Um den Humandefinitionen eine weitere hinzuzufügen, kann man sagen, der Mensch ist ein Landlebewesen, das Landschaften herstellt. Obwohl mehr als 70 Prozent der Oberfläche unseres Planeten aus Wasser bestehen, wird er Erde – Terre, Earth, Terra – genannt. Synonyme für Erde sind Grund, Boden, Land. Darauf fußt die Vielfalt menschlicher Lebensformen.
Ja, der Mensch ist ein Landlebewesen, das Landschaften herstellt. Das gilt in einem strikten Sinn allerdings erst seit einer Zeit vor ungefähr 12.000 Jahren, dem Beginn des Neolithikums, das sich durch Einwanderung aus dem Nahen Osten vor etwa 7.500 Jahren auch in Zentraleuropa verbreitete. Zuvor hielten sich Menschen zumeist in kleinen Gruppen in Naturräumen auf, aus denen sie das zum Leben Notwendige gewannen. Mit der neolithischen Revolution änderte sich das Daseinsmuster der Menschen grundlegend und, wie sich gezeigt hat, unumkehrbar.
Seither begannen sie, anstatt in der vorgefundenen, naturgegebenen Umgebung zu leben, diese Welt zu verändern. Sie wirken durch ihre Intelligenz und ihre Körper auf sie ein. Dabei verrichten sie im eigentlichen Sinn Arbeit. Der Mensch als Arbeiter, der sich vom Sammeln und Jagen löst, erzeugt eine Wirklichkeit, die nicht naturgegeben sondern künstlich ist. Ein menschengemachtes Eigenprodukt, in dem es eine wachsende Zahl an materiellen Gütern und Artefakten gibt.
Wie es vor dem Hintergrund heutiger Forschungen aussieht, war es ein folgenschwerer Klimawandel, der diese dramatische Änderung in der menschlichen Lebensweise auslöste. Als vor 12.000 Jahren durch eine klimatische Veränderung großflächig Wälder sich auszubreiten begannen, reagierten bestimmte Populationen – es gab damals ungefähr zwei Millionen Menschen weltweit – darauf, indem sie diese neue, ihren Lebensraum bedrohende Vegetation beseitigten. Man reißt aus, rodet und verbrennt oder fällt Bäume, um den Boden für das Pflanzen zu bereiten und mit dem Pflanzen eine aufmerksame, ortsansässige Praxis des Pflegens zu kultivieren. Kultur als Arbeit des Ausreißens und des Einpflanzens erweist sich damit von Anfang an als dekonstruktiv. Sie zerstört einen natürlichen und sie gestaltet einen kulturellen Raum. Auf diese Weise bewirkt sie eine tiefgreifende Transformation der bestehenden Welt und Wirklichkeit.
Mit der Agrikultur neolithischer Bevölkerungsgruppen setzt sich ein Prozess in Gang, der in seinen Grundzügen erst vor wenigen Jahrzehnten zu Ende kam. Denn über Jahrtausende hinweg bildeten Kulturen ihre Naturräume dergestalt um, dass daraus etwas entstand, was ich integrale Landschaften nenne. In ihnen waren 90 Prozent der Bevölkerung an der Gestaltung von Landschaft beteiligt – in Form bäuerlicher Lebensweisen. In der integralen Landschaft besteht ein zwischen sozialen Einheiten, politischen Strukturen und naturräumlichen Bedingungen langsam gewachsenes Lebensgefüge. Insgesamt ist sie ein miteinander geteilter, mitgeteilter – ein symbiotischer – Lebenszusammenhang, worin sich auch Nichtmenschliches preisgibt, Tiere, Pflanzen, Bodenbeschaffenheit oder klimatische Eigenheiten. Mit diesem Bezogenheitsethos stellt die integrale Landschaft von Anfang an eine politische Sache dar, eine Angelegenheit der Gemeinschaft, der Gemeinde. Integrale Landschaften beruhen auf einer Ethik der Mitlebewesen, in die sich Menschen eingefügt wissen und die sie in einem rücksichtsvollen, klugen, für die Zukunft tragfähigen Zusammenspiel kultivieren.
Anders als Natur, die idealerweise als ein eigenständiges An-Sich gedacht wurde – für Hegel war sie das „Anderssein“ schlechthin –, ist Landschaft ein Bezugssystem von natural-sozialen Beziehungen. Landschaft impliziert den Menschen, und gleichzeitig wohnt die Landschaft Menschen inne. Diese räumliche Implikation bezeichnet ihre grundlegende Verbundenheit. Wie der Körper die Landschaft durchdringt und formt, durchdringt die kultivierte Landschaft den Körper, indem sie seine Wahrnehmungen und Gesten formt. Man musste sich bücken, um Ähren zu lesen oder Stecklinge zu pflanzen, und – ich tat selbst das noch in meiner Kindheit neben der Bauerngroßmutter – sich hinknien, um stundenlang Kartoffeln vom Feld zu sammeln. Gesten, die im sakralen Raum ritueller Ehrfurcht wiederkehrten.
