Wer heute durch die Altstadt Lüneburgs spaziert – an der St. Johanniskirche vorbei und in die mit Kopfstein gepflasterte Straße „Am Sande“ hinein, den Blick immer wieder mal nach unten gerichtet – kann es eigentlich gar nicht verfehlen: ein Bodenmosaik aus zahlreichen kleinen Steinchen in Weiß, Blau, Braun und Schwarz. Die Spuren der Zeit sind deutlich sichtbar: Die Steinchen sind teilweise abgenutzt, einige scheinen durch neue ersetzt worden zu sein, der Rand ist teilweise durch Risse beschädigt. Mit den Worten „V. Sternsche Buchdruckerei. 1614“ zeugt das Mosaik vom Gründungsjahr und dem ehemaligen Standort eines der traditionsreichsten Familienunternehmen Deutschlands. 1614 hatte der Buchhändler und -binder Hans Stern eine niederdeutsche Ausgabe der Lutherbibel herausgebracht. Seine Söhne Johann (1582 – 1656) und Heinrich Stern (1592 – 1665) beschlossen nicht nur, in seine unternehmerischen Fußstapfen zu treten und sich auf die Herausgabe und den Vertrieb von Bibeln zu konzentrieren, sie vergrößerten den Betrieb darüber hinaus um eine eigene Druckerei. Das Stern’sche Unternehmen avancierte schnell zu einer der bedeutendsten Großdruckereien Nordeuropas. Mit dem Druck von Bibeln konnte es sich während des 17. und 18. Jahrhunderts erfolgreich von der Konkurrenz abheben. „Die Offizin der Sterne“ – wie sich das Stammhaus der Brüder Am Sande in Lüneburg bis zu seinem Umzug im 20. Jahrhundert nannte – war weit über die eigenen Stadtgrenzen hinaus bekannt. Bis zum letzten Bibeldruck 1824 brachte das Unternehmen mehr als 150 unterschiedliche Ausgaben und insgesamt mehr als 500.000 einzelne Exemplare heraus.
Doch wie hatten die Brüder Johann und Heinrich Stern es geschafft, diesen Stein derart ins Rollen zu bringen? Seit Gutenbergs zwischen 1452 und 1454 erster gedruckter Bibel hatte sich das Buch der Bücher zu einem Bestseller des Druckereigewerbes entwickelt. Die von Stern’sche Druckerei war somit bei Weitem nicht das einzige Unternehmen, das dieses Geschäftsfeld für sich erkannt hatte, schließlich war der Bibeltext frei zugänglich. Der ökonomische Erfolg der Sternbrüder erscheint noch erstaunlicher, hält man sich vor Augen, dass die Gründung des Unternehmens mitten in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges fiel. Dieser ging auch an der Stadt Lüneburg nicht spurlos vorbei. Lüneburg war im Mittelalter durch Salzgewinnung zu politischem Einfluss und Reichtum gelangt. Während des Krieges kam es jedoch zu wirtschaftlichen Verwerfungen und dem Verlust von wichtigen Privilegien und Freiheitsrechten. Zu allem Überfluss wurde die Stadt in den 1620er-Jahren von einer Pestepidemie mit zahlreichen Toten heimgesucht.
Dass die von Stern’sche Druckerei davon unbeschadet blieb und sich, ganz im Gegenteil, in dieser schwierigen, entbehrungsreichen Zeit als ernst zu nehmender Betrieb etablierte und Erfolge feierte, könne, so die Direktorin des Museums Lüneburg, Heike Düselder, durchaus als „kleines Wirtschaftswunder des 17. Jahrhunderts“ bezeichnet werden. Ihr Haus nimmt das 400-jährige Jubiläum der Druckerei von Johann und Heinrich Stern im Jahr 1624 zum Anlass für eine Sonderausstellung mit dem Titel „Bilder! Das Salz der Bibeln“ und schlägt damit ein wichtiges Kapitel der Stadt- und Wirtschaftsgeschichte Lüneburgs auf. Doch geht es dabei um viel mehr: Am Beispiel der Lüneburger Bibeln nimmt die von der Kulturstiftung der Länder geförderte Ausstellung die Rolle der Bibel in der Frühen Neuzeit als Experimentierfeld der modernen Mediengesellschaft unter die Lupe. Rund 200 überlieferte originale Bibeln des 17. und 18. Jahrhunderts, die aus der „Offizin der Sterne“ stammen, befinden sich heute im Museum Lüneburg und der städtischen Ratsbücherei. Auf Grundlage dieses wertvollen Bestandes nähert sich die Ausstellung der Frage, mit welchen Mitteln sich die von Stern’sche Druckerei die Nachfrage nach Bibeln zu Nutze machte, um Marketing- und Ökonomiestrategien zu entwickeln und zu erproben.
