Ein Bild von einem Mann

Meister des Mornauer-Bildnisses (?), Bildnis eines jungen Mannes, um 1470/80, 32,5×23,6 cm, aus dem „Kleinen Klebeband“
Meister des Mornauer-Bildnisses (?), Bildnis eines jungen Mannes, um 1470/80, 32,5×23,6 cm, aus dem „Kleinen Klebeband“

Das Kupferstichkabinett des Fürsten zu Waldburg-Wolfegg gehört zu den wenigen heute noch weitgehend intakten alten hochadligen Privatsammlungen graphischer Künste im deutschen Sprachraum. Angelegt von Truchsess Maximilian Willibald von Waldburg-Wolfegg spiegelt die Sammlung die Vorlieben und Möglichkeiten barocker Sammeltätigkeit. Aus der Zeichnungsabteilung des Kabinetts ragt der sogenannte „Kleine Klebeband“ qualitativ und in seiner kunst- und werkstatthistorischen Bedeutung deutlich heraus. Der im 19. Jahrhundert aus altem Bestand des Kabinetts neu aufgebundene und mit 44,5 cm Höhe, 32 cm Breite und einer Dicke von 5,5 cm gar nicht so „Kleine Klebeband“ enthält überwiegend altdeutsche, aber auch einige niederländische und italienische Meisterzeichnungen vom 15. bis zum mittleren 17. Jahrhundert. Der Klebeband umfasst auf 107 Montagebögen etwa 120 Zeichnungen vornehmlich deutscher Schulen des 15. bis 17. Jahrhunderts. An Umfang und Bedeutung überwiegen süddeutsche Zeichnungen. Neben zahlreichen außergewöhnlichen Einzelwerken der Zeichenkunst der Spätgotik und der Dürerzeit enthält der Band eigenhändige Zeichnungen Hans Holbeins des Älteren wie auch eine singuläre Gruppe von Augsburger Werkstattzeichnungen aus dem frühen und mittleren 16. Jahrhundert.

Diese Blätter unterschiedlicher Qualität spiegeln die Planungs- und Dokumentationsphasen von Motiven in einem der führenden und zeitweise auch erfolgreichsten Künstlerateliers im spätmittelalterlichen Schwaben. Hierdurch vermittelt gerade diese Gruppe einen tiefen und in der Breite einzigartigen Einblick in die Verwendung und die Funktion von Handzeichnungen im verzweigten und teilweise sehr großen Maleratelier des Augsburger Meisters im ausgehenden 15. und frühen 16. Jahrhundert. Mit dieser Werkgruppe von Bildnis-, Typen- und Figurenstudien aus dem Holbeinatelier bietet der Klebeband einzigartige Einblicke in die Werkstattpraxis der Künstlerateliers dieser Epoche. Die Blätter des Holbeinkreises umspannen einen weiten Bogen von eigenhändigen Porträtstudien des Werkstattleiters Hans Holbein des Älteren, die zur Übertragung in eines seiner Altargemälde angefertigt wurden, bis hin zu Arbeiten aus dem Mitarbeiterkreis des Meisters. So finden sich Bildniszeichnungen seiner engsten Mitarbeiter, unter denen vor allem Hans’ Bruder Sigmund Holbein mit erkennbar eigenen Arbeiten in Erscheinung tritt, die ebenfalls für Retabelaufträge der Holbeinwerkstatt genutzt wurden, sowie dann eine besonders ungewöhnliche Gruppe von Musterblättern, auf denen mehr oder weniger gängige wie auch einige ganz ungewöhnliche, spektakuläre Kopf- und Figurentypen des Holbeinateliers musterbuchartig auf sorgfältig quadrierte Papierbögen zusammengetragen und auf einen gemeinsamen Figurenmaßstab skaliert wurden. Weit über die hieraus erschließbaren direkten Zusammenhänge von Zeichnungen und Gemälden oder die chronologischen Aspekte der Typenfindung und Formenwanderung innerhalb des Augsburger Ateliers hinaus bilden diese Blätter ein geradezu exemplarisches Konvolut der Motivfindung, Formverwaltung und Traditionspflege im Medium der Entwurfs- und der Dokumentationszeichnung innerhalb eines repräsentativen und seinerzeit führenden Malerateliers zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit im südwestdeutschen Raum. Und so wurde der „Kleine Klebeband“ wegen seiner besonderen Stellung in der Überlieferungsgeschichte deutscher Malerei und Zeichenkunst bereits früh als besonders schützenswertes Ensemble in das „Gesamtverzeichnis national wertvollen Kulturgutes“ aufgenommen.

