Ein kunstvolles Leben
Als am 9. Juli 1902 das Museum Folkwang in Hagen eröffnet wurde, hatte sein Gründer Karl Ernst Osthaus gerade erst begonnen, seine Sammlung moderner Kunst aufzubauen. Die Entschlossenheit und das Tempo, die Osthaus dabei an den Tag legte, dürfen auch heute noch außergewöhnlich genannt werden. Innerhalb weniger Jahre erwarb er von wichtigen Künstlern der Moderne umfangreiche Werkgruppen. Unterstützt wurde Osthaus dabei von Künstlern, Kunsthändlern und anderen Sammlern, mit denen er sich beständig über zu entdeckende Talente und Kunstwerke austauschte. An erster Stelle ist Henry van de Velde zu nennen, der von Osthaus 1900 den Auftrag für die Inneneinrichtung des Museum Folkwang erhalten hatte und auch die Entwürfe für dessen Wohnhaus lieferte, den 1908 fertiggestellten Hohenhof. Er machte den Sammler mit der künstlerischen Avantgarde des damaligen Europas bekannt und verschaffte ihm wichtige persönliche Kontakte. Selbstbewusst bilanziert van de Velde in der „Geschichte meines Lebens“ seinen Anteil an der Entstehung der Folkwang-Sammlung: „Seit unsrer Begegnung hatte sich eine vollständige Wandlung in Osthaus’ Geschmack vollzogen, besonders nachdem ich ihn mit den Kunsthändlern Ambroise Vollard in Paris und Paul Cassirer in Berlin zusammengebracht hatte. Seine Bekehrung war spontan eingetreten, und sein Sinn und das Verständnis für Kunstwerke von hoher Qualität entwickelte sich außergewöhnlich rasch. In weniger als einem Jahr hatte er Werke von Monet, Renoir, Seurat, Signac, Cross, van Gogh, Gauguin und Skulpturen von Minne, Rodin und Constantin Meunier erworben.“
Mit einigem Recht hätte van de Velde auch den Namen Aristide Maillol in diese Aufzählung aufnehmen können, denn indirekt ging auch Osthaus’ Entdeckung dieses damals noch weitgehend unbekannten Künstlers auf ihn zurück: Die erste Begegnung des Sammlers mit einem Werk des französischen Bildhauers ereignete sich in der Galerie Ambroise Vollards, den er über van de Velde kennengelernt hatte. Gertrud Osthaus, die ihren Mann häufig bei seinen Besuchen in Galerien und Ateliers begleitete und auch selbst Erwerbungen für die Folkwang-Sammlung tätigte, hat den entscheidenden Moment rückblickend beschrieben. „Man war zum Zwecke von Gauguin-Erwerbungen bei Vollard, als die Figur durch den Laden getragen wurde. Der Anblick berührte das Ehepaar so, dass es dem Hersteller sofort nachspürte, und damit begann ein jahrelanger persönlicher Kontakt mit Maillol.“ Die Figur, um die es sich dabei handelte, war die „Jeune fille debout“.
In der Galerie Ambroise Vollard war Aristide Maillol 1902 erstmals als Bildhauer öffentlich in Erscheinung getreten, nachdem er zunächst als Maler begonnen und sich erst um 1895 für die Bildhauerei entschieden hatte. Vollard zeigte zahlreiche kleinformatige Bronzen, die er nach den Gips- und Terrakottafiguren Maillols in unlimitierten Auflagen hatte herstellen lassen. Die um 1903 oder früher entstandene „Jeune fille debout“ hingegen gehört zu den wenigen Holzplastiken des Bildhauers, die aufgrund ihrer Einzigartigkeit – nur vier davon sind heute noch nachweisbar – sehr gesucht sind. Der Besuch des Ehepaars Osthaus bei Vollard darf deshalb als eine einzigartige Gelegenheit bezeichnet werden. Er lässt sich auf das Jahr 1903 datieren, denn für dieses und das folgende Jahr sind insgesamt vier Erwerbungen von Gemälden Paul Gauguins nachweisbar. Die Kaufentscheidung für die Figur muss in diesem Zeitraum und beinahe sofort getroffen worden sein: Eine Rechnung der Galerie Vollard vom 10. März 1904 verzeichnet neben drei Gemälden von Gauguin und einem von Maurice Denis auch drei Figuren von Aristide Maillol: eine „statuette“, die „Jeune fille debout“, und zwei „terres“, die „Jeune fille agenouillée“ (1900) und eine ebenfalls in Terrakotta ausgeführte, bislang nicht identifizierte Figur. Mit diesem Ankauf trat das Ehepaar Osthaus dem kleinen Kreis der frühen Sammler Maillols bei, dem auch der Unternehmer Eberhard von Bodenhausen und Harry Graf Kessler, der Direktor des Großherzoglichen Museums in Weimar, angehörten.
