Die Spur der Blumen
Wegen seiner intensiven Farbigkeit lobte Cennino Cennini in seinem um 1400 erschienenen Malereitraktat das Auripigment, „denn es gleicht dem Gold wie keine andere Farbe“. Seit der Antike wurde das giftige Arsen-Schwefel-Metall von Künstlern eingesetzt; es gab bis ins späte 18. Jahrhundert kein leuchtenderes Gelb. Dass sich Spuren dieser leicht flüchtigen Farbe als Lasierung in der gelben Rose am linken Rand des Blumenstilllebens von Nicolaes van Verendael (1640 –1691) erhalten haben, spricht für seinen ausgezeichneten Erhaltungszustand. Auch andere Blumen des prächtigen Buketts in einer gläsernen Vase, vom Maler vor dunklem Hintergrund auf einer teilweise mit einem Tuch bedeckten steinernen Brüstung arrangiert, behielten ihre zarten Lasuren. So findet sich roter Lack auf den Blättern der üppigen, rot-weiß geflammten Papageientulpe, die im Zentrum des Bildes die anderen Blüten überragt. Van Verendael wurde im Jahr 1657 Mitglied der St. Lukas-Gilde seiner Heimatstadt Antwerpen, er gehörte zu den begabtesten flämischen Stilllebenmalern seiner Zeit, bewundert für die Sorgfalt und die Delikatesse, mit der er Natur in Malerei verwandelte. Sein Detailrealismus erstreckt sich nicht nur auf die mit botanischer Akribie wiedergegebenen Pflanzen, die er in seinen Stillleben immer neu arrangierte, sondern ebenso auf optische Effekte wie die sich im Bauch der Vase spiegelnden Fensterkreuze. Das Gemälde ist oben rechts signiert und wird stilistisch in die zweite Hälfte der 1660er Jahre eingeordnet, da van Verendael seine Gemälde nur selten datierte. Es ist folglich relativ früh in seiner Karriere entstanden; ein vergleichbares Gemälde im Metropolitan Museum ist 1662 datiert. In der Auswahl der verwendeten Blüten werden noch Jahrzehnte später die Spuren des legendären „Tulpenfiebers“ sichtbar, jener durch den frenetischen Handel mit dem ursprünglich aus der Türkei stammenden neuen Statussymbol Tulpe entstandenen Spekulationsblase, die mit einer Versteigerung im niederländischen Alkmaar 1637 ihr Ende fand – der erste Börsenkrach der Geschichte. Die raffinierten Papageientulpen erfreuten sich weiter großer Beliebtheit und spielen in Verendaels Gemälden immer wieder eine Hauptrolle, genau wie die seit dem 16. Jahrhundert in den Niederlanden gezüchteten Zentifolien-Rosen. Das Frühling und Sommer, Orient und Okzident vereinende Bukett spricht noch heute vom Wohlstand der Niederlande des 17. Jahrhunderts, von erfolgreichen Kaufleuten, die ihre Häuser mit kostbaren Gemälden zu schmücken begannen, einem florierenden Kunstmarkt und hochspezialisierten Künstlern: Nicolaes van Verendael, beeinflusst von den führenden Antwerpener Stilllebenmalern wie Jan Davidsz. de Heem und Daniel Seghers, war einer dieser Spezialisten. Neben der Produktion seiner eigenständigen Blumenstillleben kooperierte er mit anderen Künstlern, und er malte sogenannte Singerien, allegorische Genreszenen, in denen Affen die Rolle der Menschen, vor allem der menschlichen Schwächen, ausagieren.
Es ist nicht bekannt, durch wessen Hände unser Gemälde die über 200 Jahre seit seiner Entstehung wanderte, aber 1882 kommt es durch eine Schenkung von Carl Arthur Suermondt (1845 –1922), dem Neffen Barthold Suermondts, in das Aachener Museum und wird in den Katalog von 1883 aufgenommen. Vermutlich sollte es die großen Schenkungen des Onkels flankieren (s. Arsprototo, 1/2015). Bis 1932 regelmäßig in den Bestandskatalogen des Museums verzeichnet, wird das Gemälde mit dem größten Teil des Aachener Bestandes bei Kriegsbeginn ausgelagert. Damit beginnt eine ganz neue Geschichte von Verlagerungen und Besitzertransfers, die die Schwierigkeiten der Museen bei der Rückführung verlorener Werke anschaulich illustriert.
Chronologie und Umstände der ab September 1939, also unmittelbar nach Kriegsbeginn einsetzenden Auslagerung der Aachener Kunstschätze hat Dirk Tölke für den Verlustkatalog des Suermondt-Ludwig-Museums minutiös rekonstruiert. Danach befanden sich die wichtigsten Sammlungsteile seit Februar/März 1941 in den Kellern der Albrechtsburg in Meißen. Dort lagerten bereits seit 1939 auch Kunstwerke aus den sächsischen Museen sowie dem Dresdener Residenzschloss. Ausschlaggebend für die Wahl der Auslagerungsorte war neben ihrer angenommenen „Frontferne“, die Größe und Zugänglichkeit der Räume, ein stabiles Raumklima und die Gewährleistung einer kontinuierlichen Bewachung. Was die Museumsmitarbeiter nicht voraussehen konnten, war neben dem Kriegsverlauf die individuelle kriminelle Energie von Ortsansässigen. Diese profitierten in vielen Fällen und nicht nur in Meißen von der Fülle des ausgelagerten Museumsguts und den sprichwörtlich gewordenen „Wirren“ bei Kriegsende. Auch das Stillleben von Nicolaes van Verendael fällt in diese bisher nicht seriös quantifizierbare Gruppe von Kunstwerken, die weder in die Kategorie der von den sowjetischen Trophäenkommissionen abtransportierten Objekten gehören noch zu denjenigen Werken, die entgegen der Anweisungen der alliierten Armeen von Militärangehörigen als „Souvenirs“ mitgeführt wurden. Die Ergebnisse der Grundlagenforschung, wie etwa die Untersuchungen des von der Kulturstiftung der Länder betreuten Projekts „Auswertung von Transport- und Verteilungslisten kriegsbedingt verbrachter Kulturgüter“ im Rahmen des Deutsch-Russischen Museumsdialogs sprechen in Bezug auf die vielfältige Verlustgeschichte, die auch individuelle Mitnahmen einschließt, eine deutliche Sprache. Im Fall unseres Stilllebens handelt es sich allerdings nicht um einen Akt simpler Plünderung, sondern um ein wesentlich ambitionierteres Projekt.
