Die Geburt der Gebirge
Als Alexander von Humboldt im September 1803 eine Exkursion in die neu-spanische Intendanz von Valladolid unternimmt, steht er im Angesicht des rauchenden Vulkans Jorullo vor einer Berglandschaft, die zum Zeitpunkt seiner Reise nicht einmal fünfzig Jahre alt war. Am 29. September 1759 hatte sich hier in nur einer Nacht eine geologische Revolution ereignet, die das gesamte, bis dahin äußerst fruchtbare Umland verwüsten sollte.
Der Druck der unterirdischen Lavamassen muss in jener Nacht so enorm gewesen sein, dass eine Erdschicht von 4.000 qm wie eine Blase aufsteigen und den Boden an den Rändern um zwölf Meter, in seiner Mitte aber über 160 Meter über die umliegende Ebene anheben sollte. Nur war es damit nicht getan: Die vulkanischen Eruptionen hielten die Bevölkerung ganze fünfzehn Jahre in Atem, der Berg sollte erst 1774 zur Ruhe kommen. Doch auch im September 1803, als Humboldt ihr Zeuge wird, rauchen die Kegel des neuen Gebirges, ist die aufgebrochene Landschaft übersät mit tausenden heißen, mannshohen Basaltkegeln.
In sein Reisetagebuch notiert er die offenbar äußerst lebhaften Eindrücke des Jahres 1759, die er aus Gesprächen mit den Einwohnern der Gegend gewinnt: „Ungeheure glühende Felsbrocken wurden 2 bis 300 Toisen [400 bis 600 Meter] hoch in die Luft geschleudert, die Asche rief eine tiefschwarze Nacht hervor, die von dem vulkanischen Feuer erleuchtet wurde; das unterirdische Getöse, der Donner glichen dem Lärm von 5000 gleichzeitig abgefeuerten Artilleriegeschossen, Himmel und Erde schienen sich zu vermischen. Man sah die Erde von weitem anschwellen, sich erheben wie Meereswellen, wobei sie Feuer und Lava durch eine Unzahl kleiner Kegel ausspie. Beim Cañaveral, ein wenig östlich von dem Haus der Hacienda, entstieg der Erde ein ungeheures, steiles Gebirge, das, wie die Alten sich ausdrücken, die von fern Zeugen dieser Schrecken waren, ihnen wie ein ‚in Flammen stehendes Schloss‘ vorkam.“
Für Humboldt ist dieser Anblick mehr als das späte Zeugnis einer spektakulären Vulkaneruption. Vielmehr erkennt er im Angesicht dieser komplexen Gesteinslandschaft die Vorboten einer anderen Revolution: der des eigenen Wissens. Denn keineswegs war es zu jener Zeit sicher, mit welchem Modell man sich die geologischen Ursachen und genauen Wechselwirkungen einer solch bemerkenswerten Landverschiebung erklären sollte. Kein Zweifel also, dass der Weg der Erkenntnis in diesem Fall den steilen Berg hinauf und in den Krater des Vulkans selbst führen würde. In sein Tagebuch schreibt er nicht ohne Stolz:
„Man musste sich bei jedem Schritt vorsehen, den man tat. Aber die majestätische Größe der Gegenstände, die uns umgaben, die befriedigende Idee, sich im Zentrum dieses Schmiedefeuers der Zyklopen zu befinden, ließ uns jeden Gedanken an Gefahr vergessen. Einer ermutigte den anderen […]. Wir sind die ersten, die in den Krater des Jorullo herabgestiegen sind, und vielleicht ist niemals ein Mensch in einem so entflammten Krater gewesen.“
Der Aufstieg muss – auch das typisch für Humboldt – in den frühesten Morgenstunden durchgeführt worden sein, denn nach dem ebenso Nerven wie Hosenböden aufreibenden Abstieg schreibt er: „Auf dem Lavatrümmerfeld am Fuß des Vulkans frühstücken wir im Schatten einer Mimose, sehr froh, dass die Expedition so glücklich verlaufen war.“
Es dürfte während dieser Rast gewesen sein, dass Humboldt die Tagebuchskizze von der Vulkanlandschaft des Jorullo anfertigt; die detaillierte und bereits mit einer Legende versehene Skizze unterschreibt er mit „esquissé sur les lieux“. Es ist eine Draufsicht, die in der engen Schraffur des Vulkans die Schwere des gefahrvollen Aufstiegs verdeutlicht. In der Anordnung des Jorullo und seiner umliegenden vulkanischen Hügel liegt jedoch mehr als bloß ein schneller Entwurf der geologischen Formation, derer er gerade Zeuge geworden war. Die an eine Perlenkette erinnernde, geschwungene Linie der Erhebungen verweist bereits hier auf eine frühe Ahnung einer Geognosie der Vulkane, der Humboldt in der Folge viele Forschungsjahre und zahlreiche Seiten seines Reisewerkes widmen sollte. Es wird eines seiner vielen Lebensprojekte. 1853 noch, sechs Jahre vor seinem Tod, veröffentlicht er einen eigenen physiognomischen Atlas der „Vulkane aus den Cordilleren von Quito und Mexico“.