Halten wir also fest: Die Lebenswelt der Kultur zeichnet sich durch eine gestaltete und gebaute, der Natur entrissene Umwelt aus. Sie existiert überall dort, wo Felder bestellt werden, Menschen in Jurten, Trullos oder Koten wohnen, wo man Wegesysteme anlegt oder sakrale Plätze einrichtet. Diese Ökologie der Kultur – die nicht mit einer Ökologie der Natur gleichzusetzen ist – muss als vernichtend und kreativ zugleich angesehen werden.
Cultura meint im Lateinischen exakt Bodenbearbeitung und Anpflanzung. Aber es kommen im Laufe der Zeit andere Bedeutungen hinzu, die uns zeigen, dass es dabei um ein umfassendes gemeinsames Lebenssystem geht: Cultura ist nämlich auch Bildung, Gesittung (Lebensform) und religiöse Verehrung (cultus). Das festzustellen lenkt unseren Blick neben dem bebauten Boden unmittelbar auf den gebauten Raum, auf die Stadt als Gegenpol der Agrarlandschaft. Zusammen formen sie die uns bekannte und inzwischen global dominierende Kultur.
Weil Bildung, diverse Lebensstile sowie Religion traditionell vor allem in Städten ihren Platz haben, gelten sie gemeinhin als kulturelle Zentren. Allerdings könnten sie es nicht sein, ohne dass sie mediale Macht ausüben. Denn Stadt und Schrift, das möchte ich als Schriftsteller hier hervorheben, gehören zusammen. Als Ursache für die Stadtentstehung gelten Wasservorkommen, Verkehrswege, Festungen, Märkte und Heiligtümer. Aber es lässt sich kaum vorstellen, dass die enorme Ansammlung von Menschen und deren Lebensverfestigung in Architektur über amorphe und zeitlich begrenzte Siedlungen hinausgelangt wäre ohne Schrift. Das meint: ohne symbolisches Medium, das Verwaltung, Überlieferung, Unterschiede der Arbeit und des Könnens, vor allem aber wirtschaftliches Handeln vermittelte.
Die ältesten uns bekannten Städte, Byblos, Ugarit, Uruk oder Babylon, waren Zentren der Schriftentwicklung, von Schriftverkehr und Schriftsammlungen. Die Stadt erweist sich seit je als Stätte sonderbarer Zeichen, welche Sprache von den sie sprechenden Körpern löste und Zeit und Raum auf eine andere Weise überwindbar machten, als es die menschliche Physis vermochte. Eine Sprache absenter Körper. Zeichen, die den Tod überwanden, indem sie ihn überdauerten. Eine Errungenschaft von solch kulturbildender Kraft lag darin, dass sie nicht nur niemals mehr aufgegeben wurde, sondern für Zivilisation selbst stehen und sämtliche mediengeschichtlichen Umbrüche und Erfindungen leicht überleben konnte. Der urbane Anfang hält die Verbundenheit mit der heutigen Medien- und Metropolenkultur bereit.
Wenn von Kultur die Rede ist, muss man daran erinnern, dass von einem Produktionssystem (mit anhängender Warenwirtschaft), Mediensystem (urbane Schrift) und Glaubenssystem (cultus) die Rede ist. Zusammen stellen sie tragende Säulen der Kultur dar. Insoweit dadurch automatisch Stadtkulturen in den Mittelpunkt gerückt werden, entfaltet nun in der Moderne aber ein Aspekt seine durchschlagende Wirkkraft, der uns heute immense Probleme bereitet, und zu einem unheilvollen Gegensatz von Stadt und Landschaft, Natur und Kultur führt. In der Moderne nämlich entspringt aufgrund der gewaltigen Urbanisierung und den entsprechend wachsenden Bedürfnissen von Städten ein ungeheurer Druck auf die Landschaften.
