Impressionistisches Landschaftsbild
ERWERBUNG / NORDRHEIN-WESTFALEN

Der befreite Blick

Gerecht und fair: Mit der Restitution eines späten Renoir-Gemäldes und dem sofortigen Rückkauf für das Osthaus Museum Hagen wurde aus einer moralischen Hypothek eine Erfolgsgeschichte / Oliver Jungen

Der Blick hat die Richtung der Sehnsucht, nach Süden, ins Offene. Das Azurblau des Mittelmeers und das Hellblau des Himmels scheinen sich in weiter Ferne vorsichtig zu berühren. Vor dem Meer liegt eine flirrende, paradiesische Landschaft, Bäume, Felder, Häuser mit roten Dächern. Keine zwei Kilometer ist die Küste vom Standort des Betrachters entfernt, einem kleinen Olivenhain in den Hügeln des bei Nizza gelegenen Örtchens Cagnes-sur-Mer. Der klimatischen Bedingungen wegen war der schwer an rheumatoider Arthritis erkrankte Pierre-Auguste Renoir an diesen Ort gekommen. In seinem geliebten Olivenhain ließ er 1907 die herrliche Villa Les Collettes (heute Renoir Museum) erbauen, seinen Alterssitz. In dem kleinen Gemälde „Blick von Haut Cagnes aufs Meer“ (1910) scheint damit ein ganzes Künstlerleben aufgehoben zu sein. Es hält die Perspektive fest, die Renoir, der sich zuletzt den Pinsel an die verkrümmte Hand binden ließ, bis zu seinem Tod im Jahr 1919 einnahm und immer wieder malte: der Blick über die ungezähmten Olivenbäume. Seine letzte, bunteste Periode. In der schwebend leichten, zuversichtlichen Stimmung des Bildes, in seiner in hingetupfte Farbigkeit sich auflösenden Struktur, durch die aber ein umso prägnanteres Abbild dieser traumhaften Landschaft hindurchschimmert, handelt es sich zugleich um ein Musterbeispiel des Spätimpressionismus. Renoir, der Miterfinder dieser lichten Seelenmalerei am Ursprung der Moderne, hatte sich zunächst einen Namen gemacht als großer Pariser Menschenmaler und Spezialist für weiche Porzellanhaut-Figuren. Landschaften waren immer schon unter seinen Motiven, aber in solcher Vehemenz widmete er sich ihnen erst im Alter. Und auch diese Landschaftsstudien waren bei Sammlern gefragt. Nach dem Tod des Künstlers gelangte das genannte Bild über die Pariser Galerie Bernheim-Jeune an die Berliner Galerie Matthiesen, wo es einer der bedeutendsten Bankiers der Weimarer Republik, Jakob Goldschmidt, um 1928/29 für die Kunstsammlung in seiner Babelsberger Villa erwarb.

Damit jedoch begann das dramatische Schicksal dieses Gemäldes erst. Ein volles Jahrhundert der politischen Verwerfungen sind in dem Bild inzwischen ebenfalls gespeichert, wurden Teil seiner Biografie. Die Odyssee, die mit einem Raub begann, fand erst im Sommer 2023 – mit der Restitution des Werks an die Erben Jakob Goldschmidts bei gleichzeitigem Rückkauf für das Osthaus Museum Hagen nach den Washingtoner Prinzipien – einen glücklichen Abschluss. Die Kulturstiftung der Länder unterstützte den Ankauf mit 70.000 Euro. Es lohnt sich, den Verzweigungen der Besitzgeschichte von „Blick von Haut Cagnes aufs Meer“ nachzugehen, um einen Eindruck davon zu gewinnen, was eine solche Restitution für alle Seiten bedeutet.