Da es kein Zufall sein konnte, dass sich vulkanische Formationen entlang des gesamten Kordillerenrückens sowohl in Nord- wie Südamerika in einer gewissen Reihung zu ordnen scheinen, entwickelt Humboldt in späteren Jahren eine Theorie der Erdspalten, mit der erklärt werden sollte, wie Lava aus dem heißen Erdinneren an die Oberfläche drücken und eben nicht bloß lokale Formationen, sondern ganze Gebirgsketten hervorbringen konnte. Schon im Reisetagebuch aber stellt er zu der Jorullo-Kette fest, „daß das vulkanische Feuer sich quer durch eine nordsüdliche Kluft oder Spalte Bahn gebrochen hat […]. Über dieser Spalte haben sich die sechs Vulkane gebildet, welche die größten Verwüstungen angerichtet haben. Das Feuer und die elastischen Flüssigkeiten, die sich durch die Spalte oder durch die sechs großen Krater nicht Bahn brechen konnten, erhoben das Gelände gleichsam in Blasen oder Wülsten (Hornos)“.
Die breitere Öffentlichkeit las darüber zum ersten Mal in dem in Paris zwischen 1810 und 1813 erscheinenden Natur- und Kulturatlas „Vues des Cordillères et monumens des peuples indigènes de l’Amérique“. Hier widmet Humboldt dem Jorullo eine der insgesamt 69 Bildtafeln und hält dazu fest: „Wir wollen hier an die bemerkenswerte Tatsache erinnern, dass alle Vulkane Mexikos in einer einzigen Linie angeordnet sind, die sich von Westen nach Osten zieht und somit einen Parallelkreis der großen Höhen bildet. […] so möchte man glauben, dass das unterirdische Feuer durch eine ungeheure Kluft ans Licht gedrungen ist, die sich im Erdinneren zwischen den Breiten 18° 59′ und 19° 12′ von der Südsee bis zum Atlantischen Ozean erstreckt.“
Die nach Humboldts Skizze von Friedrich Wilhelm Gmelin in Rom gezeichnete und von Louis Bouquet in Paris 1812 gestochene Tafel zeigt hingegen nicht die Draufsicht der Vorlage, sondern vielmehr eine Landschaftsdarstellung, die gleichsam vom Rand der ungeheuren Erhebungsfläche aus die vulkanischen Formationen in den Blick nimmt. Dabei kann das Auge zwischen zwei Fokussierungen scharf stellen: der geologischen Formation verschiedener Lavaschichten, reiseliterarisch ausgeschmückt durch eine Gruppe Forschungsreisender im Vordergrund oder dem imposanten Bergmassiv des weiterhin aktiven Jorullo im Hintergrund.
