Der umfangreiche Nachlass des Bildhauers Wilhelm Lehmbruck

I     Lehmbruck-Nachlass für Duisburg gesichert

Nach beinahe vierjährigen Verhandlungen ist es gelungen, den umfangreichen Wilhelm Lehmbruck-Nachlass dauerhaft für Duisburg zu sichern. „Damit ist die Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum, die bisher rund 165 Werke Lehmbrucks, vor allem seine Plastiken erworben hatte, weltweit zur alleinigen und einzigartigen Sammlungs- und Forschungsstätte dieses bedeutenden Künstlers der klassischen Moderne avanciert“, freut sich Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland. Aus dem künstlerischen Nachlass können nun – vertraglich gesichert – 33 Skulpturen, 18 Gemälde, 11 Pastelle, 819 Zeichnungen und 260 Druckgraphiken dazugewonnen werden. Diese 1141 Werke standen bisher nur als Leihgaben der Erbengemeinschaft Lehmbruck zur Verfügung.

Zu Jahresbeginn 2005 bot die Familie Lehmbruck der Stadt Duisburg, der Heimat des Künstlers, den Nachlass vorrangig und befristet zum Kauf an. Das Kuratorium der Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum – Zentrum Internationaler Skulptur bewertete sofort die dauerhafte Sicherung des Lehmbruck-Nachlasses als höchste Priorität. Der nordrhein-westfälische Staatssekretär für Kultur Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff begriff den Erhalt des Nachlasses des Duisburger Künstlers Wilhelm Lehmbruck als „existentiell notwendig für die Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum“ und engagierte sich in besonderer Weise, indem er mit einer Anschubfinanzierung bereits im Jahre 2006 ein deutliches Signal setzte. Die Kulturstiftung der Länder mit ihrer Generalsekretärin Isabel Pfeiffer-Poensgen begleitete von Beginn an intensiv die Verhandlungen mit der Erbengemeinschaft und garantierte zusammen mit der Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum die kunsthistorische Expertise für das umfangreiche Nachlass-Konvolut.

Unter der Moderation von Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff, Isabel Pfeiffer-Poensgen, Karl Janssen, Kulturdezernent der Stadt Duisburg, und Thomas Hüttemann, Präsident der Niederrheinischen Industrie- und Handelskammer, wurde ein Public-Private-Partnership-Modell zur Finanzierung entwickelt und zum Erfolg geführt. Am Erwerb beteiligen sich der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, die Kulturstiftung der Länder, das Land Nordrhein-Westfalen und die Kunststiftung NRW zusammen mit 6 Millionen Euro, die Stadt Duisburg mit 5 Millionen Euro und – vermittelt durch Prof. Dr. Klaus Trützschler, Vorstandsmitglied der Franz Haniel & Cie GmbH sowie Jutta Stolle, Abteilungsdirektorin bei Franz Haniel & Cie. GmbH – drei Großunternehmen der Duisburger Wirtschaft: Franz Haniel & Cie. GmbH, Klöckner & Co SE (mit Dr. Thomas Ludwig, Vorstandsvorsitzender) sowie ThyssenKrupp Steel AG (mit Dr. Karl-Ulrich Köhler, Vorstandsvorsitzender) mit 4 Millionen Euro.

Die Erbengemeinschaft Lehmbruck hat einen großzügigen Preisnachlass gewährt und ist dem Lehmbruck Museum durch Gewährung von Ratenzahlungen bis zum Jahre 2011 entgegengekommen.

Für Prof. Dr. Christoph Brockhaus, Direktor der Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum, kann die seit langem angestrebte Sicherung des gesamten Lebenswerkes von Wilhelm Lehmbruck als Basis der herausragenden internationalen Skulpturensammlung des 20. Jahrhunderts nicht hoch genug eingeschätzt werden. Darum wird das Museum auch – mit Blick auf das Kulturhauptstadtjahr RUHR 2010 – das Schaffen Wilhelm Lehmbrucks unter betonter Einbeziehung der Neuerwerbungen in den Jahren 2009/10 in einer Folge von wechselnden Präsentationen der Öffentlichkeit vorstellen. Diese Reihe hat bereits mit der derzeitigen Ausstellung der Zeichnungen von Lehmbruck und Beuys begonnen (bis 11.1.2009). Außerdem werden zahlreiche Hauptwerke Lehmbrucks im Zentrum einer Ausstellung stehen, die unter dem Titel „Oublier Rodin? La sculpture entre 1905 et 1914“ von März bis Mai 2009 im Musée d’Orsay in Paris und von Juni bis Oktober 2009 in der Fundación Mapfre in Madrid präsentiert wird.

Zeitgleich mit dem erfolgreichen Abschluss über den Erwerb des Wilhelm Lehmbruck-Nachlasses konnten auch zwei weitere, für die Zukunft des Lehmbruck Museums in höchstem Maße wichtige Entscheidungen getroffen werden: die Aufstockung des Siftungskapitals um 4,6 Millionen Euro durch das große Engagement der drei genannten Duisburger Großunternehmen und der Ratsbeschluss der Stadt Duisburg, dem Museum in den Jahren 2009-2013 einen jährlichen Zuschuss in Höhe von 2 Millionen Euro zu sichern. Damit gewinnt das Lehmbruck Museum mittelfristig eine stabile finanzielle Grundlage für seine weitere Entwicklung.