Da ist zunächst der Käufer. Jakob Goldschmidt war auf dem Höhepunkt seiner Karriere alleinhaftender Gesellschafter der Danat-Bank, die als zweitgrößte Bank Deutschlands im Jahr 1931 – nicht zuletzt durch die deutsche Deflationspolitik in der Weltwirtschaftskrise und den daraus resultierenden Abzug ausländischer Investoren – in Schieflage geriet. Nach einem Kreditausfall durch die Pleite des Nordwolle-Konzerns wurde die Danat-­Bank zahlungsunfähig. Goldschmidt übereignete der Bank Ende 1931 seine beträchtliche Kunstsammlung als Kreditsicherung. Die Bank war dennoch nicht zu retten, fusionierte 1932 mit der Dresdner Bank und ging mit dieser zum großen Teil in „Reichsbesitz“ über. Dann folgte der Zivilisationsbruch. Der jüdische Bankier Goldschmidt floh nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 in die Schweiz und schließlich in die USA. Die deutsche Staatsangehörigkeit wurde ihm 1940 entzogen, sein Vermögen – inklusive der hinterlegten Kunstsammlung – am 18. Februar 1941 entschädigungslos eingezogen. Bereits am 25. September 1941 ließ das Finanzamt Berlin-Moabit die nach seiner Auffassung von Goldschmidt der Bank bloß verpfändeten Kunstwerke im Auktionshaus Hans W. Lange versteigern. Hier sicherte sich die Gattin eines Wehrmachtsoffiziers, Hildegard Diehn, Renoirs „Blick von Haut Cagnes aufs Meer“. Das Gemälde wurde ihr nach eigenen Angaben bei Kriegsende durch russische Soldaten entwendet. Es tauchte aber alsbald wieder auf dem Kunstmarkt auf. Spätestens 1960 ist es in der Galerie Nathan in Zürich nachweisbar, wo es der rheinländische Jurist Gustav Stein, zu dieser Zeit Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), erwarb. Er vermittelte das Bild weiter an den Matratzenfedernproduzenten Fritz Berg, von 1946 bis 1971 Präsident der IHK Südwestfalen und von 1949 bis 1971 erster BDI-Präsident. Fritz Berg starb 1979 in Köln. Seine Witwe Hildegard Berg vermachte die Kunstsammlung Berg – inklusive des wertvollen Renoir-Gemäldes – nach ihrem Tod Ende 1988 überraschend dem Osthaus Museum Hagen. Das Haus könne seither noch spannendere Ausstellungen organisieren, sagt dessen Direktor Tayfun Belgin im Gespräch, denn nur wer attraktive Werke besitze und verleihen könne, bekomme solche auch von anderen Museen.

Persönlich verbindet Belgin einiges mit dem Renoir-Gemälde: „Die langjährige Kustodin und stellvertretende Leiterin des Osthaus-Museums, Birgit Schulte, und ich haben den ganzen Rückgabeprozess eng begleitet, der in etwa so lange läuft, wie ich an diesem Haus tätig bin, seit dem Jahr 2007.“ Damals sei ein Brief der Anwältin der Erben Jakob Goldschmidts eingegangen, in dem ein Rückgabeanspruch angemeldet wurde, was zu intensiven Recherchen zur Provenienz des Bildes geführt habe. Diese Prüfung, die zu großen Teilen über das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg und seine Vorgängereinrichtung erfolgte, habe ergeben, dass es sich um NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut handele. Sowohl das Museum als auch die Stadt Hagen, fügt Belgin hinzu, hätten dem gesamten Prozess sehr wohlwollend gegenübergestanden: „Wir sind da als Nachkommen in einer moralischen Schuld.“ Von Beginn an habe es bei den Erben auch die Bereitschaft zum Rückkauf gegeben. Es habe also nie die Gefahr bestanden, dass das Bild in einer Auktion landen würde wie Ernst Ludwig Kirchners „Berliner Straßenszene“ im Jahr 2006. Warum das Prozedere knapp sechzehn Jahre gedauert habe, wisse er auch nicht, sagt Belgin, aber solche letztlich politischen ­Verfahren seien eben langwierig. Und weshalb brauchte es den Anstoß aus New York? Der Direktor räumt ein, dass Museen gehalten seien, in ihren Sammlungen proaktiv nach NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut zu fahnden: „Für kleine und mittelgroße Museen ist es aber schwierig, diesem Auftrag mit unseren begrenzten Ressourcen schnell nachzukommen.“