In seinem Engagement für Maillol ist Osthaus wohl nur mit Kessler vergleichbar, dem wichtigsten Förderer des Künstlers in Deutschland. Beide hatten sich früh eine der raren Holzfiguren gesichert – die „Baigneuse debout“ (um 1898) aus Kesslers Besitz befindet sich heute im Kunstmuseum Winterthur – und den Bildhauer an andere Sammler und Museumsleute weiterempfohlen; darüber hinaus ebneten sie ihm mit ersten Aufträgen für große Steinskulpturen seinen weiteren künstlerischen Weg. Von Kessler wurde Maillol 1904 mit der Schaffung der überlebensgroßen Figur einer kauernden Frau beauftragt, genannt „Méditerranée“. Das Gipsmodell hatte der Künstler bereits 1905 vollendet, die Fertigstellung der Steinfassung jedoch zog sich bis nach 1910 hin, vielleicht weil Maillol in dieser Zeit auch mit einer von Osthaus 1905 in Auftrag gegebenen ebenfalls überlebensgroßen Steinskulptur beschäftigt war. Diese „Sérénité“ genannte Figur wurde um die Jahreswende 1910/11 im Garten des Hohenhofs aufgestellt. Eine weitere Verbindung stiftete die Bronze „Le coureur cycliste“ (Der Radrennfahrer), ebenfalls ein Auftragswerk Maillols für Kessler, von der Osthaus 1909 – unmittelbar nach ihrer Fertigstellung – einen Guss erwarb. Kurz zuvor war bereits die etwas früher entstandene Bronze „Baigneuse sans bras“ (um 1905) in die Folkwang-Sammlung aufgenommen worden. Der Vollständigkeit halber seien an dieser Stelle auch die Tapisserie „Les deux baigneuses“ (um 1895) und die Druckgraphik „Adam et Eve“ (1895) genannt, die ebenfalls zu Osthaus’ Maillol-Kollektion gehörten. Alle diese Erwerbungen des Ehepaars Osthaus sind im 1912 erschienenen ersten Bestandskatalog des Museum Folkwang verzeichnet – mit Ausnahme der nicht näher zu bestimmenden Terrakottafigur (möglicherweise war Osthaus nach Erhalt der erwähnten Rechnung kurzfristig vom Kauf dieser Figur zurückgetreten). Bemerkenswert daran ist, dass demnach auch die im Hohenhof aufgestellte „Sérénité“ als „Sitzende Frau. Sandstein. H 155.“ zum Museumsbestand gezählt wurde. Wo und wie „Le coureur cycliste“ im Museum ausgestellt war, ist durch eine zeitgenössische Fotografie belegt, und für die „Jeune fille debout“ gibt eine Ausstellungskritik von 1908 einen entsprechenden Hinweis. Die nur 17 cm hohe „Jeune fille agenouillée“ und die mit einer Höhe von 30 cm ebenfalls klein zu nennende „Baigneuse sans bras“ hingegen lassen sich nicht in der Ausstellung nachweisen. Letztere ist jedoch auf einer um 1910/11 entstandenen Aufnahme des Damenzimmers im Hohenhof zu entdecken, aufgestellt auf einem niedrigen Wohnmöbel. Neben ihr, auf einem schmalen hohen Ständer, steht hier zudem die „Jeune fille debout“, die zwei Jahre zuvor noch im Museum zu sehen gewesen war. Es hat den Anschein, als habe für Karl Ernst und Gertrud Osthaus zwischen der museal präsentierten Sammlung und der sehr viel kleineren Gruppe von Kunstwerken in den Wohnräumen und im Garten ihres Wohnsitzes kein grundsätzlicher Unterschied bestanden, als hätten sie in der ihnen gemeinsamen Absicht, Leben und Kunst zu verbinden, die Grenzen zwischen ihrem „öffentlichen“ und ihrem „privaten“ Besitz durchlässig gehalten.
