Liebe Leserinnen und Leser,
in der aktuellen Ausgabe unseres Magazins Arsprototo verbinden wir zwei Themen miteinander, die zumindest auf den ersten Blick nichts miteinander gemein haben. Einerseits geht es um diejenigen, vielfach handschriftlich überlieferten Kulturgüter aus dem Vorlass oder Nachlass von Autorinnen und Autoren sowie Künstlerinnen und Künstlern, die Auskunft über die Schaffensprozesse dieser Menschen und ihre lebensweltliche Realität geben. Der Erwerb solcher dokumentarischen Zeugnisse der künstlerisch-kreativen Praxis stellt seit jeher einen Förderschwerpunkt der Kulturstiftung der Länder dar.
Andererseits geht es um die Kulturstiftung der Länder selbst: Vor 35 Jahren, am 1. April 1988, hat die Kulturstiftung der Länder ihre Arbeit aufgenommen. Wir nehmen dies zum Anlass nicht nur für einen Rückblick, sondern vor allem für ein Innehalten, für eine Standortbestimmung nach 35-jährigem Einsatz für Kunst und Kultur auf gesamtstaatlicher Ebene. Verbunden damit ist auch mein ganz persönlicher Blick auf die Einrichtung, deren Arbeit ich seit fünf Jahren mitgestalten darf und die in dieser Zeit ihr Profil als Förderinstitution und bundesweite Plattform für das kulturpolitische Engagement der Länder weiter geschärft hat.
Tatsächlich ist es jedoch nur der oberflächliche Blick, der beide Themen einander fremd erscheinen lässt. Bei genauerem Zusehen zeigt sich nämlich, dass sowohl das Nachdenken über das Woher und Wohin der Kulturstiftung der Länder als auch die lebensweltlichen Spuren künstlerisch-kreativer Praxis auf ein und dieselbe Frage führen: das Verhältnis zwischen Kultur und Gesellschaft. Sind wir nicht deswegen so von den Briefen Ludwig van Beethovens oder den Tagebüchern Wolf Biermanns fasziniert, weil wir glauben, durch sie den ‚Menschen‘ hinter dem ‚Werk‘ zu erkennen, das ‚Alltägliche‘ hinter der ‚Kunst‘? Und ist es nicht tatsächlich so, dass die Kenntnis des lebensweltlichen Zusammenhangs, der gesellschaftlichen Realität, uns bisweilen Aspekte eines Kunstwerks erschließt, die uns sonst verborgen geblieben wären? Benötigen wir vielleicht sogar diese interpretierende Einbettung in das Soziale, um Breite und Tiefe der künstlerischen Position ermessen zu können? Wie auch immer man diese Fragen beantworten mag, unbestreitbar ist, dass Kunstwerke – mehr oder minder offensichtlich – immer auch Produkte ihrer Zeit sind, auf diese reagieren und, unter entsprechenden Voraussetzungen, ihrerseits die gesellschaftliche Realität verändern.
Die Kulturstiftung der Länder hat sich seit jeher als Dienerin unseres Landes und unserer Gesellschaft verstanden. Gegründet mit dem übergeordneten Ziel der „Förderung und Bewahrung von Kunst und Kultur nationalen Ranges“, wurde die Kulturstiftung der Länder von ihren Gründungsmüttern und -vätern mit der vornehmsten Aufgabe ausgestattet, die ein Staat im Bereich der Kultur zu vergeben hat: die Verantwortung für diejenigen Kulturgüter, die für das kulturelle Selbstverständnis sowie die Lebensqualität der Menschen in unserem Land und mithin für den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Innern und die kulturelle Gestalt Deutschlands in der Welt unverzichtbar sind. Auch hier geht es demnach um das wechselseitige Verhältnis zwischen Kultur und gesellschaftlicher Realität.
Es gibt zwei grundlegende Dokumente, die der Kulturstiftung der Länder Orientierung dabei bieten, dieser ihrer Verantwortung gerecht zu werden: die Satzung der Kulturstiftung der Länder (www.kulturstiftung.de/satzung), die in diesem Jahr ebenfalls 35 Jahre alt wird, sowie das Leitbild der Kulturstiftung der Länder (www.kulturstiftung.de/leitbild-kulturstiftung-der-laender), das der Stiftungsrat im Jahr 2020 verabschiedet hat. Während die Satzung den Willen der Stifterinnen und Stifter im Hinblick sowohl auf den Stiftungszweck als auch auf die Maßnahmen zu dessen Umsetzung wiedergibt, haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kulturstiftung der Länder im Leitbild formuliert, mit welcher Grundhaltung, mit welchen Werten und Zielen sie der Aufgabe der „Förderung und Bewahrung von Kunst und Kultur nationalen Ranges“ nachkommen wollen.