Dass das Bild 1989 im Osthaus Museum landete, ist rein sammlungstechnisch ein großer Glücksfall, und das hat mit der speziellen Geschichte des Hagener Hauses zu tun. Es geht zurück auf zwei Nestoren der modernen Kunst in Deutschland, Karl Ernst und Gertrud Osthaus, die gemeinsam das immense Vermögen des Unternehmersohns für markante Museumsgründungen und die Förderung der Avantgarde nutzten. In Hagen entstand um 1900 ein großer Museumsbau für die damals zeitgenössische Kunst, das erste Museum seiner Art weltweit, benannt nach der „Halle des Volks“ in der „Edda“: Folkwang-Museum. Als der Rohbau im Stil der Neorenaissance bereits stand, lernte Karl Ernst Osthaus den flämischen Architekten und Designer Henry van de Velde kennen, dem er den gesamten Innenausbau im Neuen Stil anvertraute. Noch heute strahlen die hellen Jugendstilräume eine vollendete Harmonie aus. Als das Folkwang-Museum 1902 eröffnete, waren Werke von Paul Signac, Auguste Renoir, Vincent van Gogh, Paul Gauguin oder Auguste Rodin zu bestaunen. Zu den Spitzenstücken zählte Renoirs „Lise mit dem Sonnenschirm“ von 1867. Es zeigt Renoirs erste Liebe Lise Tréhot; mit diesem Bild nahm die Renoir-Welt der weichen Schatten endgültig Gestalt an. Osthaus hatte „Lise“ im Mai 1901 gemeinsam mit van de Velde, seinem wichtigsten Mentor in Sachen moderner Kunst, in der Berliner Secession entdeckt und für 18.000 Mark gekauft: „Der Renoir ist so rasend schön, daß ich nicht widerstehen konnte.“ Dass Osthaus, der große Sammler, politisch eine zwiespältige Figur war, sei nicht verschwiegen. Er selbst berichtete noch 1918 mit leichtem Stolz, dass er „infolge eines zu intimen Verkehrs mit den Deutschnationalen in Oesterreich des Landes verwiesen wurde“. Auch seine Biografen Rainer Stamm und Gloria Köpnick wiesen jüngst darauf hin, dass der später von der Weltkunst und der Weimarer Republik überzeugte Osthaus in jungen Jahren durchaus antisemitische Floskeln benutzte und sich nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu patriotischem Überschwang hinreißen ließ. Eng befreundet war das Ehepaar von 1906 an auch mit Ada und Emil Nolde, die sich bald als glühende Antisemiten und Nationalsozialisten zu erkennen geben würden. Nichtsdestotrotz entstand in Hagen eine der prägenden deutschen Kunstsammlungen, die die Stadt zu einem Zentrum der Avantgarde machte. Nach dem Tod von Karl Ernst Osthaus wurde die Sammlung im Jahr 1922 an die Stadt Essen verkauft, weil Hagen die Übernahme nicht finanzieren konnte. Seither hat das Museum Folkwang seinen Sitz in Essen.

Im Herbst 1945 kam es in Hagen – nach einer Zwischennutzung des historischen Gebäudes – zur Neugründung des Karl Ernst Osthaus Museums. Die drei Jahrzehnte lang das Museum leitende erste Direktorin Herta Hesse-Frielinghaus fühlte sich Osthaus’ Ideen und Sammlungsprofil verpflichtet, weshalb sie zunächst vor allem deutsche und französische Kunst aus dem 19. und 20. Jahrhundert erwarb. „Osthaus-like“ nennt Belgin das. Das nun durch Rückkauf gesicherte Gemälde habe in dieser Hinsicht eine ganz besondere Bedeutung: „Es war immer der dezidierte Wunsch von Herta Hesse-Frielinghaus, wieder einen Renoir zu besitzen, auch wenn nach dem Zweiten Weltkrieg diese Dinge sehr teuer wurden. Zu teuer. Umso schöner, dass wir doch noch zu einem Renoir-Spätwerk gekommen sind, das zudem eine Landschaft zeigt, die die Eheleute Osthaus bei ihrem Besuch in Cagnes persönlich so gesehen haben. Es ist der einzige Renoir der Sammlung.“ Die Beziehung der Sammler zu diesem Maler war wie die zu Cézanne, Matisse und den Brücke-Künstlern besonders eng. Gertrud Osthaus hatte Renoir 1912 und 1913 auch alleine am Mittelmeer besucht, ließ sich von ihm porträtieren und kaufte mehrere Bilder. In der Essener Folkwang-Sammlung gibt es mit „Olivengarten“ (um 1910) ein direkt mit dem Hagener Bild korrespondierendes Gegenstück.

