Die Büste des Denkers

Oft hatte Jean-Antoine Houdon (1741 Versailles –1828 Paris) den Wunsch geäußert, ein Bildnis des großen Aufklärers anzufertigen. Doch Rousseau lehnte es in seinen späten Jahren ab, porträtiert zu werden – auch für den gefragtesten Porträtbildhauer der Epoche machte er keine Ausnahme. So war es Houdon erst nach dem Tod des berühmten Philosophen am 2. Juli 1778 vergönnt, Rousseau gegenüberzutreten: Er wurde gerufen, um ihm die Totenmaske abzunehmen und so ‘die Züge des unsterblichen Mannes für die Nachwelt zu bewahren’, wie ein Augen-zeuge niederschrieb. Schließlich diente die Totenmaske Houdon als Vorlage für die Bronzebüste „Jean-Jacques Rousseau“, die nun mit Unterstützung der Kulturstif-tung der Länder, der Ernst von Siemens Kunststiftung und des Städelschen-Museums-Vereins e.V. aus internationalem Kunsthandel für die Liebieghaus Skulpturensammlung erworben werden konnte.

Das überaus qualitätsvolle Werk, das durch eine bemerkenswerte Wirklichkeitsnähe und eine erstaunliche Lebendigkeit überzeugt, entstand um 1780 und damit in der Blütezeit Houdons. Die mächtigsten Personen der Zeitgeschichte hat der Künstler porträtiert, darunter Politiker, aufgeklärte Fürsten, Schriftsteller, Kunstkritiker, Musiker und Naturwissenschaftler. Zu seinen prominentesten Modellen gehörten George Washington, Voltaire und Napoleon I. Wie kein anderer zeitgenössischer Bildhauer verstand es Houdon, die feinen Züge seiner Modelle und deren Charaktere zu erfassen.

Die Büste zeigt den von einer Toga umhüllten Gelehrten in der damals modernen, antikisierenden Hermenform. Anstelle einer Perücke trägt Rousseau ein nach anti-ken Vorbildern um sein natürliches Haar gewundenes Haarband. Mit diesem „Band der Unsterblichkeit“ ausgezeichnet, stellte Houdon den geistigen Wegbereiter der französischen Revolution gleichsam in die Tradition von antiken Dichtern und Heroen. Meisterhaft modellierte der für seinen tiefgreifenden Realismus berühmt gewordene Künstler die ausdrucksstarken Gesichtszüge Rousseaus, die ausgeprägten Stirnfalten und seinen eindringlichen Blick.

Für das Frankfurter Liebieghaus, dessen 3.000 Werke umfassende Skulpturensamm-lung einen epochen- und kulturübergreifenden Überblick über die Geschichte der Bildhauerei gibt, stellt die Neuerwerbung zweifellos einen großen Gewinn dar. Op-timal füllt Houdons Rousseau-Bildnis eine Lücke im Bereich der Skulptur des 18. Jahrhunderts, einem Forschungs- und Sammlungsschwerpunkt des Hauses, das dem Œuvre des Künstlers in jüngerer Vergangenheit bereits die vielbeachtete Aus-stellung „Jean-Antoine Houdon: Die sinnliche Skulptur“ widmete. Glücklich zeigte sich das Liebieghaus darüber, dass der Ankauf der Büste noch rechtzeitig zum 300. Geburtstag Rousseaus am 28. Juni gelang. Im Rahmen der Vortragsreihe „Liebieg-haus Positionen“ wird sie im Spätherbst 2012 der Öffentlichkeit präsentiert.