In der dünnen Linie, die Humboldt auf seiner Tagebuchskizze um die Bergkette des Jorullo zieht, können wir das Ausmaß der Erhebung erahnen, die der Vulkanausbruch von 1759 ausgelöst hatte und deren geologische Schichtung die Tafel aus den „Vues des Cordillères“ so vorteilhaft in Szene setzt. Erst in der endgültigen Ausarbeitung der Humboldt’schen Skizze als Karte 29 des „Atlas géographique et physique du Nouveau Continent“ aber wird der außergewöhnliche Charakter dieses seit seiner Entstehung von der Bevölkerung nur „Malpaís“ (schlechtes Land) genannten Geländes deutlich. Das erstmals 1817 in der dritten von zahlreichen zwischen 1808 und 1838 erscheinenden Lieferungen des Atlas abgedruckte Kartenblatt ist allerdings mehr als bloß eine hochwertige Gravur der Humboldt’schen Vorlage. Vielmehr enthält das Blatt ein ganzes, für die Humboldt’sche Arbeitsweise und Epistemologie prototypisches Bildprogramm, das einen Eindruck vermittelt von eben jener komplexen Schule des Blicks, zu der uns Humboldt mit dieser wie mit so vielen anderen seiner visuellen Kompositionen einzuladen scheint. Das Blatt ist eine vertikal wie horizontal organisierte Abfolge von Wissensbildern, die einen jeweils spezifischen Grad an landschaftlicher Abstraktion erzeugen und in der Abfolge von Ansicht, Schraffurkarte und Bergprofil das ganze Spektrum kartographisch organisierten Erdwissens Humboldt’scher Prägung vergegenwärtigen. Hier findet die geologische Transformation der Jorullo-Gebirgslandschaft ihren endgültigen Ausdruck als bildlich organisierte Transformation des Wissens.
Das junge Vulkangebirge war keineswegs die einzige Vulkanlandschaft, die Humboldt auf seiner Amerikanischen Reise (1799–1804) erforschte. Und auch wenn der Fall Jorullo „eine der bemerkenswertesten Katastrophen“ darstellt, „welche die Naturgeschichte unseres Planeten aufweist“, wie er in den „Vues des Cordillères“ schreibt, so steht diese Katastrophe als geologisches Phänomen keineswegs singulär. Schon der Aufenthalt auf den Kanarischen Inseln, dem wir Humboldts berühmte Besteigung des Pico de Teide verdanken – auch hier stieg er beinahe hinab in den Krater –, zeigte ihm, dass die Lehren seiner Zeit, vornehmlich der an der Bergakademie in Freiberg gelehrte „Neptunismus“ seines charismatischen Lehrers Abraham Gottlob Werner, nicht adäquat jene Formationen beschreiben konnten, die Humboldt immer besser lernte zu verstehen. In seinem Reisebericht schreibt er als Kommentar zu den Bergketten der Kanarischen Inseln: „Canaria ist noch nie von einem ausgebildeten Mineralogen besucht worden, verdiente es aber um so mehr, als mir ihre in parallelen Ketten streichenden Berge von ganz anderem Charakter schienen als die Gipfel von Lanzarote und Teneriffa. Nichts ist für den Geologen anziehender als die Beobachtung, wie sich an einem selben Orte die vulkanischen Bildungen zu den Urgebirgen und den sekundären Gebirgen verhalten. Sind einmal die Kanarischen Inseln in allen ihren Gebirgsgliedern erforscht, so wird sich zeigen, daß man zu voreilig die Bildung der ganzen Gruppe einer Hebung durch submarine Feuerausbrüche zugeschrieben hat.“
Nach Werners verbreiteter Lehre waren Vulkane Folgen lokaler Erdbrände in der oberen Erdkruste und überdies eher selten und wenig verbreitet. Die Ursache der mineralogischen Vielfalt auf der Erdoberfläche war demnach nicht der Ausscheidung verschiedener Gesteine durch Vulkane geschuldet, sondern Folge von langfristigen Ablagerungen aus den Ozeanen. Doch dem widersprach beinahe jedes mineralogische Ergebnis, das Humboldts Untersuchungen der amerikanischen Gesteinsarten und Gebirgsformationen ergab. Dieser reiche Fundus an neuen Daten und durch die Reise gewonnene Empirie sollte ihn – neben ausgedehnter Feldforschung am Vesuv an der Seite von Joseph Louis Gay-Lussac und Leopold von Buch nach seiner Rückkehr – schließlich dazu bringen, in seinen Pariser Jahren zum überzeugten Vertreter des sogenannten Plutonismus zu werden. Die Unterscheidung in der Auffassung von Neptunisten und Plutonisten bestand darin, dass erstere die Gestaltung der Erdoberfläche im Wesentlichen der Wirkung des Wassers (Sedimentgesteine) zuschrieben, letztere hingegen der Wirkung der vulkanischen Herde. Zweifel am neuen Modell aber blieben bestehen.
Noch im „Kosmos“ stellt sich Humboldt der Frage nach dem Zusammenhang zwischen lokalen Erdbeben, Vulkaneruptionen und Bodenspalten und diskutiert sie ausführlich in Band I sowie in Band IV. Dieser war 1858 kurz vor seinem Tod erschienen, so dass er leicht resigniert feststellen musste, dass sich „das Dunkel, in welches der Sitz und die Ursachen derselben gehüllt sind, wenig vermindert [hat]“. Auch hier also war die Fachdiskussion keineswegs abgeschlossen und selbst wenn man über die Folgewirkungen von Erdbeben nun bereits mehr wisse, könne man, so Humboldt weiter, die Frage nach dem „Impuls zur Erschütterung […] nach dem jetzigen Zustande unseres Wissens zu keinen allgemein befriedigenden Resultaten führen“. Die Vorstellung, im Zusammenwirken von Erdbeben und Vulkaneruption die Ursache geologischer Veränderungen zu sehen – eine Grundannahme seiner Zeit, für deren Entwicklung Humboldts Forschungsergebnisse ganz wesentliche Orientierung boten –, wurde erst 1912 abgelöst durch die Theorie der Plattentektonik nach Alfred Wegener, die jedoch selbst wiederum bis in die 1960er Jahre kontrovers diskutiert wurde.
Am Beispiel der Tagebuchaufzeichnungen zur Besteigung und Erforschung des mexikanischen Vulkans Jorullo lässt sich der außergewöhnliche Schwellencharakter des Humboldt’schen Werkes ablesen. Schon Humboldt selbst war sich dessen bewusst. Die Revolutionen der vulkanischen Landschaft waren Sinnbild für Revolutionen im Wissen von Erde, belebter Natur und den Kulturen des Menschen, wie sie Humboldt an beinahe allen Stationen seiner amerikanischen Reise erlebte und in seinen Reisenotaten erstmals verarbeitete.
Der Ankauf der Amerikanischen Reisetagebücher Alexander von Humboldts, zu dessem Gelingen auch die Kulturstiftung der Länder einen ganz wesentlichen Beitrag geleistet hat, wird daher ohne Zweifel ebenso ein neues Kapitel in der Erforschung der berühmten Amerika-Reise eröffnen wie Einblicke in die Ausdifferenzierung des europäischen Wissens von der Welt im 19. Jahrhundert bieten. Die in der Transkription mehr als 4.000 Seiten umfassenden Reisenotate sind daher nicht nur die Geburtsurkunde des amerikanischen Reisewerks, das Humboldt nach seiner Rückkehr in über dreißigjähriger Arbeit entwickeln wird. Sie sind zugleich ein ebenso wissenschaftshistorisch wie poetologisch und bildwissenschaftlich bedeutendes Dokument für ein weit über seine Zeit hinauswirkendes Wissensmodell, dessen nun beginnende Erschließung im gemeinsam von der Staatsbibliothek zu Berlin und der Universität Potsdam getragenen Verbundprojekt mit dem Titel „Amerikanische Reisetagebücher. Genealogie, Chronologie, Epistemologie“ die Forschung zu Humboldts Epoche zweifellos bereichern wird.