Zur Geschichte der unmittelbaren Nachkriegszeit mit ihren Bemühungen um Rückführung und Zusammenführung der musealen Bestände gehört auch das Wiederauftauchen von Kunstwerken, die den betroffenen Museen aus den unterschiedlichsten, häufig dubiosen Quellen angeboten wurden. Es ist nicht ganz einfach, hier die Fakten aus dem Dickicht von mehr oder weniger verlässlichen Zeitzeugenberichten herauszufiltern. Fest steht aber, dass seit den späten 1940er Jahren eine bestimmte Person mit der Aneignung und dem Weiterverkauf von Kunstwerken aus Aachen und Dresden in Verbindung gebracht wurde: Alice Siano, geb. Tittel, später wiederverheiratete Kisielis (1914 –1985). Demnach war die aus Meißen stammende Alice Tittel unter der Sowjetischen Militäradministration für die sogenannte Fahndungs- oder Ermittlungsstelle der Stadt Meißen tätig, die für den NKWD, d.h. den sowjetischen Geheimdienst, arbeitete. Die Amerikaner hatten Meißen am 1. Juli 1945 verlassen und der Roten Armee übergeben; im Januar 1947 wurden die Aachener Bestände aus der Albrechtsburg in das Meißener Stadtmuseum überführt, auch Dresdener Werke gelangten so in die Obhut der Stadtverwaltung. Während nach neuesten Erkenntnissen ein großer Teil der Aachener Bilder durch die Mitglieder der Ukrainischen Trophäenkommission abtransportiert wurden, gelang es Alice Tittel, eine nach wie vor unbestimmte Anzahl von Bildern aus Aachen und Dresden an sich zu nehmen, mit Genehmigung der sowjetischen Verwaltung zunächst nach Berlin zu bringen, wo sie anscheinend für die amerikanischen Besatzungstruppen arbeitete, und die Bilder schließlich über die US-Besatzungszone nach Kanada auszuführen. Inzwischen hatte sie den Kanadier Siano geehelicht; die kanadische Einfuhrbescheinigung datiert vom 9. November 1951. Im Oktober 1951 wurden drei Holzkisten mit Gemälden ausgeführt, im Juni 1952 folgten weitere drei Packstücke. Vergleicht man die Maße der inzwischen identifizierten Bilder, so wird offensichtlich, dass es sich hier nicht um einen Gelegenheitsdiebstahl handelte, sondern wohl eher um einen geplanten Raubzug, der nur mit erheblichem logistischen Aufwand und vielfältiger Unterstützung durchzuführen war. Nach wenigen Jahren in der neuen Heimat war es dann soweit – die geschäftstüchtige Frau Siano begann ihre Beute von Tecumseh/Windsor aus zu verkaufen. Am 5. November 1954 übernahm der Kunsthändler Victor D. Spark in New York das Still¬leben von Nicolaes van Verendael mit zwei weiteren Gemälden Aachener Provenienz. Nach mehreren Stationen im Kunsthandel in London und in der Schweiz kehrte das barocke Blumenbukett nun mit Unterstützung eines internationalen Auktionshauses nach Aachen zurück.
Juristisch ist der Eigentumsanspruch der Museen praktisch nicht mehr durchsetzbar, eine bittere Erfahrung, die viele Einrichtungen bereits seit der Nachkriegszeit machen mussten. Noch schwerer war die Durchsetzung dieses Anspruchs für die Sammlungen der ehemaligen DDR, wie ein weiteres Beispiel der von Alice Tittel mitgenommenen Kunstwerke zeigt: Thomas Rudert hat für die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden nachgewiesen, wie sie vorging. Nach ihrem Verkauf von zwei Gemälden des Dresdener Hofmalers Louis de Silvestre (1675 –1760) an das Museum of Fine Arts in St. Petersburg, Florida, ergab sich seit 1967 eine mehrjährige Korrespondenz der nunmehr als Alice Kisielis in Treasure Island, ebenfalls in Florida, lebenden Händlerin mit den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Dieser Briefwechsel erhellt nicht zuletzt ihr auch zwei Jahrzehnte nach Kriegsende vollständig fehlendes Unrechtsbewusstsein. Als das dritte Gemälde des ursprünglich vierteiligen mythologischen Zyklus von Silvestre 1980 in London bei einer Versteigerung angeboten wird, ist das heute von Teilen des Kunstmarktes entwickelte Instrumentarium einer unbürokratisch vereinbarten Rückführung auf der Basis einer gütlichen Einigung mit dem Einlieferer noch nicht entwickelt. Wird heute ein solches Werk international angeboten, haben sich wie im Fall des Aachener Bildes die Chancen der Museen auf Rückgewinnung zumindest deutlich verbessert.