Wenn es für eine Erwerbung gleich zwei Präsentationstermine gibt, ist das ein Indiz für ihren besonderen Ereignischarakter: So war es im Falle der Erwerbung des literarischen Vorlasses Martin Walsers, für die es neben einem ersten, halbprivaten Termin anlässlich der Bekanntgabe der Neuigkeit im heimischen Haus der Familie Walser am Bodensee auch einen offiziellen Festtermin im Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) gab.
Der Autor Martin Walser (*1927) gehört unbestritten zu den zentralen literarischen Figuren der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Noch mehr vielleicht als in den Werken vieler seiner Schriftstellerkolleginnen und -kollegen spiegelt sich in seinem Schreiben immer auch die Zeitgeschichte gerade der BRD vieler letzter Jahrzehnte wider, nicht zuletzt auf provozierende Weise – schließlich umfasst das Schaffen Walsers mittlerweile um die 70 Arbeitsjahre. Eine große Erwerbung ist nun u. a. mit maßgeblicher Hilfe der Kulturstiftung der Länder gelungen: Das gesamte „Literarische Archiv“ Martin Walsers, so der nicht zu wenig versprechende Titel, konnte für das Deutsche Literaturarchiv Marbach angekauft werden.
Dabei war ein Teil des literarischen Vorlasses Walsers bereits seit geraumer Zeit im DLA vor Ort – ein Teil seiner Dokumente, die jetzt ihren Besitzer wechseln, lagert nämlich bereits als Depositum im Archiv, sozusagen als eine Art Dauerleihgabe zur Nutzung. Einen weiteren Teil, gerade der Manuskripte, konnte das Deutsche Literaturarchiv bereits früher vollständig erwerben.
Der größere Part des jetzt verhandelten Vorlasses befand sich indes nach wie vor in Nussdorf am Bodensee – und bei der Lektüre des schriftlichen Archivverzeichnisses kommt tatsächlich das Gefühl auf, als durchliefe man das Haus Walsers: so etwa, wenn man die verschiedenen Bezeichnungen der Lagerorte wie „Zimmer unten, Schrank mit weißen Schubladen, wandseitig“, „Zimmer oben, hinter dem Schreibtisch“ oder „großer Kellerraum“ liest. Das literarische Archiv Walsers wird auf diese Weise auch biographisch-räumlich erfahrbar.
Beeindruckend ist der Umfang der Erwerbung außerdem in seinen numerischen Dimensionen: Mehrere 100 der legendären grünen Marbacher Archivkästen können mit ihr gefüllt werden, es handelt sich um knapp 59.000 beschriebene Seiten. Der oben bereits angesprochene zeithistorische Wert des Schaffens Walsers dürfte sich schon in den insgesamt 75 seit 1958 geführten Tagebüchern widerspiegeln (von denen einige bereits in bearbeiteter Form publiziert sind), die allein mehr als 25.000 Seiten umfassen und die dabei nicht zuletzt Aufschluss über Walsers Vernetztheit im deutsch(-deutschen) Literaturbetrieb geben.
Den verhandelten Vorlass dem Deutschen Literaturarchiv zu übereignen, schien unter mehreren Aspekten absolut sinnvoll: Nicht nur war, wie erwähnt, ein großer Teil des literarischen Archivs Martin Walsers bereits in den Marbacher Kellern vorhanden und Teile des nun zu überführenden Erbes ja bereits als Depositum an das Deutsche Literaturarchiv ‚ausgeliehen‘. Der starke sammelhistorische Schwerpunkt Marbachs im 20. Jahrhundertund im Bereich der südwestdeutschen literarischen Landschaften ließen es darüber hinaus zwingend erscheinen, Walsers Papieren hier ihren festen Ort zu geben. In Marbach können sie auf Dauer der Ausstellung wie der Forschung zur Verfügung stehen. Für das anhaltende Interesse am Werk Walsers spricht auch der Umstand, dass inzwischen mehrere in- und ausländische Universitäten angekündigt haben, auf der Grundlage des Archivs eine neue wissenschaftliche Werkausgabe erarbeiten zu wollen.
Walsers Briefe bilden einen weiteren zentralen Teil des Vorlasses. Die Korrespondenzen sind anscheinend vollständig überliefert. Die Liste der Briefpartner reicht von Alfred Andersch über Rudolf Augstein, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Jürgen Habermas, Uwe Johnson, Hans Werner Richter und Arno Schmidt bis zu Siegfried Unseld – ein umfassendes Panorama der westdeutschen Geistesgeschichte der vergangenen Jahrzehnte. Intensivere Briefwechsel umfassen dabei etwa diejenigen zu Uwe Johnson, Marie-Louise Scherer, Arno Schmidt oder Arnold Stadler. Sie dokumentieren nicht nur etwa Walsers Arbeit beim Süddeutschen Rundfunk (im Vorlass finden sich auch Tonbandkassetten), sondern ebenso seine Beteiligung an der „Gruppe 47“ oder die Verbindung zu den Verlagen Suhrkamp und Rowohlt. Ähnlich den Tagebüchern bzw. ihren (noch zu erstellenden, auch wenn die Edition bereits begonnen wurde) Registern geben auch die Briefe Aufschluss über die Netzwerke, Freundschaften, Bekanntschaften und wohl nicht zuletzt auch Feindschaften Walsers.