II   Geschichte des Werkes von Wilhelm Lehmbruck in Duisburg

Mit diesem Ankauf dokumentiert Duisburg erneut sein Bekenntnis zu Wilhelm Lehmbruck (1881-1919), dem bedeutendsten Künstler in der Geschichte der Stadt.

Das Verhältnis von Lehmbruck und Duisburg ist durch eine bewegte Geschichte gekennzeichnet. Auf den einzigen Lebzeitankauf, die „Duisburgerin“ 1912, finanziert von der Familie Böninger, folgt die Absage des Künstlers für eine „Heldenfigur“ auf dem Ehrenfriedhof des Kaiserbergs 1915. Erst 1925, sechs Jahre nach dem frühen Freitod des Künstlers, gelingt es August Hoff als Direktor des Museumsvereins, einen großen Teil des Nachlasses als Leihgabe von der Witwe des Künstlers, Anita Lehmbruck, zu gewinnen. 1927 findet bereits der präfaschistische Angriff auf die Bronze der „Knienden“ statt. Die Nazis verfolgen das Lehmbrucksche Werk als „entartet“, weshalb der Nachlass an die Familie zurückgegeben werden muss. Nur unter größtem und gefährlichem Einsatz sowie unter Hinnahme einiger Kriegsverluste kann die Familie Lehmbruck das Lebenswerk des Künstlers über die NS-Zeit retten. Wegen dieser Erfahrungen erst spät und unter erheblichen Mühen gelingt es der Stadt Duisburg 1964, mit der Eröffnung des von Manfred Lehmbruck geplanten Lehmbruck Museums auch den Lehmbruck-Nachlass leihweise von der Familie zurückzugewinnen, ohne ihn vertraglich sichern zu können. Im Gegenzug präsentiert das Museum seitdem das Lebenswerk des Künstlers im architektonisch herausragenden Lehmbruck-Trakt und organisiert zahlreiche Lehmbruck-Ausstellungen im In- und Ausland.

III       Die künstlerische Bedeutung Wilhelm Lehmbrucks

Ernst Barlach (1870-1938) und Wilhelm Lehmbruck (1881-1919) dürfen aus heutiger Sicht als die wichtigsten deutschen Bildhauer der Klassischen Moderne bezeichnet werden. Das Lebenswerk von Wilhelm Lehmbruck ist national wertvolles Kulturgut von internationaler Bedeutung. Es bildet darüber hinaus die historische Grundlage, den künstlerischen Maßstab und die konzeptionelle Perspektive für die internationale Skulpturensammlung der Moderne in Duisburg bis in die Gegenwart hinein.

Das plastische Frühwerk von 1898 bis 1906 spiegelt im wesentlichen Lehmbrucks stilpluralistische, gründerzeitliche, durch seinen Lehrer Carl Janssen vermittelte, sozial und neoklassizistisch orientierten Anfänge der Ausbildungsjahre in Düsseldorf. Vor allem über Rodin und dessen Gegenpol Maillol findet Lehmbruck bis 1910, bis zum Beginn seiner Pariser Jahre, zu seinem eigenen plastischen Stil und Ausdruck: in introvertierten, vergeistigten Figuren, die strenger als bei Maillol architektonisch gebaut sind, die von Maß und Proportion bestimmt sind und in schönliniger Silhouette zusammengehalten werden. Durch Streckung und Verräumlichung der Figur steigert Lehmbruck bis 1914 den Ausdruck seiner Idealgestalten von Mann und Frau. Mit seiner „übersinnlichen Tektonik“ hat er den Durchbruch zur Moderne in Bronze-, Steinguss- und Terrakottafiguren erreicht. Die erzwungene Rückkehr nach Berlin 1914 und die Erfahrung des Weltkrieges wenden das Tektonische ins Expressive, Fragmentarische und Reduzierte. Es entstehen in den Berliner und Züricher Jahren bis 1918/19 die existenziellen Antikriegsplastiken des „Gestürzten“ und des „Sitzenden Jünglings“, innige und erschütternde Menschenbilder voller Melancholie und Einsamkeit, die eine tiefe Sehnsucht nach Liebe und Menschlichkeit, Transzendenz, innerem Frieden und gereinigter, lichter Welt zum Ausdruck bringen.

Parallel zu seinem plastischen Werk entwickelt Lehmbruck in seinen Pariser Jahren ein malerisches Schaffen, das über Bildnisse und Akte, paradiesische Gruppenbilder und konfliktgeladene Beziehungsthemen von Mann und Frau in den bewegten, zeichnerischen Expressionismus der letzen Jahre einmündet. Ebenfalls in den Pariser Jahren entwickelt Lehmbruck schließlich sein druckgrafisches Werk, vor allem in Radierungen, die eine eigene Ikonografie beinhalten, aber auch Themen seiner Plastik aufgreifen. Zupackend und unkonventionell geht der Künstler mit dem Grabstichel wie mit den Papieren beim Drucken um und verändert wiederholt die Zustände dieser Blätter.

Bindeglied zwischen allen Kunstgattungen und doch immer wieder auch autonom ist die Zeichnung, die in reichlicher Fülle den entschiedenen Formwillen mit der Zartheit des Ausdrucks verbindet und wiederholt Vergleiche mit dem frühen Werk von Joseph Beuys ermöglicht. Zusammenfassend darf man für das Schaffen ab 1910 behaupten, dass Lehmbruck durch seine „übersinnliche Tektonik“ und „abstrahierte Expressivität“ einen frühen und wesentlichen Beitrag zum modernen Menschenbild in der Kunst des 20. Jahrhunderts geleistet hat.