Das sind meine Märchen
Auch das war hier zu finden: Einsamkeit. Eine ganz andere Einsamkeit als im Worpsweder „Wunderland“ etwa, wo man gleichsam im Flüsterton mit der Erde und dem Himmel, mit den Menschen und den Göttern sprach. Die Einsamkeit hier, in der großen, dröhnend lauten Stadt, war jedoch gewaltig. Sie lauerte nur darauf, den Einzelnen zu verschlingen. In der Stadt der Lichter wuchsen die Schatten ins Riesenhafte: Man musste hier also selbst groß werden, um nicht darin zu versinken. „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, an denen Paula Modersohn-Beckers Freund Rainer Maria Rilke 1904 zu schreiben beginnt, handeln ja genau davon: vom abgründigen Dunkel in der Weltstadt Paris, die wir doch sonst immer nur als festlich gestimmte, strahlend helle Geburtsstätte der Moderne kennen. Hier jedoch erscheint sie gespenstisch. Sie wird zum Schauplatz eines denkwürdigen Überlebenskampfes. Malte Laurids Brigge, sein Protagonist, den es aus nordischer Provinz in das Paris der anbrechenden Moderne verschlagen hat, ist dabei eingehüllt in den „Cordon sanitaire der absoluten Einsamkeit“ (F. J. Raddatz).
Paula Modersohn-Becker brach am 14. Februar 1905 zum dritten Mal aus Worpswede nach Paris auf. Und neben allem anderen, neben den Museen, den Galerien und Künstlerateliers, dem ganzen großen, schäumenden Menschenozean, der sich tags und nachts über die breiten Boulevards ergießt, wird sie auch, als Herausforderung, die kolossale Einsamkeit gesucht haben, die nur dort zu finden war: im Paris Malte Laurids Brigges. Aus dem „Götterland“ war sie in die Weltstadt geflohen: um zu wachsen. „Es brennt in mir ein Verlangen, in Einfachheit groß zu werden“, hatte sie schon nach der zweiten Paris-Reise in ihr Tagebuch notiert. Sie wusste, dass ihr dies nur dort möglich sein würde, „Aug’ in Auge einer großen einsamen Wahrheit“. Paris sei eine „schwere, schwere, bange Stadt“ hatte der Freund Rainer Maria Rilke damals nach Worpswede geschrieben. Ihren Ehemann Otto Modersohn mochte das vielleicht abschrecken, nicht aber die junge Himmelsstürmerin.
Als isoliert und einzelgängerisch beschrieb damals Rilke den Typus des modernen Künstlers, der im Paris des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts vielfach Gestalt annimmt: „Einsame im Grunde, die, indem sie sich der Natur zuwenden, das Ewige dem Vergänglichen, das im tiefsten Gesetzmäßige dem vorübergehend Begründeten vorziehen, und die, da sie die Natur nicht überreden können, an ihnen teilzunehmen, ihre Aufgabe darin sehen, die Natur zu erfühlen, um sich selbst irgendwo in ihre großen Zusammenhänge einzufügen.“ Paul Cézanne, Vincent van Gogh und Paul Gauguin gehören als Ahnherren des Postimpressionismus natürlich dazu. Aber schließlich auch Paula Modersohn-Becker. „Ich lebe im letzten Sinne wohl ebenso einsam als in meiner Kindheit“, notiert sie einmal, gleichsam als ob sie mit Rilkes Malte verschwistert wäre. So unbedingt, so hellsichtig und so instinktsicher wie niemand sonst unter den deutschen Malern dieser Jahre hat sie die Auseinandersetzung mit der französischen Avantgarde gesucht, um einen neuen, einen anderen Weg zu finden. Den Impressionismus und seine allzu diesseitigen Sehsensationen hatte sie schon längst hinter sich gelassen, als man ihn in Deutschland so recht erst zu entdecken beginnt. Sie strebt nach losgelöster Überzeitlichkeit und monumentalisierter Wesenhaftigkeit in der Darstellung der Menschen und der Dinge.
