth, Bacchanale, 1896, 117 × 204 cm; Landesmuseum Hannover; © Landesmuseum Hannover

Die bacchantische Bildwelt – seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. überliefert und seit Beginn der Renaissance andauernd rezipiert – nimmt eine herausragende Stellung im Werk des Sezessionisten Corinth ein: Seit den 1890er-Jahren inszenierte er das Sujet in diversen Medien und trat darin manchmal selbst als zentrale Gottheit auf. Begeisterten sich seine wilhelminischen Zeitgenossen zwar für die mythologische Erzählung und seine neobarocken Formen, entsprach doch zumindest die in München entstandene Version von 1896 nicht ihren Moralvorstellungen. In Öl brachte der Maler das augenscheinlich triebgesteuerte Geschehen des „Bacchanale“ mit besonderer Intensität und ironischer Übertreibung auf die Leinwand; eine Ausstellung in der Münchner Sezession, deren Gründungsmitglied er war, blieb ihm damit verwehrt. In der bayerischen Landeshauptstadt hielt sich der international ausgebildete Künstler von 1891 bis 1901 auf, nachdem er bereits in der vorangegangenen Dekade die dortige Akademie besucht hatte. Als ihn Max Liebermann gemeinsam mit Max Slevogt Anfang des 20. Jahrhunderts nach Berlin und in die Sezession der preußischen Stadt rief, verließ Corinth München gen Norden. Dank der Geschäftstüchtigkeit des Galeristen Paul Cassirer, der die Maler als „Dreigestirn des deutschen Impressionismus“ etablierte, konnte Corinth in Berlin bis an sein Lebensende 1925 erfolgreich als Künstler leben.

Mit dem Erwerb des Gemäldes durch das Landesmuseum Hannover reiht sich das „Bacchanale“ nun in eine der umfangreichsten Corinth-Sammlungen ein. Zum Verkauf angeboten hatten es die Erben des als Juden verfolgten Berliner Unternehmers Alfred Michaelis Salomon (1878–1945), an die das Werk 2016 restituiert worden war. Unter dem Druck der nationalsozialistischen Verfolgung und in Vorbereitung auf das Exil war Salomon 1936 gezwungen, seine Besitztümer zu versteigern. Auch Corinths Gemälde kam am 11. bzw. 12. März in „Rudolph Lepke’s Kunst-Auctions-Haus“ unter den Hammer. Im Jahr darauf gelang der Familie Salomon die Emigration, doch infolge der Besetzung der Niederlande im Mai 1940 wurden sie verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Am 1. Februar 1945 starb Alfred Michaelis Salomon im KZ Bergen-Belsen, seine Kinder wurden in Auschwitz ermordet. Von der Kölner Galerie Czwiklitzer erstand schließlich das Kunstmuseum Gelsenkirchen 1957 das Corinth-Gemälde. An dieses wandten sich 2010 die Erben des ursprünglichen Besitzers. Auf die von Stadt und Erben erbetene Empfehlung der „Beratenden Kommission für die Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter, insbesondere aus jüdischem Besitz“ hin erfolgte die Restitution. Nun konnte das bildmächtige Werk mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, der Ernst von Siemens Kunststiftung, dem Förderkreis der Landesgalerie, den Kunstfreunden der Landesgalerie sowie der RHH-Stiftung für die Öffentlichkeit gesichert werden.