Was die Rückgabe des Renoirs für die weiteren Stücke der Sammlung Goldschmidt bedeute (einige Werke wurden bereits restituiert), könne er nicht einschätzen, sagt Belgin. Jakob Goldschmidt selbst war indes 1953, zwei Jahre vor seinem Tod, kein Glück vergönnt bei dem Versuch, von der Dresdner Bank eine Millionenentschädigung oder eine Wiedergutmachung durch die Bundesrepublik Deutschland zu erhalten. Er musste sich vom Landgericht Berlin sogar vorhalten lassen, „durch seine überaus gewagten Investitionen den Zusammenbruch der Danat-Bank herbeigeführt“ zu haben und damit „den Beginn der großen Wirtschaftskrise in Deutschland, die letztlich Hitler den Weg ebnete“. Einem jüdischen Bankier, der unternehmerische Fehler gemacht haben mag, aber der vor nationalsozialistischen Mördern fliehen musste und dessen Vermögen gestohlen wurde, die Verantwortung für Hitlers Aufstieg zuzuschieben, das ist von geradezu obszöner Perfidität.

Überglücklich zeigt sich Belgin, dass der einzige Renoir nun in der Sammlung des Osthaus-Museums verbleibe: „Ich liebe ja dieses Haus hier. Und Sie dürfen nicht vergessen, dass Hagen ein schwieriger Standort ist. Unser Museumskomplex ist eine Wucht, sehr großstädtisch, aber die Stadt selbst hat leider nicht das Image als Kunststadt, das sie eigentlich verdient hätte.“ Gemeinsam mit je einem Werk von Armand Guillomin, Maximilian Luce und – dem architektonisch ohnehin allgegenwärtigen – Henry van de Velde repräsentiere das Bild nun weiterhin sehr prominent den (Spät-)Impressionismus in der Hagener Sammlung. Bis zum 7. Januar 2024 waren die vier Bilder in der Ausstellung „Europäische Avantgarde“ zu sehen, danach sollen sie – in ganz neuer Hängung – im ersten Stock des Altbaus ausgestellt werden. Der Renoir samt Erläuterung seiner Geschichte soll nach aktueller Planung das Entrée bilden. „Ich gehe nächstes Jahr in den Ruhestand“, sagt Tayfun Belgin, „und dieser Restitutionsprozess hat mich all die Jahre hier begleitet. Dass das abgeschlossen ist, wenn ich gehe, macht mich froh.“ Auch die Erben ließen über ihre Anwältin mitteilen, mit der gerechten und fairen Lösung sehr zufrieden zu sein: „Die mit der Restitution des Gemäldes verbundene Anerkennung der Tatsache, dass ihr Großvater während des NS-Regimes erhebliches Unrecht auch in Gestalt massiver Vermögensverluste erlitten hat, und die Bereitschaft der Stadt Hagen, dieses Unrecht im Rahmen ihrer Möglichkeiten wiedergutzumachen, obwohl sie selbst nicht unmittelbar davon profitierte, bedeutet ihnen viel.“ Damit kann dieses kleine Gemälde, befreit von einer moralischen Last, endlich wieder vollen Herzens tun, was seine Bestimmung ist: die Betrachter hoffnungsvoll in einen imaginären Süden versetzen, der sich sanft in Himmel, Meer und Unendlichkeit fortsetzt.

Oliver Jungen ist Kunstkritiker und schreibt u. a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

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