Nach dem Tod Karl Ernst Osthaus’ 1921 und mit der Aufnahme von Verhandlungen über den Verkauf der Folkwang-Sammlung war es für Gertrud Osthaus und die Erben ihres Mannes nicht mehr möglich, diese „Besitzverhältnisse“ im Ungefähren zu belassen. Diejenigen Kunstwerke beispielsweise, die sich auf dem Hohenhof befanden, darunter Ferdinand Hodlers „Der Auserwählte“ von 1903 und Maillols „Sérénité“, wurden zunächst nicht veräußert. Erst als die Erben Osthaus’ den Hohenhof 1927 an die Stadt Hagen verkauften, wechselten auch der Hodler und die „Sérénité“ den Besitzer. Während „Der Auserwählte“ an seinem Platz verblieb und mit der Immobilie in städtisches Eigentum überging, gelangte die Steinskulptur nach Düsseldorf, wo sie auf dem Ausstellungsgelände der GeSoLei einen neuen Standort erhielt. Da der Bestandskatalog des Essener Museum Folkwang von 1929 nur eine einzige Figur des Bildhauers verzeichnet, „Le coureur cycliste“, stellt sich die Frage, wie sich die „Besitzverhältnisse“ für die drei anderen Figuren, die Tapisserie „Les deux baigneuses“ und die Graphik „Adam et Eve“ veränderten. Auch der Zeitpunkt, zu dem diese Werke aus der Folkwang-Sammlung herausgenommen wurden, ist fraglich: 1927, 1921 oder bereits vor dem Tod des Museumsgründers? Hatte Gertrud Osthaus sie vielleicht schon 1916 für sich beansprucht und eventuell an sich genommen, als sie sich nach 17 Jahren Ehe von ihrem Mann trennte und den Hohenhof vorübergehend verließ? Gesicherte Antworten hierauf sind nicht möglich. Man ist gleichwohl versucht anzunehmen, dass Maillols Werke und insbesondere die „Jeune fille debout“ – die bei Gertrud Osthaus verblieb – für sie von besonderer Bedeutung waren. Anfang Februar 1926 übergab Gertrud Osthaus diese Figur dem Museum Folkwang als Leihgabe, von wo aus sie noch im Frühjahr 1933 für eine große Maillol-Retrospektive an die Kunsthalle Basel ausgeliehen wurde. In der Publikation zu dieser Ausstellung trägt die „Jeune fille debout“ die Katalognummer 1 – mit der Besitzangabe „Privatbesitz, deponiert im Museum Folkwang, Essen“ – und erscheint auch in dem nicht sehr umfangreichen Abbildungsteil an erster Stelle. Möglicherweise kehrte die Figur nach dem Ende der Ausstellung am 16. September 1933 zunächst nach Essen zurück, wo dann nur zehn Wochen später der damalige Direktor des Museums, Ernst Gosebruch, unter dem Druck der nationalsozialistischen Stadtregierung sein Amt aufgeben musste. Vielleicht schon zu diesem Zeitpunkt, mit großer Wahrscheinlichkeit aber spätestens 1936/37, als Reaktion auf die Aktion „Entartete Kunst“, dürfte Gertrud Osthaus die Leihgabe aufgekündigt haben. Bis zu ihrem Tod 1975 verblieb die „Jeune fille debout“, deren Anblick das jung verheiratete Ehepaar Osthaus so berührt hatte, in ihrem Besitz.