Jenseits dieser zentralen Zeichnungsgruppe ragen mehrere Hauptwerke der deutschen Zeichenkunst des 15. und 16. Jahrhunderts aus dem Bestand des Klebebandes heraus. Eine der attraktivsten und die kunsthistorisch sicherlich bedeutendste Zeichnung im „Kleinen Klebeband“ ist das delikat kolorierte Brustbild eines unbekannten jungen Mannes mit hoher (Gelehrten-)Haube. Dazu trägt der Porträtierte einen hell funkelnden Fingerring am linken Daumen seiner vor der Brust sprechend zusammengelegten Hände, die auf einer nicht näher definierten Unterlage oder Brüstung ruhen. Entstanden wohl um 1475, gehört dieses Porträt nach heutiger Kenntnis zu den frühesten selbstständigen Bildniszeichnungen in der deutschen Kunst. Damit ist sie auch eine Inkunabel der Entwicklung zur auto­nomen Handzeichnung, das heißt zur Würdigung der Zeichnung als eigenständige Werkgattung. Ein Kenner wie Peter Halm bezeichnete das Blatt sogar euphorisch als die „vollendetste deutsche Bildniszeichnung vor Dürer“. Diese Einschätzung würdigt sowohl die psychologisch eindrückliche Erfassung des ernst gespannten und in die Ferne gerichteten Blicks wie auch die technisch ungewöhnliche Ausführung der Zeichnung. Graphisch bildet eine dichte Schattierung durch lebendig gesetzte, präzise, tiefschwarze Federzüge des ­geradezu metallisch gefältelten Mantels einen spannungsvollen Kontrast zur subtilen Kolorierung der Hautpartien in Gesicht und an den Händen des Porträtierten. Dieses Zusammenspiel unterschiedlicher Gestaltungsmittel verleiht dem Bildnis eine markante Spannung, die in der Graphik ihrer Zeit ihresgleichen sucht und auch im zeitgenössischen gemalten Porträt kaum Parallelen findet.

Erst vor wenigen Jahren erkannte Kurt Löcher das heute in der Londoner National Gallery aufbewahrte Bildnis des Alexander Mornauer als nächst verwandtes Werk der Tafelmalerei und schlug die Zuschreibung der Zeichnung an diesen Anonymus vor, den „Meister des Mornauer-Bildnisses“. Neben der Kleidung, die Mornauer, der um 1464 bis 1488 Landshuter Stadtschreiber war, als solventen Würdenträger ausweist und auch den Unbekannten auf der Wolfegger Zeichnung als wohlhabenden und mutmaßlich gelehrten Mann bezeichnet, untermauern vor allem die Bildanlage der beiden Bruststücke mit sprechend präsentierten Händen die Beziehung beider Werke zueinander. Auch die Erfassung charakteristischer Details unterstreicht diese Verknüpfung, etwa die Abdunkelung des beide Male markant bartgetönten Wangen- und Kinnbereichs, die Verschattung eines leichten Doppelkinns wie vor allem die sorgsame Gestaltung der Hände mit delikater Schilderung der Hautstruktur und markanter, weit verzweigter Äderung, ausgeprägt eckigen Daumenansätzen und jeweils einem nachdrücklich präsentierten, kostbaren Daumenring.

Ungeachtet ihrer ausgesetzten Stellung innerhalb der Kunst des späteren 15. Jahrhunderts ist die kunsthistorische Einordnung beider Arbeiten jedoch noch keineswegs abgeschlossen. Nach Einordnungen der Zeichnung als zunächst niederländische Bildnisstudie des 15. Jahrhunderts, dann allgemein süddeutsche, präziser tirolische oder bayerische, später oberrheinische – und hier sogar unzutreffenderweise als Frühwerk Martin Schongauers –, wird man heute wohl eher im Grenzbereich zwischen Bayern und Schwaben nach weiterem Vergleichbaren suchen wollen. Diese Einschätzungen werden sich durch die nun mögliche vertiefte Beschäftigung mit dem Wolfegger Bildnis genauer überprüfen und weiter präzisieren lassen.