Thomas an Heinrich
Ein ambivalentes Verhältnis hatten Thomas und sein vier Jahre älterer Bruder Heinrich Mann zeit ihres Lebens. Nicht nur Konkurrenzgebahren um Ruhm und schriftstellerische Ehre bestimmte ihre Beziehung, auch politische Unstimmigkeiten wie Thomas’ Befürwortung des Ersten Weltkriegs und Heinrichs streng pazifistische Haltung führten zeitweise zur völligen Funkstille. Selbst im Kindesalter sollen sie bereits ein Jahr lang nicht miteinander gesprochen haben. Es folgten aber auch immer wieder Zeiten des künstlerischen Austauschs, allerdings zum großen Teil aus sicherer Entfernung auf dem Postweg.
Bislang unbekannte Belege solcher Kommunikation aus den Jahren 1901 bis 1914 und 1922 bis 1928 sind nun aufgetaucht – ein Konvolut aus 81 Post- und Briefkarten von Thomas Mann an seinen Bruder Heinrich. Die Karten stammen hauptsächlich von Urlaubsreisen und offenbaren vielfältige Inhalte: den Austausch von Informationen über das Wetter, Terminabsprachen, Glückwünsche, jedoch auch Kritik am literarischen Schaffen Heinrichs oder Reaktionen auf Ratschläge des älteren Bruders. Auch geben sich die Brüder Literaturtipps und verweisen auf Zeitungsartikel und neue Bücher und diskutieren politische Themen. Doch vor allem finden sich in den Postkarten Anhaltspunkte über das wechselhafte Verhältnis der Brüder, so zu Thomas Manns Sicht auf seine eigene Stellung in der Literaturwelt, aber auch zur Auseinandersetzung Thomas Manns mit den häufigen Vergleichen mit seinem Bruder in der Öffentlichkeit. Diese bedeutende Sammlung konnte nun unter Verhandlungsführung und mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder sowie mit Unterstützung des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, der Lübecker Possehl-Stiftung sowie der Dräger-Stiftung für das Lübecker Buddenbrookhaus erworben werden, nachdem sie von Nachfahren Heinrich Manns, den Enkeln Jindrich und Ludvik, zum Kauf angeboten worden war.
Bemerkenswert ist, dass Thomas Mann die Postkarten offensichtlich bereits in dem Bewusstsein schrieb, dass die Nachwelt sich für diese Schriftstücke interessieren würde. Detailliert schildert er persönliche Erfahrungen bei seiner ersten Lesung in Lübeck, seinen Paris-Aufenthalt oder sein Treffen mit Mary Smith in Florenz. Durch die Berichte des späteren Literaturnobelpreisträgers werden auch die Reisewege, die er zurücklegte, nachvollziehbar, und die Postkarten ergänzen die bereits bekannten Daten seiner Reisen mit lebendigen, bisher unbekannten Details. Zudem füllen sie Lücken in bislang umstrittenen oder unbekannten Aspekten in Thomas Manns Leben, decken sie doch u. a. auch Zeiträume ab, in denen keine Tagebücher überliefert sind: Erst ab 1933 sind wieder vergleichbare private Aufzeichnungen des wichtigsten deutschen Literaten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhalten. Dank des aktuellen Ankaufs besteht nun auch die Möglichkeit, die neu entdeckten Karten zusammen mit den bereits vorhandenen Schriftstücken in einer neuen Edition zu veröffentlichen.