Der doppelte Strittmatter
Seine Tagebücher in 400 Oktavheften entfalten nicht weniger als vier Jahrzehnte Kulturgeschichte der DDR: Erwin Strittmatter (1912–1994), entdeckt und gefördert von Bertolt Brecht, ostdeutscher Großschriftsteller und erfolgreicher Pferdezüchter, Protagonist des sozialistischen Entwicklungsromans und Erfinder des Landwirtschafts-Romans, in den frühen Jahren der DDR engagierter Parteigänger der SED, im Krieg diente er in einer Einheit der Ordnungspolizei, später dann zeitweilig als Informant bei der Staatssicherheit geführt – das höchst wechselhafte Leben des deutsch-sorbischen Bestsellerautors lässt sich zukünftig in vielen Facetten in Berlin erforschen: Mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder erwarb die Akademie der Künste das vollständige Archiv des Autors sowie den Nachlass seiner Frau Eva Strittmatter (1930–2011), die als Lyrikerin in der DDR reüssierte und mit ihren volkstümlichen Gedichtbänden Rekordverkaufszahlen erzielte.
Als einer der meistgelesenen Autoren der DDR, dessen Werke in 40 Sprachen übersetzt wurden, beruhte Erwin Strittmatters Erfolg – paradigmatisch an seinem Roman „Ole Bienkopp“ (erschienen 1963) ablesbar – auf einer sozialistischen Gefühlsüberzeugung, die er gegen einen „Funktionärssozialismus“ setzte: Viele seiner Bücher entfachten als Ausdruck der mentalen Verfassung des Landes teilweise lange, erbitterte Debatten. Werke wie der letzte Teil der Trilogie „Der Wundertäter“, der die stalinistischen Jahre der DDR thematisierte, durften lange nicht veröffentlicht werden. Seine autobiographisch inspirierte Romantrilogie „Der Laden“ erschloss dem Autor nach der Wende durch eine Verfilmung auch ein breites westdeutsches Publikum.
Beide Archive entfalten durch ihren großen Umfang und weitestgehende Vollständigkeit ein breites Panorama des Schaffens der Schriftsteller, sie enthalten viele unbekannte und teilweise unveröffentlichte Materialien: Von besonderem literarhistorischen Wert sind die Manuskripte Erwin Strittmatters – Tausende von Tagebuchauszügen, Vorarbeiten, Exposés, Ur- und Frühfassungen, Rohhandschriften, Tonbänder, Reinschriften und Druckfahnen, Bühnenfassungen insbesondere aus seiner Berliner-Ensemble-Zeit von 1935 an bis zu seinem Tod, Filmskripte sowie die Korrekturfassungen seiner politischen Arbeiten wie Reden, Referate, weiterhin Zeitschriftenbeiträge und Interviews sowie Dokumente zu vielen nicht realisierten Schriften, Verfilmungen und Rundfunksendungen. Daneben öffnet sich ein einmaliger Einblick in das kulturelle Leben der DDR durch die umfangreichen Korrespondenzen der Strittmatters mit nahezu allen wichtigen Persönlichkeiten der DDR-Kulturszene und darüber hinaus. Die Tagebücher Erwin Strittmatters von 1954 bis 1994 mit ungeschminkten Kommentaren und Gedanken zum literarischen, politischen und gesellschaftlichen Leben in der DDR werden derzeit erstmalig in Auszügen ediert; der erste Band der Tagebücher erschien im Sommer 2012, der zweite ist für 2014 avisiert. Die in jüngerer Zeit geführten Debatten um die Mitarbeit des Nationalpreisträgers und Parteimitgliedes Strittmatter bei der Staatssicherheit der DDR sowie um seinen Einsatz in der Ordnungspolizei während des Zweiten Weltkriegs wird die Forschung sicher auch durch den jetzt möglichen Zugang zu vielen unbekannten Materialien bereichern.
Erwin Strittmatter war – neben Bertolt Brecht – der zweite zentrale Autor der frühen DDR, eine Position, die später auf Christa Wolf und Heiner Müller überging. Die Akademie der Künste betreut neben den Archiven der drei genannten Autoren den breitesten Fundus zur DDR-Literatur und DDR-Kultur überhaupt, zum einen aus historischen Gründen, weil sie auch das zentrale Künstlerarchiv der ehemaligen Ost-Akademie beherbergt, zum anderen auf Grund von nach 1989 getätigten Erwerbungen, zu denen etwa das Archiv des Schriftstellerverbandes der DDR gehört.
Das Archiv von Eva Strittmatter – Erwin Strittmatters Ehefrau und spätere Herausgeberin – betrifft ihre Arbeit als Lyrikerin sowie ihre umfangreiche Leserkorrespondenz. Die Dichterin Eva Strittmatter gehörte zur zweiten Generation der DDR-Literatur, wie Christa Wolf studierte sie Germanistik. Der große Erfolg ihrer durch volksliedhafte Strophen und leicht verständliche Natur- und Alltagsmotive geprägten Dichtung machten sie zur auflagenstärksten und meistgelesenen Lyrikerin der Gegenwart in der DDR und nach der Wende im Osten Deutschlands. Die enge Bindung an ihr Publikum verstärkte sie durch Lesungen und ausgedehnte Briefwechsel. Die Korrespondenzen werden als aufschlussreiches Material das literarische Kommunikationssystem und die Funktion von Briefwechseln als Ersatzöffentlichkeit in der DDR illustrieren. Beide Autoren verstanden sich als Volksschriftsteller und wurden auch als solche wahrgenommen – nicht im Sinne einer verkaufsfördernden Strategie, sondern aus einem grundsätzlich anderen Literaturverständnis, nach dem die Literatur antielitär, ohne soziale Abgrenzung, dem Austausch von Lebenserfahrungen dienen sollte.
Für die Forschung eröffnen sich nun in der Akademie der Künste einzigartige Quellen zur Erforschung von Werk und Leben zweier bedeutender Schriftsteller der DDR.