Die Geheimnisse der preußischen Armee
Die Bibliothekare und die Forscher waren elektrisiert, als im Jahr 2009 ein bisher unbekanntes Gegenstück zu einer reich bebilderten Handschrift, die sich in der Berliner Staatsbibliothek seit langem befindet – die sogenannte Kriegsordnung Albrechts des Älteren, des Markgrafen zu Brandenburg-Ansbach und Herzogs in Preußen, der von 1525 bis 1568 als erster weltlicher Fürst im Herzogtum Preußen regierte – auf dem Markt auftauchte: Teilweise stimmt die jetzt erworbene Handschrift mit der vorhandenen „Kriegsordnung“ überein, doch finden sich darin etliche zusätzliche Abbildungen und Texte. In diesen beschreibt Albrecht der Ältere die Organisation der militärischen Zweige seiner preußischen Armee wie Fußtruppen, Reiterei und Artillerie. Experten gehen davon aus, dass diese Handschrift mit internen Details zur preußischen Militärorganisation nicht in fremde Hände geraten sollte und sie deswegen später nicht in die Sammlung der kurfürstlichen Bibliothek zu Berlin überging. Albrecht der Ältere hatte in diesem jetzt erworbenen persönlichen Exemplar, das vermutlich nur in dieser einen Fassung existiert, Aufzeichnungen zur geheimen Taktik seines Militärs versammelt, um das Wissen zu bündeln und wahrscheinlich auch vor befreundeten Heerführern damit zu prunken. Der Ankauf des mit 381 Blättern erheblich umfangreicheren Gegenstücks zur „Kriegsordnung“ durch die Staatsbibliothek zu Berlin gelang nun mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und der Ernst von Siemens Kunststiftung.
Die in Berlin seit langem vorhandene „Kriegsordnung“ – im Jahr 1555 entstanden und prächtig bebildert – war als Geschenk für den polnischen König Sigismund II. August angefertigt worden, dem Albrecht der Ältere seit 1525 lehenspflichtig war. Wahrscheinlich warb Albrecht von Brandenburg mit dem opulenten Werk beim polnischen König für die Übertragung des Oberbefehls auf ihn in den Kriegen gegen die Türken. Das Widmungsexemplar ist verschollen, aber eine Kopie des Werkes in gleicher Qualität verblieb damals wohl bei Albrecht – und gilt seit langem als ein Prunkstück im Altbestand der Handschriftensammlung der Berliner Staatsbibliothek: Noch in der Tradition der klassischen römischen Autoren, entfaltet die kostbare Handschrift als militärisches Fachbuch alles Wissenswerte zur Praxis der Kriegsführung und stellt ein zentrales Werk der frühneuzeitlichen Militärgeschichte dar. Die jetzt neuerworbene Handschrift ergänzt die vorhandene „Kriegsordnung“ um etliche bisher unbekannte Details zur preußischen Militärgeschichte sowie der Organisation der Truppen und ist von zentraler Bedeutung für die Erforschung der damaligen Situation der bewaffneten Macht und der Militärtheorie der Neuzeit. Wegen ihrer ungewöhnlich reichen Bildausstattung mit 60 ganzseitigen Miniaturen gilt die Neuerwerbung auch als herausragendes Zeugnis der Buchkunst der Renaissance in Preußen.
Gleichzeitig freut sich die Staatsbibliothek über eine zweite Neuerwerbung, die ebenfalls als überraschender und glücklicher Zugewinn für die Sammlung gelten kann: Eine unscheinbare spätmittelalterliche Sammelhandschrift mit Minnereden, Fabeln, Mären und volkstümlichen Sprüchen stand im vergangenen November bei Christie’s in London zur Auktion und entpuppte sich doch als eine kleine Sensation, denn die Handschrift galt seit 80 Jahren als verschollen. Glücklicherweise erhielt die Staatsbibliothek zu Berlin bei der Auktion den Zuschlag, nachdem es innerhalb von nur wenigen Wochen gelungen war, die notwendigen Mittel bereitzustellen. Die Erwerbung der Handschrift wurde möglich durch die Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und der Bernd H. Breslauer Foundation.
Als unverzichtbares Quellenreservoir für einige der beliebtesten deutschen Dichtungsgattungen des Spätmittelalters wurde das Werk von der germanistischen Forschung lange schmerzlich vermisst. Es stammt aus dem Familienarchiv der Grafen von Brandis in Lana bei Meran. Dorthin war die Sammelhandschrift als Geschenk des Grafen Wilhelm Werner von Zimmern, einem Juristen am Reichskammergericht Speyer und Historiker, gelangt. Der adelige Literaturkenner und -liebhaber, sein Vater und vermutlich sogar der Großvater hatten im 15. und frühen 16. Jahrhundert an der Produktion der Handschrift mitgewirkt, die ältesten Einträge entstanden um 1445. Über mehrere Generationen hinweg ist so ein Familieninteresse an kleinepischer Literatur, vor allem der Minnerede, fassbar. Einige Texte der mittelhochdeutschen Sammelhandschrift sind ausschließlich hier überliefert und warten nun auf ihre Erschließung durch die Literaturwissenschaft. Auch die nun mögliche Erforschung der lebendigen Rezeptionsgeschichte spätmittelalterlicher Handschriften im frühen 16. Jahrhundert verspricht wichtige neue Erkenntnisse.