Eine „guttherzig gewiedmete Bibliothec“

„Milich ist der gröste Nahme, desen rein- und theures Gold / Ihr veränderlichen Zeiten hier auf ewig schonen sollt“, dichtete der schlesische Schriftsteller Johann Christian Günther 1722 fast beschwörend. Genutzt hat es wenig. Der Name des Sammlers Johann Gottlieb Milich ist höchstens regional bekannt geblieben.

Das ist heute schwer zu ändern, erscheint jedoch sehr ungerecht gegenüber der Leistung

und der Weitsicht dieses Johann Gottlieb Milich, der 1726 rund 4.000 gedruckte Bücher und 120 Handschriften (darunter mittelalterliche Schriften, Manuskripte, Briefe) sowie eine nicht mehr genau bestimmbare Anzahl Sammlungsstücke und Münzen der Stadt Görlitz stiftete. Diese Stiftung führte nicht nur zur Gründung der ersten öffentlich nutzbaren Bibliothek in Görlitz, sie begründete die Stiftertradition in der Stad.

Johann Gottlieb Milich, um 1720, 62 × 53 cm; Kulturhistorisches Museum Görlitz; © Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften

Johann Gottlieb Milich, um 1720, 62 × 53 cm; Kulturhistorisches Museum Görlitz; © Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften

Man kann annehmen, dass das den Sammler überaus gefreut hätte. Erlebt hat er es freilich nicht mehr, denn erst per Testament vererbte Johann Gottlieb Milich dem Görlitzer Gymnasium seine Bibliothek und seine Sammlungen. Das Testament ist erhalten, die Passage in barocker Sprache und Orthographie lautet: „Meine völlige Bibliothec, an gebundenen, undt ungebundenen Büchern, Manuscripten, Kupferplatten, undt Antiquen, welche ich hiermit, dem Gymnaio zu Görlitz, ea quidem lege, eigne, undt zuschreibe, dass Ein wohllöbl. Stadt-Magistrat, daselbsten, auf dass kräfftigste, undt bündigste, als es sein kan, oder mag, vor sich, und künfftige Successores, undt Inspectores, dieses Gymnasii, sich reversire, diese guttherzig dahin gewiedmete Bibliothec, unverrückt, ohne die mindeste Veralienierung, in guttem Stande zuerhalten, undt besonders die Zu verlässliche, beständige Veranstaltung zumachen, dass alle wochen Zweimahl nachmittag, auf gewisse Stunden, in einem hierzu bequemen Zimmer, der offentliche, undt freye gebrauch, dieser Bücher, einem Jederen Liebhaber, zugelassen werden müsse.“ Die Stadt Görlitz folgte treu dem Testamentstext, stellte die Bücher im Rathaus auf und ermöglichte das Lesen donnerstags und samstags für je zwei Stunden.

Geschrieben wurde das Testament im schlesischen Schweidnitz, das seit 1945 Świdnica heißt und zu Polen gehört. Dort arbeitete Milich sein Leben lang als Advokat. Eine Stiftung an die Heimatstadt kam für ihn jedoch nicht in Frage, denn im habsburgisch regierten katholischen Schlesien hielt man von einer Sammlung, wie sie der protestantische Milich angelegt hatte, nicht viel. Milich besaß Bücher von Zwingli und Hans Sachs, Luther und Melanchthon und Zeitschriften der Frühaufklärung und fürchtete daher die Zensur durch die kirchlichen Behörden, die nach dem „Index Librorum Prohibitorum“ ketzerische Bücher beschlagnahmen konnten.

Seine Sorge war begründet, denn die Sammlung durfte nach Milichs Tod nicht ausreisen. Erst nachdem sich der zum Katholizismus übergetretene, aber gegen Protestanten weiterhin tolerante sächsische Kurfürst und König von Polen Friedrich August am kaiserlichen Hof in Wien für die Stiftung stark gemacht hatte, durfte sie umziehen – vermindert um einige Bücher zur schlesischen Kirchengeschichte.

Am 15. Juli 1727 kam die Bibliothek in Görlitz an und machte die Stadt sofort zu einer Bücherhochburg. Das war fast ein Jahr, nachdem Johann Gottlieb Milich sein Testament am 26. Juni 1726 auf dem Totenbett an seinem Todestag unterzeichnet hatte. Die Entscheidung für Görlitz fiel nicht wegen der Nähe zu Milichs Heimatstadt, die nur 140 Kilometer entfernt ist. Ursprünglich hatte Milich geplant, die Sammlungen der Stadt Leipzig zu stiften, wo er studiert hatte. Doch die Wirkung für Görlitz, das damals noch keine öffentlich zugängliche Bibliothek besaß, schien ihm größer als wenn er seine Sammlungen nach Leipzig gegeben hätte.

