Schwarzweiße Zeichnung
ERWERBUNG /NORDRHEIN-WESTFALEN

Die ganze Wahrheit

Über 500 Werke des Malers Karl Schwesig kommen in das Zentrum für verfolgte Künste in Solingen / Jürgen Joseph Kaumkötter

Heinrich Mann entlarvte 1935 mit messerscharfen Worten aus dem Exil den Wahn des mörderischen NS-Regimes, ein tausendjähriges Reich zu sein, und urteilte: „Die Ewigkeit, die das Hitlerreich sich beimisst, ist nicht dieselbe, die es verdient. Es verdient ein Museum zur Aufbewahrung seiner Gräuel […] Die Zeichnungen und Gemälde von Karl Schwesig sind würdig, das Museum zu zieren. Sie sollen die Beschauer lehren, vor Scham zu weinen.“

Karl Schwesig wurde am 19. Juni 1898 in Gelsenkirchen in eine Bergarbeiterfamilie geboren. Eine Rachitiserkrankung in seiner Kindheit verursachte eine Rückgratverkrümmung und limitierte seine Körpergröße auf 1,39 Meter. 1916, während des Ersten Weltkriegs, wurde Schwesig zum Militär eingezogen. Er musste nicht an der Front kämpfen, sondern diente als Schreiber in einem Bergwerksbüro. „Meistens musste ich hier für den Vorgesetzten Hindenburg- und Kronprinzporträts zeichnen“, erinnerte er sich – ein früher Beweis seiner Begabung, unter außergewöhnlichen Umständen künstlerisch tätig sein zu können.

1918 erhielt er ein Stipendium an der Kunstakademie Düsseldorf: „[…] kam ich jetzt in die Freizügigkeit des Rheinlandes und der Kunststadt. Erst jetzt, mit 20 Jahren, wurde ich wirklich ein Mensch.“ Doch bereits nach zwei Jahren hatte er genug und verließ die Akademie: „Da sah ich denn bald, dass die Kunstakademien bürgerliche Institutionen sind, in denen ich nicht nach der Stimme meines Herzens und meines Blutes malen konnte.“ In den lebendigen Straßen Düsseldorfs der 1920er-Jahre, wo die Kunst mehr brodelte als der Rhein selbst, wurde Johanna Ey (1864 – 1947) auf den rebellischen Geist Karl Schwesigs aufmerksam. Mutter Ey, wie sie liebevoll genannt wurde, war das Herz der Düsseldorfer Kunstszene und eine unerschütterliche Unterstützerin der „Jungen Wilden“ des Jungen Rheinlands.

In ihrer legendären Galerie „Junge Kunst – Frau Ey“, einem Sammelsurium aus Farben, Formen und schrägen Ideen, schufen Schwesig und seine Zeitgenossen ein Epizentrum der künstlerischen Revolutionen. In diesem kleinen Kunstuniversum, das genauso von Diskussionen wie vom Lachen und dem einen oder anderen Glas zu viel geprägt war, fand Schwesig nicht nur Anerkennung, sondern auch Inspiration. Max Ernst (1891 – 1976), mit einem Fuß im Dada, dem anderen im Surrealismus, jonglierte Ideen, die so explosiv waren, dass sie auf der Leinwand knisterten. Otto Pankok (1893 – 1966), mit seinem tiefen Mitgefühl für die Unterdrückten, zeichnete und malte Geschichten, die das Herz berührten und den Verstand herausforderten. Gert Wollheim (1894 – 1974) brachte die Schrecken des Krieges und die Zerrissenheit der menschlichen Seele zum Ausdruck, während Heinrich Nauen (1880 – 1940) die Natur in einer Explosion von Farben neu erfand. Jankel Adler (1895 – 1949), der flüchtige Schatten des Alten und des Neuen einfing, webte das jüdische Erbe und die moderne Unruhe in seine Werke ein. Und wenn Joachim Ringelnatz (1883 – 1934) vorbeischaute, stand das ganze Haus kopf.

Unterstützt durch Mutter Ey folgte Karl Schwesig seiner Überzeugung und machte sich in der Weimarer Republik vor allem durch kritische Darstellungen sozialer Ungerechtigkeiten und politischer Missstände einen Namen. Seine Arbeit umfasste Grafiken, Zeichnungen und Malereien, die das Leid der Arbeiterklasse und die Spannungen innerhalb der Gesellschaft thematisierten. Schwesig war zusammen mit Gert Wollheim Gründer der politisch-satirischen Zeitschrift „Die Peitsche“. Seine politische Haltung mündete im Eintritt in die KPD und 1930 in der Mitgründung der Düsseldorfer Ortsgruppe der „Assoziation Revolutionärer Bildender Künstler“, besser bekannt als „Asso“.

Als Maler pflegte Schwesig jenseits seines politischen Engagements ein überraschend facettenreiches künstlerisches Portfolio. Er zeigte die Lebendigkeit des Karnevals, die sonnenverwöhnte Schönheit südfranzösischer Strände und das Düsseldorfer Bürgertum in eindrucksvollen Porträts. In seinen Menschenbildern schwingen, wie im sehr malerischen Bild des Düsseldorfer Weinhändlers Wilhelm Sommer, sanfte Erinnerungen mit. Erinnerungen daran, dass hinter jedem Gesicht eine Geschichte steckt, reich an Erfahrungen und Emotionen, die es wert sind, geteilt zu werden.

Die wilde Freiheit der Weimarer Republik fand mit dem politischen Umbruch durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 ein abruptes Ende. Schwesigs Engagement und sein unerschütterlicher Glaube an die Freiheit kollidierten frontal mit dem Menschenhass des NS-Regimes. Nach dem Reichstagsbrand 1933 beteiligte sich Schwesig an der Herstellung und Verbreitung von Flugblättern und gewährte verfolgten Arbeitern in seinem Atelier Unterschlupf. Im Juli 1933 wurde er verhaftet, in den „Schlegelkeller“ der SA gebracht und drei Tage lang gefoltert: „Drei größere Gemälde […] wurden als staatsgefährliche Trophäen aus meinem Atelier in den Schlegelkeller geschleppt. Vor die Bilder wurden nun sämtliche Gefangenen und SA-Leute versammelt und mussten zusehen, was man heute mit dem Maler solcher Bilder macht.“ Es folgten vier Wochen in Polizeigewahrsam mit anschließender Untersuchungshaft in der „Ulmer Höh“ und eine Verurteilung wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu 16 Monaten Haft. Im Gefängnis Wuppertal-Bendahl zeichnete er Wächter und Mitgefangene.

1935 floh Karl Schwesig nach Antwerpen und erhielt in Belgien politisches Asyl. 1937 wurde Schwesig von den Nationalsozialisten aus dem Deutschen Reich ausgebürgert und 17 seiner Werke aus Museen beschlagnahmt. „O, wie war ich stolz, von diesem Land ausgebürgert zu sein, und welche Scham, von den Fremden als Deutscher behandelt zu werden.“ Der Schritt ins Exil war für Schwesig nicht nur eine Flucht vor politischer Verfolgung, sondern auch der Beginn eines Lebensabschnitts, in dem sein künstlerisches Wirken untrennbar mit dem aktiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus verbunden war.

Seine grausamen Erfahrungen im Folterkeller der SA verarbeitet er im belgischen Exil in einer Serie von Zeichnungen unter dem Titel „Schlegelkeller“. Am 5. Juli 1936 wurde der „Schlegelkeller-Zyklus“ von Karl Schwesig im Palais d’Egmont in Brüssel im Rahmen der „Europäischen Amnestie-Konferenz zur Hilfe und Unterstützung der politischen Gefangenen in Deutschland“ in einem Vorraum ausgestellt. Schwesig sprach auf der Konferenz über seine Folterungen. Besonders der Bericht über das Einschneiden eines Hakenkreuzes in seine Kopfhaut erregte Aufsehen in den Zeitungen. Die „Schlegelkeller-Zeichnungen“ wurden anschließend auf der „Olympiade onder dictatuur“ vom 1. August bis 15. September 1936 in Amsterdam gezeigt, einer Gegenveranstaltung zur Berliner NS-Olympiade. Bei dieser Ausstellung stellten auch Max Ernst und Hanns Kralik (1900 – 1971) aus. Wolfgang Langhoff (1901 – 1966), Schauspieler und Regisseur und Autor des Romans „Moorsoldaten“, war im Bereich ­Literatur vertreten. Zurück in Antwerpen wurde die „Schlegelkeller“-Folge durch jüdische Freunde in einer Fotoserie festgehalten und von Karl Schwesig in fünf Exemplaren zu Büchern zusammengefasst und mit Texten versehen. Wolfgang Langhoff gewann Heinrich Mann für die einleitenden Worte.

Das einzige erhaltene Exemplar der fünf Bücher ist heute im Besitz der Bürgerstiftung für verfolgte Künste im Solinger Museum. Gerettet hat es der Diamantenhändler Aaron Bezdesky (Lebensdaten unbekannt) durch seine Flucht nach New York. Nach dem Krieg schickte er es Schwesig zurück. Die Originale der Zeichnungen wurden 1937 im „Museum für neue westeuropäische Kunst“ in Moskau ausgestellt. Der aus der Schweiz stammende Vizedirektor Traugott Erwin Schaffner (1883 – 1942) wollte die Folge erwerben und eine Buchpublikation herausbringen, doch die spätere Internierung Schwesigs, der Einmarsch der deutschen Truppen in Polen und Russland verhinderten diese Pläne. Karl Schwesig schrieb 1945 in einem Brief, dass Schaffner 1942 verstorben war und die 52 Gravuren nebst zwei Gutachten von sowjetischen Künstlern im Büro der Komintern abgegeben wurden. Kein sowjetisches Museum wollte nach Kriegsausbruch die Zeichnungen aufbewahren. Die Komintern wurde am 16. Mai 1943 aufgelöst. Die Zeichnungen tauchten nie wieder auf.

Als das letzte Buchexemplar des „Schlegelkellers“ zusammen mit Bezdesky auf der anderen Seite des Atlantiks in den USA ankam, bot dieser es dem Medienkonzern Time Life zur Veröffentlichung an. Die Führungskräfte von Time Inc. lehnten ab, den Schlegelkeller in Buchform herauszugeben oder Schwesigs Geschichte im Life-Magazin zu veröffentlichen, trotz des bildlichen Schwerpunkts des Magazins und des Versprechens seiner Redakteure, sich stets mit den wichtigsten Ereignissen der Zeitgeschichte auseinanderzusetzen.

Aaron Bezdesky ließ nicht locker und gewann den sozialpolitisch engagierten Autor Upton Sinclair, um einen Verleger für den „Schlegelkeller“ zu finden. Am 26. Dezember 1939 schrieb Sinclair an Bezdesky: „Es war für mich unpraktisch, [das Buch] aus Kalifornien zu handhaben, also übergab ich es einer alten Freundin von mir, Helen Black. […] Ich schicke ihr eine Kopie dieses Briefes und werde sie bitten, Ihnen mitzuteilen, was sie in der Lage war, mit dem Manuskript zu tun.“ Die literarische Agentin Helen Black (1890 – 1951) gab Bezdesky einige Tage später eine umfangreiche Liste von Verlegern und Agenten, die sie auf Geheiß Sinclairs kontaktiert hatte. Alle hatten die Arbeit abgelehnt.

Schwesig verwendet für seine Zeichnungen über die Folter im Schlegelkeller dunkle Farben und schafft eine fast klaustrophobische Stimmung, die die Betrachterinnen und Betrachter ohne eine Distanz schaffende metaphorische Bildsprache mit den beklemmenden Räumlichkeiten des Folterkellers unmittelbar konfrontieren. Die Werke sind detailreich und geben die erschütternden Lebensbedingungen der Häftlinge wieder. Schwesig nutzt seine künstlerischen Fähigkeiten, um nicht nur die physische, sondern auch die emotionale und psychologische Landschaft des Schlegelkellers zu kartographieren: Angst, Todesangst, Entbehrungen, Folter, Schmerz.

Trotz der Schwere des Themas und der Dunkelheit, die viele der Werke durchzieht, gibt es in Schwesigs Zeichnungen auch Momente der Hoffnung und der menschlichen Widerstandsfähigkeit. Diese Momente bieten einen Kontrast zur vorherrschenden Düsternis und erinnern daran, dass selbst unter den schlimmsten Bedingungen der menschliche Geist Überlebenswillen und Solidarität zeigen kann.

Schwesig wurde in Belgien ein aktives Mitglied der Künstlergemeinschaft und der Exilkunstszene. Er war in den Zeitungen präsent, nahm mit anderen Exilkünstlern an Ausstellungen teil, wie „Ondanks de autodafé’s“ (Trotz der Bücherverbrennung) im Juni 1939 in der Maison de la Culture in der Gulden-Vlieslaan 18 in Brüssel. Der Kunstkritiker Emile Langui (1903 – 1980) berichtete am 28. Mai 1939 in der Genfer Zeitung Vooruit: „An den Wänden hängen unter anderem Zeichnungen und Gemälde von Felix Nussbaum und Karl Schwesig.“

Nach der deutschen Invasion Belgiens wurde Schwesig verhaftet und kam 1940 als „feindlicher Ausländer“ in südfranzösische Internierungslager. Schwesigs Odyssee führte ihn in die Lager St. Cyprien, Gurs, Noé und Nexon. Die Bedingungen in diesen Lagern waren hart und lebensbedrohlich, doch Schwesig ließ sich nicht unterkriegen. Trotz der schwierigen Umstände gelang es ihm, Materialien für seine künstlerische Arbeit zu beschaffen und weiterhin zu zeichnen und zu malen. „Die ungeschminkte Wahrheit blickte uns entgegen, die ganze Wahrheit, und nicht nur die Hälfte.“ Diese Zeile findet sich in Schwesigs „Pyrenäenbericht“, einer Schilderung seiner Hafterfahrungen. Die Aussage fasst prägnant zusammen, wie Schwesig eine eigentlich undarstellbare Realität in seiner Kunst festhält. Schwesig geht über den spezifischen Kontext hinaus und schafft mehr als eine Illustration des Erlebten. Er verbindet die Realität mit allgemeinen Erkenntnissen über die menschlichen Abgründe. Die Bilder aus der Lagerzeit sind eindrucksvolle Werke seines Überlebenswillens und seines unerschütterlichen Glaubens an die Kunst als Form des Widerstands. 1943 wurde er von der deutschen SS zurück nach Düsseldorf ins Gefängnis „Ulmer Höh“ gebracht. Wieder durchlief er mehrere Gefängnisse, wurde gefoltert. Acht Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner entließ man ihn an der Mosel und er kehrte nach Düsseldorf zurück.

1946 heiratete Karl Schwesig Hannelore Müller (1925 – 1977), das Ehepaar bekam drei Kinder. Schwesig begleitete den Wiederaufbau Düsseldorfs mit Kunstwerken und setzte sich in Karikaturen kritisch mit aktuellen politischen Geschehnissen auseinander. Er folgte weiterhin der Stimme seines Herzens und setzte sich in seiner Kunst und seinem öffentlichen Wirken gegen Unrecht und für die Anerkennung der Verbrechen des Nationalsozialismus ein. Heute begegnen wir seinem unermüdlichen Einsatz für die Erinnerung und die Aufarbeitung dieser dunklen Kapitel der Geschichte mit Hochachtung. Damals machte es ihn zu einem Außenseiter, und die Familie konnte kaum überleben. Hannelore Müller berichtet in einem Brief über die Umstände des Todes von Karl Schwesig: „Im Juni 1955 wurde seine Rente festgesetzt; er hätte eine beträchtliche Nachzahlung erhalten sollen, aber er bekam von der Regierung einen Brief, dass ihm zuvor geleistete Unterstützungsgelder darauf angerechnet wurden. Wir hatten bereits mit diesem Geld gerechnet. Nachdem er diesen Brief gelesen hatte, erlitt er unmittelbar darauf einen Schlaganfall. Es geschah beim Frühstück, während die Kinder im Garten spielten. Er ging hinaus und erkannte seine eigenen Kinder nicht mehr, fragte mich nach ihren Namen. Einige Stunden später wurde er ins Krankenhaus eingeliefert und verbrachte dort drei Tage in völliger Teilnahmslosigkeit. In den letzten Stunden, die ich an seinem Bett verbrachte, öffnete er noch einmal die Augen und streichelte mich. Dann war er tot.“ Karl Schwesig starb am 19. Juni 1955, an seinem 57. Geburtstag.

Mit über 500 Werken erwarb die „Bürgerstiftung für verfolgte Künste – Else-Lasker-Schüler-Zentrum – Kunstsammlung Gerhard Schneider“ nun für das Museum Zentrum für verfolgte Künste einen bedeutenden Teil des Nachlasses des Künstlers Karl Schwesig, vermittelt und unterstützt durch Barbara Barth und Herbert Remmert, gefördert durch die Kulturstiftung der Länder. Die schriftlichen Quellen des Nachlasskonvoluts hat das Deutsche Exilarchiv 1933 – 1945 der Deutschen Nationalbibliothek übernommen. Karl Schwesig kann uns gerade heute viel sagen. Schauen wir genau hin.

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