In zunehmendem Maße nämlich fungiert Landschaft als technische Infrastruktur der Stadt. Stromtrassen, Photovoltaikanlagen, Pipelines, Wasserversorgung, Kommunikationsnetzwerke oder Serverparks führen uns diese Technosphäre beständig vor Augen. Gleichzeitig änderte sich kaum etwas an der versorgerischen Infrastruktur. Seit der Gründung erster mesopotamischer Städte vor mehreren Jahrtausenden hat sich nichts an ihrer wesentlichen Voraussetzung verändert: einer die Zentren mit möglichst schmackhaften, hochwertigen Nahrungsmitteln versorgenden Landwirtschaft. Ausgehend von urbanen Logiken des preiswerten, fülligen Wohlstands entfaltet sich, im Verbund mit ökonomischer Wachstumsideologie, ein räumlicher Imperialismus, der mit harter Hand über Landschaften hinweggeht und sie sich im Interesse von Produktionsmaximierung und Kapitalerwirtschaftung unterwirft. Insgesamt führt diese urbane Abhängigkeit, welche die vormals kultivierte Natur rücksichtslos in Dienst nimmt, zum ausbeuterischen Missbrauch von Landschaften, auf deren vorläufigem Höhepunkt wir uns jetzt befinden. Dieser Höhepunkt markiert eine Wasserscheide im großen entwicklungsgeschichtlichen Muster von Natur und Kultur. Denn zwischen den integralen Landschaften, die in Europa weitgehend der Vergangenheit angehören, und den hegemonialen Landschaften unserer Gegenwart klafft ein zivilisatorischer Sprung.
In den von mir so bezeichneten hegemonialen Landschaften wird dem Nichtmenschlichen – Tieren, Pflanzen, Böden – nämlich nicht länger mit Dialog, sondern mit Befehl begegnet. Es gibt darin keine horizontale natural-soziale Wechselbeziehung mehr, sondern ausschließlich hierarchische Bestimmungen. Hegemoniale Landschaften wandeln Naturräume in die Rationalitätsform von Effizienz und Produktivität um, um sie damit derjenigen einer Industriegesellschaft anzugleichen, welche Ertrag, Zeitaufwand und Investition genau berechnet. Dieser funktionalen, formalisierten und maximal effizienten Landschaft sieht man sofort an, dass sich darin ökonomische Macht abbildet. Sie eliminiert und zerstört, was dieser Macht, nämlich der gewinngetriebenen Beherrschung von Landschaften, zuwiderläuft. Den Weg zur intensivwirtschaftlichen, agroindustriellen Kultur zu beschreiten, bedeutete, die Geste der Beherrschung übermächtig werden zu lassen. In hegemonialen Landschaften gilt demnach, was der französische Denker Buffon am Anfang der Moderne so formuliert: Der Mensch „befiehlt allen Geschöpfen“, um „eine neue Natur“ zu schaffen und aus uns Menschen damit, wie Descartes Vorgabe lautete, „Herren und Besitzer der Natur“ zu machen.
Der Faktor Zeit und Raum erwies sich für integrale Landschaften einst als fundamental, indem dort eine Veränderungsgeschwindigkeit vorherrschte, die es Pflanzen und Lebewesen ermöglichte, sich anzupassen und die ihnen zudem Freiräume bot, in die sie ausweichen konnten. Beides verändert sich in hegemonialen Landschaften dramatisch. In Deutschland gibt es gegenwärtig gerade mal 0,6 Prozent sogenannter Wildnis. Darüber hinaus sehen sich Landschaften einer techno-chemischen Innovationsbeschleunigung ausgesetzt, mit der kein Lebewesen, ob Tier oder Pflanze, mithalten kann, mit der Folge, dass sie verschwinden. Und wir wissen inzwischen: Im Prozess der Kultivierung von Naturräumen und der modernen Urbanisierung von Kulturlandschaften werden in aller Regel 90 Prozent der ursprünglich dort lebenden Organismen vernichtet. Das aktuelle Artensterben ist ein nicht wiedergutzumachendes Desaster.
Der Schatten des Menschen fällt heute auf jede noch so entlegene Landschaft des Erdballs. Dabei haben wir uns, so scheint es, in der Mehrzahl daran gewöhnt, Landschaft in zwei Bereiche aufzutrennen: einerseits in einen Erlebnisraum, worin Landschaften als sentimentale Auffanglager und Wellnessbereiche für Zivilisationsmüde bereitgehalten werden und Idyllen ästhetische Relaxanzien für den gestressten Psychohaushalt abgeben; zum anderen in einen Benutzungsraum, den wir ausplündern und aus dem wir so viel Kapital schlagen wie möglich. In bizarrer Parallelität liegen Landschaften mit agrarindustrieller Intensivnutzung und landschaftliche Tourismuskulissen mit Erholungswert unmittelbar nebeneinander. Die Schizophrenie ist offensichtlich.
Was also tun? An vorderster Stelle halte ich es für unumgänglich, eine wirksame und universelle Landschaftspolitik voranzubringen, durch die neuartige, balancierte Kulturlandschaften entstehen. Das verlangt nach einer radikalen Verringerung des Landschaftstempos, womit biologische Gleichgewichte wieder ermöglicht und natürliche Räume in einer bewegten Ruhe gehalten werden, deren Verschiebungen in Zeiträumen vonstattengehen, welche Lebewesen die nötigen Modifikationen und Adaptionen erlauben.