Dass der Büchersammler sein Sterbezimmer in seiner Bibliothek einrichtete, klingt nach einer hübschen Legende. Sie scheint aber wahr zu sein, denn sein erster Biograph Samuel Grosser (1664 –1736), der Direktor des Görlitzer Gymnasiums, überlieferte die Anekdote in seiner Rede zur Bibliothekseinweihung. Grosser berichtete, dass sich Milich auf dem Totenbett für seine Sammellust rechtfertigte: „Hier lieg ich zwischen meinen Büchern, und erwarte meines seligen Endes. Bücher lesen ist zwar an sich selbst auch eitles: mich hingegen hat mein Bücher-Lesen die Zeit meines Lebens über, oft von vielen Eitelkeiten abgehalten.“

Heute erscheint es angesichts bewunderter und hofierter Sammler nahezu abwegig, dass Lesen und Sammeln zu Gewissensbissen führen könnten. Für einen Protestanten des Spätbarock waren solche Auseinandersetzungen ganz normal. Denn das Anhäufen von Büchern, Kuriositäten und Raritäten aus Natur, Kunst und der ganzen Welt galt damals noch immer als eine Beschäftigung des Adels, der seine Schätze bevorzugt zu Repräsentationszwecken nutzte. Für protestantische, frühaufklärerische Vorstellungen musste das Sammeln durch den Bürger erst definiert werden. Die Definition, die sich nach und nach durchsetzte, lautete: Der Bürger sammelt, um Wissen nutzbar zu machen – für sich und andere. Das wollte auch Johann Gottlieb Milich.

Als er mit seiner Stiftung Görlitz beschenkte, war er gerade einmal 48 Jahre alt. Geboren 1678 als Sohn einer angesehenen Schweidnitzer Kaufmanns- und Juristenfamilie, studierte Milich in Leipzig und Straßburg Jura, da es noch keine protestantische schlesische Universität gab. Es folgte die damals übliche Bildungsreise durch Frankreich, Italien, Holland, Belgien und Deutschland. Zurück in der Heimat arbeitete Milich ab 1703 als Advokat am Kaiserlich-Königlichen Amts- und Manngericht der Fürstentümer Schweidnitz und Jauer, an dem auch sein Vater Advokat war. Den Vater als berufliches und sammelndes Vorbild, begann auch der Sohn zu sammeln. Johann Gottlieb Milich blieb – wie viele Sammler und spätere Stifter – unverheiratet und kinderlos.

Diese wenigen Fakten sind alles, was über das Leben des Sammlers bekannt ist. Die Historikerin Anja Haese, die die Zusammensetzung der Bibliothek Milichs erforschte, spricht trotzdem von einer „sympathischen Begegnung über die Jahrhunderte hinweg“. Sie beschreibt Milich als „umtriebig und bildungshungrig“. So einen kompromisslos nach Wissen Strebenden hätte sie gern kennengelernt, sagt Haese, die während ihrer Forschungen in der Bibliothek ein zeitgenössisches Verzeichnis der Milich’schen Bücherbestände fand und die Bände in Görlitz und Wroclaw, dem früheren Breslau, lokalisieren konnte. Dass sich heute Bücher in Breslau befinden, ist eine Folge des Zweiten Weltkriegs und angesichts der Stiftungsgeschichte, nach der die Sammlung gerade nicht interessant für das katholische Land war, durchaus kurios zu nennen. Insgesamt sind 350 Inkunabeln, 1.400 Handschriften und 20.000 Bände, die im Zweiten Weltkrieg ausgelagert worden waren und sich nach der Festlegung des neuen Grenzverlaufs 1945 auf polnischem Territorium befanden, nicht nach Görlitz zurückgekommen. Während die Wissenschaftler beider Länder und Bibliotheken heute zusammenarbeiten und ein sächsisches Projekt auch die Digitalisierung der Breslauer Bestände aus Görlitz fördert, sind Ausleihen nach Deutschland aus recht­lichen Gründen – wie bei der Berlinka-Sammlung in Krakau – weiterhin nicht möglich.

Für Görlitz war die Schenkung nicht allein wegen ihrer Größe bedeutsam. Die Stiftung hatte Vorbildwirkung, denn dem stadtfremden, bis dahin in Görlitz unbekannten Stifter Milich wollten die städtischen Sammler nicht nachstehen. Sofort nach Annahme der Stiftung begannen die Bürger, Bibliothek und Sammlung durch Eigenes zu erweitern. Bürgermeister und hohe städtische Amtsinhaber, Ärzte, Pfarrer, Juristen, Kaufleute schenkten ihrer Stadt ihre Schätze. Zusätzlich kaufte die Stadt eine Zeit lang verschiedene Sammlungen und Bücher von Görlitzer Bürgern an. „Die Stiftung Milichs gab 1727 dem Görlitzer Bildungsbürgertum den Anstoß, sich mit den Zeugnissen der Vergangenheit und Naturalien aller Art intensiver als zuvor zu beschäftigen und diese, wenn auch aus heutiger Sicht etwas wahllos, einer Institution zu übergeben, die für den dauerhaften Erhalt zu sorgen hatte“, sagt Martin Kügler, stellvertretender Direktor des Schlesischen Museums zu Görlitz, der im Jahr 2000 eine Ausstellung zu den Milich-Sammlungserforschungen organisierte. Kügler ergänzt: „Die Milich’sche Sammlung ist daher trotz ihrer weiteren wechselhaften Geschichte im 18. und auch im 19. Jahrhundert Grundlage der heutigen Städtischen Sammlungen für Geschichte und Kultur Görlitz.“

