Doch ein Donatello?
Ernst und unnahbar sitzt das Christuskind auf dem linken Knie Mariens und blickt teilnahmslos, ganz mit sich selbst beschäftigt in Richtung des Betrachters, während sich der Blick Mariens, die Aufmerksamkeit eines Gegenübers suchend, zielgerichtet über das Kind hinweg schräg nach unten in den Raum richtet. Diese 90 cm große sitzende Madonnenstatue aus Terrakotta ist in der Skulpturensammlung des Kunstmuseums Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg ausgestellt.
Anders als bei den zeitgleichen Madonnenbildnissen des italienischen Quattrocento hat der Bildhauer bei dieser Figur ganz auf die Lieblichkeit der Mutter-Kind-Beziehung verzichtet. Die goldgewandete, aufrecht sitzende Figur des Knaben, der seine linke Hand – als würde er an den Nägeln kauen – zum Mund führt, während die andere in beschwichtigender Geste auf dem Unterarm der Mutter liegt, ist eine Bildfindung, die die Eigenständigkeit der bildhauerischen Leistung unmissverständlich zeigt. Die Entscheidung gegen das quirlig-liebliche Kind des Quattrocento, das sich an die Wange der Mutter schmiegt, wirkt wie ein bewusster Rückgriff auf die thronenden Madonnen des 12. und 13. Jahrhunderts, in denen wiederum der Typus der byzantinischen Nikopoida aufgegriffen wurde.
Betrachtet man diese und andere Details der dreiviertelplastischen Terrakotta-Skulptur, so wird deutlich, dass diese Figur zu den schönsten und qualitätvollsten Skulpturen des ersten Viertels des Quattrocento außerhalb Italiens gehört. Dennoch ist die sicher in Florenz um 1415/20 entstandene Skulptur in der Forschung zur Kunst der Renaissance bis heute nahezu unbekannt geblieben. Die Ursachen hierfür lassen sich in einer Verkettung ungünstiger Umstände leicht ausmachen. So sind der schlechte Gesamtzustand der Oberfläche der Skulptur, zahlreiche Überfassungen und eine dichte Schmutzschicht zu nennen. Dies hatte sogar dazu geführt, dass die Madonna, nachdem sie vor 1900 für die damals im Kaiser-Friedrich-Museum ausgestellte Magdeburger Kunstsammlung angekauft wurde, von 1945 an über Jahrzehnte im Depot des Kulturhistorischen Museums verblieb. Frida Schottmüllers 1933 abgelegen publizierte Zuschreibung an Nanni di Bartolo ist heute so wenig überzeugend wie damals. Zwar vermochte es die Wiederauffindung der Madonna im Depot des Kulturhistorischen Museums durch Anna Jolly um 1990, die Figur vor der völligen Vergessenheit zu retten, doch blieb auch damals die Qualität der Skulptur aufgrund ihres schlechten Zustandes unerkannt. Obwohl 1997 anlässlich einer Sonderausstellung im Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg für kurze Zeit mit der Zuschreibung an Nanni di Bartolo ausgestellt, erhielt die Figur erst mit der Neueinrichtung der Dauerausstellung „Historische Skulptur“ im Jahr 2004 einen ihrer Bedeutung entsprechenden Platz in der Schausammlung des Magdeburger Kunstmuseums. Die mit Hilfe des Freundeskreises der Kulturstiftung der Länder ab diesem Frühjahr mögliche grundlegende Restaurierung erlaubt es nun erstmals – bereits kurz nach Beginn der Restaurierung –, die Skulptur in ganz neuem Licht zu sehen.
Nach Abschluss eines ersten Restaurierungsabschnittes, der die Oberflächenreinigung, die Rücknahme entstellender Ergänzungen im Bereich alter Brüche in den Gewandfalten im unteren Drittel der Figur und die Standsicherheit durch das Einbringen einer neuen Metallkonstruktion zum Ziel hatte, bleibt für den zweiten Restaurierungsabschnitt die intensive Auseinandersetzung mit der vorhandenen Fassung. Wie Pigmentanalysen zeigen, kommt diese in weiten Bereichen, z. B. dem rot-goldenen Kleid des Kindes und dem Gewand der Madonna, der ursprünglichen Farbgebung sehr nahe.
In anderen Bereichen hingegen führen starke Überfassungen und insbesondere Fehlinterpretationen zur Verunklärung der Figur. Neben dem Kopftuch Mariens, das sich heute in braun-grauem Überzug darstellt und für das sich eine hellblau-weiße Originalfarbigkeit nachweisen lässt, betrifft dies vor allem weite Bereiche des Mantels im unteren rechten Drittel der Figur; durch rote Überfassung wurde dieser später zum Kleid.
Während es weiterer klärender Untersuchungen im Hinblick auf die Fassung bedarf, um dem originalen Gesamteindruck möglichst nahezukommen, lässt sich bereits zu diesem Zeitpunkt sagen, dass sich der hohe Anteil eigenständiger Modellierungen, wie beispielsweise die detailreiche Ausbildung der Gesichtszüge beider Figuren, der Fingerspitzen ebenso wie der Draperie des Kopftuches oder des Kleides des Kindes, als Ausdruck einer außerordentlich qualitätvollen bildhauerischen Leistung präsentiert.
Auffällig ist das bewusste Nebeneinander in der Verwendung verschiedenster Formensprachen, die von der Verlebendigung der klassischen Gesichtszüge der Madonna über ihr antik gegürtetes Kleid sowie das antikisierende Hemd des Kindes bis hin zu den an Ghiberti erinnernden Faltenkaskaden des Manteltuches reichen. Das klassische Profil der Madonna, das seine größte Ähnlichkeit im Relief der Pazzi-Madonna (Donatello, um 1417) findet, sowie der selbstbewusste Umgang mit Vorbildern, wie er in ganz ähnlicher Weise im ehemaligen Hochaltar in der Basilica del Santo in Padua (Donatello, 1446–50) zu finden ist, lassen unwillkürlich den Gedanken an frühe Arbeiten Donatellos (1386–1466) aufkommen.
Enge stilistische Beziehungen bestehen ebenfalls zu den marmornen Evangelistenfiguren, die einst in Nischen der Hauptfassade des Florentiner Domes standen (heute Museo dell’ Opera del Duomo). 1408 und 1415 hatte Donatello die Aufträge für diese Figuren entgegengenommen, die in Gewanddraperien, Hand- und Armhaltung sowie der Behandlung der Gesichter nahezu identischen Schemata folgen.
Bis heute haben sich nur wenige vollplastische Terrakottamadonnen aus der Zeit um 1420 erhalten. Keine von ihnen ist durch urkundliche Überlieferung als Auftrag für Donatello belegt, unterschiedlichste stilkritische Vergleiche lassen sie mal als Werke Ghibertis, Nanni di Bartolos, Michelozzos oder Donatellos erscheinen. Die durch die Restaurierung freigelegte Originalsubstanz der Magdeburger Madonna gleicht einer kleinen kunsthistorischen Sensation.
Die Herkunftsgeschichte der Madonna zu erforschen, sie in das Œuvre Donatellos einzuordnen und ihre tatsächliche Bedeutung für die Bildhauerei des Quattrocento zu untersuchen, bleibt ebenso wie die archivalische Recherche Aufgabe zukünftiger Forschung.