Zu den schönsten Funden dieser Erwerbung gehören indes vielleicht die Materialien, die Walser verwendete, um seine fiktionalen Texte entstehen zu lassen – so wenn er, ein Extremfall, bei „Brief an Lord Liszt“ und „Die Verteidigung der Kindheit“ auf Nachlässe realer Personen zurückgegriffen hat, die ebenfalls im nun zu übereignenden Archiv vorhanden sind: ein Nachlass im Nachlass, ein Nachlass hoch zwei sozusagen. Wenn wir hier die faktischen Dokumente, die Walser zum Verfassen seiner fiktiven Texte benutzt hat, einsehen können, sind wir in der Lage, dem Autor beim Verfassen seiner Stücke „in actu“ über die Schulter zu schauen. Ist dies ein faszinierender Begleitumstand eines jeden literarischen Nachlasses, erscheint es umso signifikanter für Einblicke in das Schreiben Walsers, da dieser Autor oft mit dokumentarischen Mitteln gearbeitet hat – was die Verzahnung mit der (Zeit-) Geschichte nur noch einmal auf andere Weise deutlich macht.
Beim möglichen ‚mikroskopischen Blick‘ über Walsers Schulter lassen sich außerdem verschiedenste Erkenntnisse gewinnen – etwa, dass die ersten Fassungen der Schriften Walsers scheinbar immer handschriftlich erfolgen: ein wortwörtlicher ‚Einblick‘, welchen die übliche gedruckte Ausgabe aus der Buchhandlung nie vermitteln kann, in der ja immer nur die gedruckte Fassung letzter Hand abgebildet ist. Dies gilt ebenso für die Möglichkeit, im „Literarischen Archiv“ Walsers die Rückseiten verwandter Manuskriptseiten zu begutachten – auf denen sich teilweise Presseartikel oder Abdrucke von Reden anderer und vieles mehr finden, die ebenfalls Aufschluss über die Werkgenese Walsers geben können. Das Gleiche gilt für Aufzeichnungen des Autors zu Goethe, Hölderlin oder Kafka, die ebenfalls Eingang in die Erwerbung gefunden haben und Aufschluss über die Einfluss- und Rezeptionsgeschichte des Autors geben.
Bei all diesen Einblicken wird deutlich, dass starke Streichungen und Überarbeitungen die Textarbeit dieses Autors auszeichnen. Oft werden Korrekturen aus einer weiteren Überarbeitung mit anderen Schreibgeräten und einer anderen, kleineren Schriftgröße gekennzeichnet. Hier können nicht nur das bekannte ‚große‘ Erzählwerk, sondern auch die kleineren Prosastücke oder Dramatik in den Fokus von interessierten Laien wie Wissenschaftlern geraten. Dabei neigen nicht alle Autoren dazu, sich schon zeitlebens so vollständig selbst zu archivieren wie Walser. Soweit es sich von den bisher einzusehenden Materialien schlussfolgern lässt, hat Walser alle literarischen Arbeiten, und zwar in sämtlichen Fassungen, aufgehoben. Und dabei war Walser ja in vielen Gattungen produktiv und erfolgreich: Hörspiele, Bühnenwerke, Romane und Erzählungen, Essays gehören ebenso wie Reden und Literaturkritiken zu seinem umfangreichen Schaffen. Im jetzt verhandelten Archiv sind die Essays, Reden und Aufsätze mit insgesamt 173 Konvoluten indes besonders reichhaltig überliefert.
Auch weitere biographische Dokumente wie Reise- oder Studienunterlagen sind im Gesamtkonvolut enthalten und machen oft einen besonderen Reiz aus – sie bilden auch den noch direkteren Zugang zur Walser begleitenden Zeitgeschichte. Außerdem finden sich ganz andere Objekte wie eine Malgrafik, eine Büste sowie Kunstwerke mit Bezug zu Walser als Teil der Erwerbung.
Martin Walser feierte vor wenigen Monaten seinen 96. Geburtstag – und hat prompt einen neuen Gedichtband veröffentlicht, „Fisch und Vogel lassen grüßen“. Walser setzt sich in ihm erneut mit der Bodenseelandschaft auseinander, seine Tochter Alissa hat abermals illustriert. Das „Literarische Archiv“ dieses Autors wächst also nach wie vor.
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