Siegelstempel der Milich’schen Bibliothek, 19. Jh., Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften; © Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften
Siegelstempel der Milich’schen Bibliothek, 19. Jh., Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften; © Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften

Vollständig rekonstruierbar ist sie nicht. Denn die Gemälde, Gesteine, Münzen, archäologischen Funde in Görlitz lassen sich nur schwer einem Sammler zuordnen. Ein Projekt, das von der Europäischen Union in den Jahren 1999 und 2000 gefördert wurde, machte Detailuntersuchungen und eine Ausstellung im Schlesischen Museum in Görlitz möglich. Seit diesen Forschungen steht fest, „dass Gottlieb und Johann Gottlieb Milich eine Spezialbibliothek für die Bereiche Philologie, Jura, Theologie und Geschichte aufbauten, und diese mit geschichtlichen Quellen und dinglichen historischen Zeugnissen (archäologischen Funden aus Schlesien und Italien), historisch konnotierten Relikten (Waffen, Wappen, Objekten aus dem Besitz historischer Personen), aber auch kunsthandwerklich wertvollen Objekten sowie Graphiken und Kupferplatten ergänzten. Dagegen liegen keine Anzeichen dafür vor, dass sie eine alle Bereiche der Natur und des menschlichen Schaffens repräsentierende Wunderkammer oder ein Naturalien- und Raritätenkabinett anlegten“, sagt Martin Kügler.

Genauere Bestimmungen der Sammlungsobjekte gibt es nicht. Die Bücher aber blieben und wurden stetig mehr. 1737 – also nur zehn Jahre nach ihrer Ankunft – zählte die Bibliothek 5.000 Bände, 1792 schon 10.300. Im Jahr 1876 waren es 15.200 Bände und 600 Bände mit 20.000 juristischen Disputationen, wie Anja Haese herausfand. Dieses ständige Wachstum führte immer wieder zu Platzproblemen, so dass die Bibliothek häufig umziehen musste. Erst 1951 mit ihrer Eingliederung in die Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften und ihrer Aufstellung in dieser Bibliothek bekam sie eine seitdem unveränderte Adresse.

Historische Bibliotheksräume mit den Bänden aus der Milich’schen Stiftung im Barockhaus Görlitz; © Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften
Historische Bibliotheksräume mit den Bänden aus der Milich’schen Stiftung im Barockhaus Görlitz; © Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften

Hier stehen sie höchst attraktiv in der Kulissen­bibliothek und in vielen weiteren Regalen: unterschiedlich groß, verschieden gebunden. Mächtige Bände und schmale, ungebundene Schriften künden von der Liebe Milichs zum historischen Buch, zur besonderen Ausgabe, zur Rarität. Überraschungen und Entdeckungen sind noch immer möglich. So wurde 2003 eine so genannte Skaryna-Bibel im Görlitzer Bestand entdeckt. Weltweit existieren von dieser Bibel, dem ersten in einer ostslawischen Sprache mit kyrillischer Schrift gedruckten Buch, nur 40 Exemplare. Eines der besterhaltenen ist die Görlitzer Bibelübersetzung des weißrussischen Humanisten Francysk Skaryna (1486 –1541), gedruckt 1517 in Prag.

Wenn Bibliothekschef Matthias Wenzel ein Buch aus den Regalen der „Bibliotheca Milichiana“ nimmt, ist nicht immer klar, ob es aus Milichs Sammlung oder aus einer der Zustiftungen stammt. Denn Teil dieser neuen Sammlung zu werden, war für die Görlitzer Stifter eine Ehre. Manche Bücher können trotzdem eindeutig zugeordnet werden, denn sie enthalten ein aufwändiges Exlibris des Sammlers oder seines Vaters.

„Vor allem für Forscher und Ausstellungsmacher sind die Bücherbestände von großem Wert“, sagt Matthias Wenzel. Wenn in Dresden im August eine Jacob Böhme-Ausstellung eröffnet, sind Görlitzer Buchbestände gefragt. Natürlich auch für die zahlreichen Ausstellungen zum diesjährigen Reformationsjubiläum, besitzt die Bibliothek doch allein 1.000 Flugschriften der Reformation.  Prager Wissenschaftler werden demnächst die Milich’sche Bibliothek auf der Suche nach böhmisch-schlesischen Wechselbeziehungen erforschen.

Eine Straße ist in Görlitz nicht nach Johann Gottlieb Milich benannt worden, auch kein Gebäude. Doch seine Stiftung zum Wohle der Allgemeinheit hat ihre Wirkung nicht verloren. Eine Görlitzer Hoteliersfamilie beispielsweise machte in den vergangenen zehn Jahren eine kontinuierliche Restaurierung von Milich-Büchern möglich.