Die Verwandlung der „Verwandlungen“

Weshalb gibt es das Atlasgebirge? Warum heißen Blumen Hyazinthe und Narzisse? Und woher stammt der Begriff Echo?

Es ist der antike Schriftsteller Ovid, der uns die Antworten auf all diese Fragen liefert. Mit seinen „Metamorphosen“ hat er gleichsam eine Schöpfungsgeschichte auf der Grundlage der antiken Mythologie geschaffen. So lesen wir, dass der beleidigte Perseus dem Titanen Atlas das abgeschlagene Medusenhaupt entgegenhielt, wodurch sich dieser in einen riesigen Felsen, eben das Atlasgebirge, verwandelte. Hyacinthus, ein schöner Jüngling, wurde von seinem göttlichen Liebhaber Apoll aus Versehen durch einen Diskus getötet, worauf der trauernde Gott aus dem Blut des Opfers eine edle Blume entstehen ließ. Der hochmütige Narcissus, den seine Schönheit zur Überheblichkeit trieb, wurde von der Rachegöttin zu unstillbarer Selbstliebe verdammt und verliebte sich in sein eigenes, im Wasser einer Quelle entdecktes Spiegelbild. Schmachtend starb er und wurde ebenfalls in eine Blume verwandelt. Die Nymphe Echo, die Zeus’ Gattin während dessen amourösen Abenteuern durch das Erzählen von Geschichten ablenken sollte, wurde von Hera nach Aufdeckung der List der Sprache beraubt – fortan konnte sie nur noch die letzten an sie gerichteten Worte wiederholen.

Ovid führt in seinem Werk zahlreiche Tiere, Pflanzen, Gebirge und Sternbilder auf ähnliche Verwandlungen (eben „Metamorphosen“) infolge von Liebeshändeln zurück. Und auch wenn das Ansehen antiker Autoren im Mittelalter nicht das beste war, erlebte Ovid alsbald eine Renaissance. Das lag vor allem an dem Umstand, dass sich seine „Metamorphosen“ christlich-allegorisch umdeuten ließen. Immerhin ging das Werk von einem Schöpfergott aus, dem Erde, Himmel, Tier- und Pflanzenreich und schließlich der Mensch ihre Existenz verdankten. Es dauerte nicht lange, bis mittelalterliche Kommentatoren den Römer zum heimlichen Christen ummünzten. Manche Interpreten deuteten seine Werke, vor allem die „Verwandlungen“, nach dem so genannten mehrfachen Schriftsinn – seine Episoden wurden dadurch im theologischen Sinn „moralisiert“, sie gewannen heilsgeschichtliche Bedeutung.

Zu den christlichen Autoren, die Ovid zu einem „Ovidius moralizatus“ umschrieben, gehörte der französische Benediktinermönch Petrus Berchorius (um 1290–1362). Seine theologische Interpretation der „Metamorphosen“ ist immerhin in etwa 60 Handschriften überliefert, was für die Popularität des Themas spricht. Und so dauerte es auch nicht lange, bis auf seiner Textgrundlage um 1350 in Bologna erstmals eine Illustrationsfolge entstand, die auf mehr als 200 Bilder angelegt war. Lediglich drei illustrierte Manuskripte sind heute noch bekannt. Das älteste Exemplar liegt in der Forschungsbibliothek Gotha, in deren Sammlungen es vor 1714 gelangt sein muss. Es enthält immerhin 104 der vorgesehenen 200 Illustrationen und ist damit das vollständigste und das künstlerisch anspruchsvollste der erhaltenen Stücke.

Begleitend zu der 2013 begonnenen Edition und Kommentierung konnte im vergangenen Jahr dank der finanziellen Unterstützung des Freundeskreises der Kulturstiftung der Länder eine aufwändige Restaurierung der Pergamenthandschrift vorgenommen werden. Die empfindlichen Pergamentblätter wellten sich, der Einband war verzogen, in der Malschicht hatten sich Haarrisse gebildet, mancherorts lösten sich Schollen vom Malgrund. Aufgrund dieser Schäden, die vor allem die wertvollen, mit Goldgrund versehenen Miniaturen betrafen, konzentrierte sich der Restaurator darauf, Verluste und Risse behutsam zu behandeln, insbesondere aber das Abspringen weiterer Farbschollen durch den Auftrag bestimmter Festigungsmittel zu verhindern. Dabei waren sorgfältige Voruntersuchungen und die Anwendung alter Rezepturen vonnöten, um die Verträglichkeit der Maßnahmen zu gewährleisten.

Die lange zu Unrecht unbekannt gebliebene Handschrift erstrahlt nun, gleichsam als verwandelte „Verwandlung“, in neuem Glanz und vermag dadurch umso intensiver das Interesse der Forschung und der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen.