Der Wert des Originals

Wie die Politik wird auch die Kultur beständig von Wellen der Erregung durchlaufen: die meisten flach, manche höher, die wenigsten hinterlassen einen Pegelstrich im Gedächtnis. Die beiden höchsten Erregungswellen des vergangenen Jahrzehnts gingen weder vom Nobelpreis für einen deutschen Autor noch von der schweren Wiedergeburt der Berliner Mitte aus. Ausgelöst wurden sie von zwei dramatischen Ereignissen, die niemand voraussehen konnte, einer Tragödie und einer Komödie. Die Tragödie war der Brand der Weimarer Herzogin Anna Amalia Bibliothek im September 2004, die Komödie der Skandal um den Kunstfälscher Beltracchi, der im Oktober 2011 von einem Kölner Gericht verurteilt wurde. Im Abstand von wenigen Jahren wurde die kleine Republik der an Kunst und Kultur Interessierten zweimal spürbar erschüttert, und in beiden Fällen ging es um den Wert des Originals.

Der Brand der Weimarer Hofbibliothek, das Herzstück der deutschen Klassik, zeigte, was die viel beschworene Singularität einer Sammlung wirklich bedeutet: Einmalig ist ein anderer Name für unwiederbringlich. Das einmal verlorene Original bringt keine Macht der Welt zurück. Ganz ähnlich lautete die Lehre aus dem Fälschungsskandal Beltracchi: Die Fälschung mochte an die Stelle eines verlorenen Originals treten, die unerklärliche Lücke eines Werks ausfüllen, sämtliche Kenner hinters Licht führen und den Kunstmarkt gehörig derangieren. Unterm Strich konnte sie nur den Wert des Originals steigern. Beide Fälle, die Tragödie von Weimar und die Komödie des Kunstmarkts, wiesen eine weitere Gemeinsamkeit auf: Die Tröstungen der Virtualisierung verfingen nicht mehr. Niemand hätte im Ernst behauptet, digitale Zweitformen barocker Bände oder klassischer Manuskripte hätten das Verlorene ersetzt, niemand sich mit Kopien von Max Ernst zufrieden gegeben oder sich Scans von Heinrich Campendonk an die Wand gehängt. Vor zwei Jahrzehnten, als noch der gut gelaunte Zynismus von Andy Warhol und Jean Baudrillard die Kulturkritik beherrschte, galt die Kopie als Leitmedium der Zukunft. Als 1996 „The Culture of the Copy“ von Hillel Schwartz erschien, eine erstaunliche Enzyklopädie der Verdoppelungen und Zweitformen, glaubten manche, den Katechismus der Jahrtausendwende in der Hand zu halten. Das kommende Jahrhundert würde im Zeichen der Zwillinge stehen. Das Original? Eine zu vernachlässigende Größe, eine retrospektive Fiktion.

Wie schnell sich doch die Dinge ändern können. Keine zwei Jahrzehnte sind vergangen, und die ganze Virtualisierungs-Euphorie ist verflogen. Ein neuer Konservatismus hat das Wort ergriffen, einer, der sich noch der Bedeutung seines Namens erinnert. Die Kultur der Kopie wollte die Welt immer nur verdoppeln, der neue Konservatismus hütet ihre Einzigartigkeit. Er weiß um den Wert des Originals. Er will die Welt nicht erhalten, weil er an ihrer Veränderbarkeit verzweifelt. Er sucht die Zeugnisse menschlicher Kunst und Kultur zu bewahren, weil er um ihre Unwiederbringlichkeit weiß. Das Original, so lehrt der neue Konservatismus, wird umso mehr begehrt – und das heißt buchstäblich wertgeschätzt –, je weiter wir in die virtuelle Welt vordringen. Der Wert des Originals besteht darin, uns der Handgreiflichkeit der Welt zu versichern, wenn ihre virtuellen Zweitformen überhand nehmen. Zu dem, was Walter Benjamin seinen Verehrern vermacht hat, gehören nicht nur gewisse Manieriertheiten des Stils, sondern auch einige fatale Schlüsselworte, deren geläufiges Zitieren keinen Funken Sinn mehr ergibt. Den Spitzenplatz auf dieser Liste hält das Wort „Aura“. Wer immer sagen will, dass es, speziell im Museums- und Ausstellungskontext, mit unikalem Material seine besondere Bewandtnis hat, beschwört die „Aura des Originals“. Damit, so meint man, sei alles gesagt; wer „Aura“ sagt, hat alles erklärt. Eine ähnliche Befriedigung stellt sich ein, bescheinigt man einem Menschen, vorzugsweise einem Politiker, er habe „Charisma“. Wie abgenutzt diese Begriffe sind, wie sehr man sich einer Vokabeldämmerung entgegensehnt.

Eine Zeitlang trug auch die Kunstgeschichte einen ähnlichen Fetischbegriff vor sich her. Er hieß „in situ“. Man müsse die Kunstwerke, soweit dies noch möglich war, an ihrem ersten, originalen Standort aufsuchen und studieren. Das war zur Zeit Jacob Burckhardts, als die Kunstgeschichte schon dazu übergegangen war, mit Zweitformen, sprich Fotos, der originalen Werke zu arbeiten. Nun war das „in situ“-Prinzip insofern ganz vernünftig, als es tatsächlich aufschlussreich ist, die Kunstwerke am Ort ihrer ersten Bestimmung, im Kontext ihrer Umgebung und der intendierten Wirkung zu betrachten. Der Besuch „in situ“ verspricht reale Information und nicht bloß numinosen Schauer. Beim „Aura“-Begriff dagegen, der es gern beim ästhetischen Schauer belässt, ist das nicht mehr der Fall. Wo es Erhellung verspricht, verdunkelt das Gerede von Aura bloß noch.

Der Scan-Roboter „Pablito“ untersucht die innere Struktur von Pablo Picassos 1937 entstandenem Gemälde „Guernica“, 2012; Museo Reina Sofía, Madrid
Der Scan-Roboter „Pablito“ untersucht die innere Struktur von Pablo Picassos 1937 entstandenem Gemälde „Guernica“, 2012; Museo Reina Sofía, Madrid

Es stimmt ja, dass am Original etwas „dran“ ist, was keine noch so gute Kopie erreichen kann. Echtheit, Authentizität sind kein leerer Wahn. Auch Vorstellungen sind Tatsachen, hat Jacob Burckhardt gesagt. Nun hat die Vorstellung, beispielsweise angesichts eines Autographen von Goethe, darauf habe seine Hand geruht, sicherlich nicht für jeden Betrachter denselben Grad an Signifikanz. Darin verhält es sich ähnlich wie mit Erscheinungen in Träumen, die für den einen wenig gelten, während sie für den anderen unumstößliche Evidenz haben. Wer ist der Glücklichere: der, dem das Original nichts bedeutet, oder der, dem es die wahre Brücke in die Vergangenheit schlägt? Dem letzteren ist es gleichgültig, ob eine Statue bereits in Tausenden von Repliken existiert oder ob ein Manuskript von Kafka weltweit sichtbar hoch aufgelöst im Netz steht: Keine Zweitform wird je sein Vertrauen in den Wert des Originals erschüttern.

Der Brand der Anna Amalia, der Einsturz des Kölner Stadtarchivs: Nicht nur die Fachwelt der Konservatoren, auch die Öffentlichkeit weiß seither, wie schnell aus einem Einmalig ein Unwiederbringlich werden kann. Es ist, als seien Jahrhunderte vergangen seit den heiteren Zeiten der Simulationseuphorie, dabei sind es doch nur wenige Jahre. Aber diese Jahre brachten Erfahrungen, national wie international, die man sich gern erspart hätte. Kulturzerstörung, Kunstplünderung sind Vokabeln, die sich erschreckend schnell mit Anschauung gefüllt haben, von Mali über Libyen und Irak bis Afghanistan. Auch in Weltregionen, die der Krieg verschont, droht den Kulturgütern Gefahr: durch Umweltschäden, Hochwasser, Brände, technisches Versagen. Durch Katastrophen, die niemand voraussieht.  Im Bereich der kulturellen Überlieferer (Museen, Bibliotheken, Archive) ist die Erhaltung des Bestehenden zu einer beherrschenden Sorge geworden. Je jünger die Medien, je subtiler ihre Trägermaterie (Papier, Silbersalz, Magnetband, Festplatten, Disketten…) umso größer die Sorge um ihren Erhalt. Noch reichen die Fördermittel, welche die öffentliche Hand zur Bestandserhaltung bereitstellt, bei weitem nicht aus, um den drängenden Aufgaben gerecht zu werden. Der Bewusstseinswandel aber hat schon stattgefunden: Niemand beschwört mehr den Gegensatz von Kreation und Konservation, niemand wärmt mehr Nietzsche auf und predigt die Notwendigkeit des Vergessens. Zu tief sitzen die Erfahrungen des Verlusts, zu offenkundig sind die Strukturen des Vergessens ein integraler Teil unserer materiellen Zivilisation. Datenverlust, Obsoleszenz der Träger, auch die digitale Welt hat ihre Menetekel. Deshalb gehört die Zukunft der praktischen Koexistenz des Digitalen und des Originalen, des Virtuellen und des Authentischen. Mögen die alten Herrschaften des Kulturbetriebs noch eine Weile gegen das Netz und gegen die Wirkungen der digitalen Welt wettern. Soll der ideologische Konservatismus fortfahren, seine Dichotomien zu pflegen. Der neue, praktische Konservatismus wird sich darum kümmern, das Nebeneinander und Miteinander von Original und Zweitform, von materiellem und virtuellem Objekt zu organisieren. Archive, Museen und Bibliotheken werden lernen, die Logik der Sammlung und die Logik der Forschung zu entkoppeln, separat zu entwickeln und auf neue Weise wieder zu verbinden.

Die Forschung verlangt nach virtuellen Räumen, nach digitalen Infrastrukturen und verlässlichen Speichersystemen; sie wird über weite Strecken mit Digitalisaten, sprich Daten und virtuellen Repräsentationen arbeiten. Irgendwann kommt die Stunde, in der sie zur Überprüfung ihrer Hypothesen, Beschreibungen und Befunde der Autopsie, und das heißt: des Originals bedarf. Dann schlägt die Stunde der Sammlung. Die Sammlung hütet das Original, den Goldschatz der kulturellen Überlieferung. Aber sie ermöglicht auch Forschungen, die nur am originalen Bestand möglich sind. Letzten Endes geht es um verschiedene Typen von Sichtbarkeit: Das, was am Original und nur an ihm sichtbar wird, lässt sich durch die Fülle an Sichtbarkeiten und Vergleichbarkeiten, die auf der Basis von Zweitformen entstehen (Vergrößerung, Durchsuchung, Quantifizierung), nicht ersetzen. Original und Digitalisat ergänzen einander, sie ersetzen einander nicht.

Mit dem Bewusstsein vom Wert des Originals kehrt die Anerkennung seines Werts für die nationale Kultur zurück. Praktisch alle großen Sammlungstheoretiker des 19. Jahrhunderts schrieben und handelten im Auftrag ihrer Nationen. Vielleicht erleben wir künftig eine zeitgemäß differenzierte Wiederkehr dieser Theorien, aber auch der sie begleitenden Praktiken der Inanspruchnahme. Je mehr die Logik der Forschung sich in internationalen Netzwerken realisiert, umso enger kann sich die Logik der Sammlung wieder mit dem Leben und der Identität kultureller Gemeinschaften verbinden: Das Original wird zum Politikum. Daraus muss kein neuer kultureller Chauvinismus erwachsen. Gebraucht wird ein Bewusstsein von der Zerbrechlichkeit kultureller Zusammenhänge und von der Unwiederbringlichkeit des Originals. In vielerlei Hinsicht „entlastet“ heute das Digitalisat bereits das Original, beispielsweise indem es die Belastungen, die mit seiner Erforschung und Benutzung einhergehen, vermindert. Auch der politische Wert des Originals muss nicht auf Kosten der Forschung gehen: Tendenziell kennt das Digitalisat keine Grenzen.

Insofern hat das Original nicht nur einen einzigen, auf einer Skala ablesbaren Wert. Als Repräsentant der materiellen Welt, als Artefakt aus Holz, Glas, Farbe und Papier, besitzt es einen kulturellen Wert. Völkern und Nationen verbürgt es eine kulturelle und politische Identität. Als Sammlungsobjekt gewinnt es einen ökonomischen, auf dem Kunstmarkt realisierbaren Wert. Als museales Exponat verfügt es über einen unersetzlichen Schauwert. Und last but not least besitzt es einen epistemischen Wert für die Forschung, der es Erkenntnisse liefert und auf unabsehbar lange Zeit liefern wird, Informationen, die sich keiner Zweitform abgewinnen lassen. Aus einem originalen Manuskript von Kafka gewinnen wir heute Aufschlüsse, von denen vor fünfzig Jahren niemand geträumt hätte. Was wissen wir, welche Fragen die Forschung in weiteren fünfzig Jahren beschäftigen und mit welchen Techniken sie ihre Antworten finden wird? Das Original ist eine Samenkapsel künftiger Erkenntnis und des kommenden Wissens.