Die Bibeln konnten inzwischen von einer breiten Gesellschaftsschicht bezogen werden. Bis zur Reformation waren Bibeln nur für den Gottesdienst als Gebetsbuch vorgesehen. Inzwischen waren sie jedoch Bestandteil der meisten protestantischen Haushalte und damit viel mehr als „nur“ religiöse Schriften. Von den darin enthaltenen Schilderungen fühlten sich die Menschen unterhalten. Die Erzählungen faszinierten, sie spendeten Trost, boten Orientierung und Zerstreuung. Johann und Heinrich Stern – 1645 in den erblichen Adelsstand erhoben – arbeiteten sorgfältig an einem fehlerfreien Druck der Texte, experimentierten mit besonderen Formaten und bemühten sich um saubere und innovative Layouts. Nur so konnten sie sich gegenüber der Konkurrenz durchsetzen. Doch einen wesentlichen, wenn nicht gar den wichtigsten Teil ihrer Energie steckten die beiden in die Kraft der Bilder. Während wir heute im öffentlichen wie privaten Raum – sei es durch Werbung, Bücher, Filme, Fernsehen oder Internet – von einer Flut an Bildern umgeben sind, war der Alltag der Menschen in der Frühen Neuzeit von nur wenigen solcher visuellen Reize bestimmt. Welche Wirkmacht mussten da die in den Bibeln abgedruckten Bilder für die einzelnen Menschen gehabt haben? Von großen und reich mit Abbildungen ausgestatteten Folioformaten bis hin zu preisgünstigen Ausgaben, die in ihrer Größe an heutige Taschenbücher erinnern: Die in den Stern’schen Bibeln enthaltenen Illustrationen prägten die Vorstellungswelt der Menschen im protestantischen Norddeutschland und in Teilen Nordeuropas des 17. Jahrhunderts.
Die von Stern’sche Druckerei konnte auf ein weit verzweigtes Netzwerk von sowohl Handelswegen wie auch Buchhändlern in mehr als 70 Städten in Deutschland und Nordeuropa zurückgreifen. Um die kostbaren Drucke trocken und sicher befördern zu können, machten sich die Buchhändler die erprobten Strategien ihrer Kollegen aus dem Salzhandel zunutze und verstauten die frisch gedruckten Exemplare für den Transport in sogenannten Buchfässern. Mit der Verbreitung des Buchdrucks in der frühen Neuzeit hatten sich außerdem bereits die ersten Buchmessen herausgebildet. Diese spielten beim Vertrieb der Lüneburger Bibeln natürlich ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Am Beispiel der Holzschnitte des Hamburger Goldschmieds Jakob Mores (um 1540 – 1612) und der Kupferstiche nach Vorlagen des Hamburger Künstlers Matthias Scheits (um 1625 bis um 1700) zeigt die Ausstellung in Lüneburg, dass die je nach Ausgaben variierenden Bilddrucke durchaus bewusst unterschiedlichen Marketing- und Bildstrategien folgten.
Der heute im Museum Lüneburg aufbewahrte Bilderzyklus von Mores ist mit nur 60 × 84 mm vergleichsweise klein und wurde in mehr als 50 verlagseigenen Ausgaben der Druckerei Stern verwendet – das erste Mal vom Gründungsvater Hans Stern bei seiner ersten Ausgabe im Jahr 1614, damals noch durch einen Lohndrucker in Goslar gedruckt. Mores Illustrationen bedienen sich einer einfachen Bildsprache, mit denen in erster Linie der Inhalt der biblischen Erzählungen transportiert werden sollte. Es ging weniger darum, sich in darstellerischen Details zu verlieren, sondern den Bibeltext anhand der Bilder besser verstehen zu können. Anders sieht es bei den Kupferstichen von Matthias Scheits aus. Seine ca. 25 × 20 cm großen Kupferstiche folgen einem komplexeren Aufbau, der Räumlichkeit und Tiefe entstehen lässt. Die Abbildungen sollten neuartige, detailreiche und lebensnahe Bildentwürfe für den Erzählschatz der Bibel liefern.
Neben der sogenannten Osiander-Bibel – in der Prachtausgabe von 1711 knapp einen halben Meter hoch, 20 cm dick und rund 16 kg schwer – ist die Foliobibel von 1672 die berühmteste Ausgabe der von Stern’schen Druckerei. Ihrer Fertigstellung ging viel Zeit und Mühe voraus. Zwischen vier und fünf Jahren, so vermutet man, arbeitete Matthias Scheits allein an den Zeichnungen zur Bibel. Der Kupferstecher Johann Georg Waldtreich (tätig 1660 – 1680) druckte die Kupferplatten, die verschiedene Kupferstecher in Augsburg, Nürnberg und Amsterdam nach den akribischen Vorgaben von Scheits gestochen hatten. Diese Arbeiten nahmen viereinhalb Jahre in Anspruch. Ohne Zweifel handelte es sich bei dieser Herausgabe um eine verlags- wie drucktechnisch höchst komplexe und anspruchsvolle Leistung.
Ob Holzschnitt oder Kupferstich: Beide Methoden brachten in technischer wie künstlerischer Hinsicht gewisse Vor- wie Nachteile mit sich. Während es die Methode des Kupferstichs erlaubte, einzelne Details genauer darzustellen und sie sich so für komplexere Kompositionen wie die von Scheits anbot, war sie auf der anderen Seite viel aufwendiger und kostspieliger. Holzschnitte wiederum konnten in höheren Auflagen gedruckt werden und eine größere Reichweite erreichen, waren teilweise aber nicht so filigran in ihrer Darstellung. Die Lüneburger Ausstellung macht deutlich, dass es sich lohnte, je nach Marktsituation, Zielgruppe, Nachfrage und aktuellem Zeitgeist die jeweilige technische Methode abzuwägen, den entsprechenden Künstler zu beauftragen und die dafür erforderlichen Zeitschienen der einzelnen Produktionsstufen im Blick zu haben. Denn genau diese Zeit und Mühe zahlte sich im Falle der Brüder Stern letzten Endes aus.
Wenngleich die von Stern’sche Druckerei das Geschäft mit dem Bibeldruck zu Beginn des 19. Jahrhunderts einstellte, so ist es ihr erfolgreich gelungen, den Betrieb bis ins 20. Jahrhundert, über zwei Weltkriege hindurch und einer Weltwirtschaftskrise zum Trotz aufrechtzuerhalten. Damit zählt sie heute zu einer der ältesten noch existierenden Druckereien und Familienunternehmen Europas und wird in 14. Generation geführt. Mit der von Stern’schen Druckerei und den Lüneburger Bibeln im Fokus widmet sich die Sonderausstellung des Museums Lüneburg einem in der breiten Öffentlichkeit bislang weniger bekannten, regional wie überregional bedeutenden Aspekt der Stadt-, Kultur- und Mediengeschichte. Als Zeugnisse einer sich ausdifferenzierenden visuellen Kultur des 17. und 18. Jahrhunderts vermitteln die gezeigten Werke, welche Wirkmacht der Buch- und Bibeldruck als technische Errungenschaft hatte und welche weitreichenden Auswirkungen dieser nicht nur auf die religiöse Praxis, sondern auch weit darüber hinaus auf die Wirtschaft, die Kunst, Kultur und den Alltag der Menschen im Norddeutschland der Frühen Neuzeit hatte.