Beide Dokumente sind komplementär in dem Sinne, dass das zentrale Anliegen der Satzung ist, „Kunst und Kultur nationalen Ranges“ zu definieren und Maßnahmen zu deren Förderung zu umreißen, während das Leitbild der Kulturstiftung der Länder die Gesellschaft als Adressaten und Rezipienten von Kunst und Kultur in den Mittelpunkt stellt. So heißt es in Paragraph 2 der Satzung der Kulturstiftung der Länder:
„Der Stiftungszweck wird insbesondere verwirklicht durch
1. die Förderung des Erwerbs für die deutsche Kultur besonders wichtiger und bewahrungswürdiger Kulturgüter, vor allem wenn deren Abwanderung ins Ausland verhindert werden soll oder wenn sie aus dem Ausland zurückerworben werden sollen … ;
2. die Förderung von und die Mitwirkung bei Vorhaben der Dokumentation und Präsentation deutscher Kunst und Kultur … ;
3. die Förderung zeitgenössischer Formen und Entwicklungen von besonderer Bedeutung auf dem Gebiet von Kunst und Kultur … ;
4. die Förderung von überregional und international bedeutsamen Kunst- und Kulturvorhaben …“
Ergänzend dazu stellt das Leitbild der Kulturstiftung der Länder klar, wem nach unserem Selbstverständnis diese Förderung von Kunst und Kultur mit gesamtstaatlicher Bedeutung zugutekommen soll:
„Die Kulturstiftung der Länder stellt die gesellschaftliche Relevanz von Kultur in den Vordergrund. Dabei versteht sie unter Kultur die Gesamtheit kultureller Ausdrucksformen – materiell und immateriell –, die Menschen in der Begegnung mit ihrer Umwelt hervorbringen, um Ideen und Werte auszudrücken und ihren Platz in dieser Welt zu bestimmen. Die Kulturstiftung der Länder ist dem Gemeinwohl verpflichtet, ihre Arbeit steht im Dienst der Länder. … Die Kulturstiftung der Länder will die kulturelle Teilhabe möglichst vieler Menschen erhöhen. … Die Kulturstiftung der Länder steht ein für kulturelle Vielfalt als ein bestimmendes Merkmal und gemeinsames Erbe der Menschheit. In der Überzeugung, dass sich kulturelle Vielfalt nur in einem Rahmen von Demokratie, Toleranz, sozialer Gerechtigkeit und gegenseitiger Achtung der Gesellschaften und Kulturen entfalten kann, erkennt die Kulturstiftung der Länder die Gleichwertigkeit aller Kulturen und ihrer kulturellen Ausdrucksformen an, einschließlich der Kulturen von Personen, die Minderheiten angehören.“
Für die Kulturstiftung der Länder tritt also neben die Verantwortung für Kulturerbe mit gesamtstaatlicher Bedeutung die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, für die und in deren Auftrag dieses Kulturerbe gefördert und bewahrt wird und die diese Fürsorge überhaupt erst ermöglicht. Denn es ist die Gesellschaft, die die Kulturstiftung der Länder durch Steuern gemeinschaftlich finanziert und durch demokratische Willensbildung die für Kultur zuständigen Ministerinnen und Minister sowie Senatorinnen und Senatoren in den Stiftungsrat der Kulturstiftung der Länder als Vertretung dieser Gesellschaft entsendet.
Mich selbst hat das Gefühl der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft seit jeher dazu angetrieben, mir immer wieder die Frage vorzulegen, welche gesellschaftliche Relevanz meine Arbeit hat und inwieweit ich selbst und die mir anvertrauten Ressourcen einen Beitrag zu gesellschaftlichen Herausforderungen leisten können. Für mich ist dies kein Widerspruch zur grundgesetzlich garantierten Freiheit von Kunst und Wissenschaft, eher ein großzügiges Ausschöpfen dieser Freiheit bis hin zur Erwägung des möglichen Nutzens, den mein freiheitliches Tun in Wissenschaft und Kunst für meine Mitmenschen erzeugt. Dies zu unterlassen, käme nach meinem Empfinden einer Entsolidarisierung mit der Gesellschaft gleich.
In den vergangenen fünf Jahren hat die Kulturstiftung der Länder gleich mehrfach die Gelegenheit gehabt, in enger Abstimmung mit der Ländergemeinschaft ihre zweifache Verantwortung gegenüber Kultur und Gesellschaft unter Beweis zu stellen: Finanziell großzügig unterstützt durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, haben wir erstmals in der Geschichte der Kulturstiftung der Länder mit den Programmen „KULTUR.GEMEINSCHAFTEN“ und „Sonnenstunden“ kurzfristig Förderformate entwickelt, mit denen wir als Institution auf zwei tiefgreifende gesellschaftliche Herausforderungen reagiert haben: Die Covid 19-Pandemie bzw. die unmittelbaren Folgen des Kriegs in der Ukraine. Als administrativer und organisatorischer Träger der von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden eingerichteten „Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Deutschland“ leistet die Kulturstiftung der Länder außerdem einen Beitrag zur gesamtstaatlichen Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus und seiner Folgen. Im Programm „MitbeStimmungsorte“ schließlich suchen wir gemeinsam mit mehr als 20 Museen aus ganz Deutschland im Auftrag der Kulturministerkonferenz nach Wegen, auf denen Menschen aus möglichst vielen verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu begeisterten Besucherinnen und Besuchern von Museen werden können. Dabei ist es uns gelungen, zur Finanzierung dieser Projekte und Programme Drittmittel in zweistelliger Millionenhöhe einzuwerben. So war es uns möglich, unser Engagement für die Erwerbung, Konservierung und Restaurierung sowie Präsentation von Kulturgut nationalen Ranges auch in Krisenzeiten nahezu unvermindert aufrechtzuerhalten. Einige herausragende Beispiele für dieses Engagement stellen wir Ihnen in diesem Heft vor.
In der Arbeit der Kulturstiftung der Länder sind der Einsatz für die Kultur und der Einsatz für unsere Gesellschaft untrennbar miteinander verwoben. Tatsächlich ist nach unserem Verständnis das eine ohne das andere nicht einmal vorstellbar: Ohne Gesellschaft kann es keine Kultur geben, schon gar keine Kultur mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung; und ohne Kultur kann es keine Gesellschaft geben, in der wir leben wollen.
Ihr Markus Hilgert