Zudem werden wir nicht länger darum herumkommen, in die Landschaft das angespannte Beziehungsgefüge von Stadt und Land mit einzutragen, eine stärker ortsgebundene Lebensweise und ein verbindliches Gefühl der Zuständigkeit für den Raum zu entwickeln, in dem man lebt. Es wird Zeit, dass wir uns von der Vorstellung verabschieden, Landschaften begännen am Rand von Städten. Sie beginnen in der Stadt, in jeder Wohnung, jedem Büro. Vielleicht ist heute der Zeitpunkt gekommen, wo zunehmend mehr Menschen das erkennen.
Sofern eine wachsende Zahl von Bürgern und Politikern bereit ist zu erkennen, dass neue, ausgewogene Kulturlandschaften tatsächlich kostbare Lebensgemeinschaften und Lebensgüter in einem umgreifenden Sinn darstellen, werden sie zwangsläufig zum Schauplatz einer Revolution, die aus ihnen selbst – aus den Böden, Pflanzen, Tieren, der Luft und Gewässern – hervorgeht: die Revolution der menschlichen Lebensweise.
Damit stellen sich an jeden von uns nicht zuletzt Fragen nach anderen Konsumstilen und einer anspruchsvollen Genügsamkeit, der das „Immer mehr“ nicht gut genug ist. Und es legt nahe, über veränderte Formen der landschaftsnutzenden Wirtschaft nachzudenken, die von rechtlichen Regelungen, der Umsteuerung durch Anreize und institutionelle Direktiven bis zu gesellschaftlichen Beteiligungen reichen können, mit denen sich das Modell der Allmende, des gemeinschaftlichen Landschaftseigentums, mit frischem Leben erfüllen lässt. Landschaft als natural-kulturelles und gut ausbalanciertes Beziehungsgefüge aufzufassen, schließt die Aufmerksamkeit für jene vielfältige Gegenseitigkeit notwendig ein, die sich in erheblichem Maß auf Verhältnisse von Macht und Autonomie auswirkt.
In einem wechselwirkenden System ist selbstbestimmt nur, wer unter Beachtung von Existenzinteressen aller anderen Akteure im Geflecht planetarischer Lebensgemeinschaft handelt. Die Souveränität der Nicht-Ausbeutung, der Gewaltenthaltung und Befreiung von einer Destruktivität ohne zukunftstragende Pflege begründet sich darum weitaus weniger durch Idealismus als vielmehr durch ein emanzipiertes, gut informiertes Selbstbewusstsein, das die rücksichtslose, einseitige Gattungsegozentrik hinter sich lässt, weil ihr zu Bewusstsein gelangt ist, wie schnell und unausweichlich eine derartige Haltung zur Systemzerstörung und damit zur Selbstvernichtung führt. Die Zivilisation der Überheblichkeit und Anmaßung blickt sich in der Landschaft selbst ins Gesicht, verletzt, unversöhnt.
Es gibt also gute Gründe, die in unserem ureigensten Interesse liegen, aus der Landschaftsbedrohung eine sanfte Landschaftsrevolution werden zu lassen. In der globalen Welt gibt es nichts Fernes. Die Arktis und der Amazonasurwald sind nicht anderswo und auch nicht weit weg. Sie sind hier, unter unseren Füßen. Die denaturierten urbanen Zonen zu renaturieren und die degenerierten Landschaften zu regenerieren, fällt unter die nicht aufschiebbaren Kulturaufgaben unserer heutigen Zivilisation.
Der Fotograf und Filmemacher Thomas Fißler, dessen Bildserie aus seinem Zyklus „La Costa“, 2013 – 2023, unseren Essay begleitet, lebt und arbeitet in Dresden. Seine Langzeitprojekte haben die Transformationen von Landschaften an den urbanen Rändern zum Thema und sind von einer assoziativ-fiktiven Ästhetik geprägt. Meist sind es vorgefundene Motive, die lapidar und in ungeplanten Situationen entstehen. Der Mensch als Sujet ist Fißler zwar nahezu abhandengekommen, doch bleibt dieser als Akteur der ursächlichen Beschaffenheit in der von ihm abgelichteten Welt omnipräsent. Thomas Fißler studierte 1996 – 1999 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, hat an zahlreichen Ausstellungen teilgenommen und ist Gründungsmitglied der Galerie Ursula Walter, einem Projektraum für zeitgenössische Kunst, der in diesem Jahr sein zehnjähriges Jubiläum feiert.