Bei ihrem dritten Paris-Aufenthalt ist sie deshalb fest entschlossen, „die Aller-Allermodernsten“ unter den Künstlern zu erkunden. Hier bricht sich schließlich ihre letzte atemlose und atemberaubende Werkphase Bahn, die bis zu ihrem frühen Tod im November 1907 zu ihren größten Meisterwerken führt – Werke, in denen die Stimulationen durch die Postimpressionisten deutlich spürbar sind und die zugleich sichtbar machen, wie die immer noch junge, immer noch im Grunde einsame Malerin all diese Anregungen aufgreift, ausprobiert, sich anverwandelt, um die Entwicklung ihrer ganz eigenen künstlerischen Sprache zum Solitären voranzutreiben.
Die beiden Stillleben, die nun aus Privatbesitz für die Bremer Kunsthalle erworben werden konnten, entstanden in dieser entscheidenden, mit der dritten Paris-Reise beginnenden Zeit. Weil sie all diese Momente in sich bündeln und aufscheinen lassen – dieses „in die Welt gehen“, das Paris für sie ebenso bedeutete wie die kolossale Einsamkeit am Nullpunkt der Moderne; die Nähe zu Rilke und den Größen der Avantgarde wie die wachsende Ferne zum „köstlichen Braun“ Worpswedes –, bereichern die beiden Gemälde den Paula Modersohn-Becker-Bestand der Bremer Kunsthalle in glücklichster Weise. Stilistisch lassen sie die damals intensivierte Auseinandersetzung mit Cézannes kühl geometrischer Bildarchitektur und dem lebhaft wogenden Pinselstrich van Goghs erkennen („Stillleben mit Robbia-Putto“), aber auch die nun einsetzende Erkundung des „Cloisonnismus’“ Paul Gauguins oder Emile Bernards, der in der betonten Flächigkeit, in den schweren, an mittelalterliche Glasmalereien erinnernden Konturlinien und den dunkelglühenden Farben des „Stilllebens mit Blattpflanze und Eierbecher“ unübersehbar ist.
Aber nicht allein deswegen scheinen sie so voller Pariser Flair. Sie gewinnen es auch über die geistige, fast schon magische Präsenz des Dichterfreundes in den beiden Stillleben. Es geht von ihnen eine ungemein schwermütige, eindringliche und suggestive Stimmung aus, die unweigerlich an Rilke denken lässt, der in diesen Jahren ja nicht nur an den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ arbeitet, sondern auch an den „Briefen über Cézanne“. Ließe sich nicht Vieles von dem, was er damals über Cézanne schreibt, auf diese Stillleben der Freundin beziehen? Etwa wenn er von der Freisetzung und vom Eigengewicht der Farben handelt: „Wie man sie ganz allein lassen muss, damit sie sich gegenseitig auseinandersetzen. Ihr Verkehr untereinander: das ist die ganze Malerei. Wer dazwischen spricht, […] der stört und trübt schon ihre Handlung.“
Vor allem jene „Sachlichkeit des Anschauens“, die man völlig zu Recht an diesen beiden eminenten Stillleben rühmt, hat in ihm einen kongenialen Interpreten und sogar einen Impresario: „Es ist ja natürlich, dass man jedes dieser Dinge liebt, wenn man es malt; zeigt man das aber, so macht man es weniger gut; man beurteilt es, statt es zu sagen. […] Man malt: ich liebe dieses hier, statt zu malen: hier ist es.“ Um aber zu dieser Sachlichkeit und Wesentlichkeit zu kommen, zur Darstellung des „Dings an sich, in Stimmung“, wie es die Malerin nach den Worten ihres Ehemannes anstrebte, musste sie gleichsam in jene abgründige und existentielle Einsamkeit eintauchen, die damals auch in den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ vermessen wird. Paula Modersohn-Becker muss gespürt haben, dass es nur dem Einsamen möglich ist, die Welt der Dinge wirklich zu begreifen und zu beschreiben – zur großen Wirkung nobler Einfachheit vorzudringen, wie sie es selbst einmal formulierte, zum „Runenhaften“.
„Ich lerne sehen“, heißt es im „Malte“ symptomatisch schon gleich am Anfang: „Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war.“ Ihn haben die einsamen Tage in Paris sehend gemacht, so wie auch Paula Modersohn-Becker hier zur Sehenden wurde. Ihr „heroischer Vorstoß ins Unbekannte“, so der Worpsweder Malerkollege Heinrich Vogeler, nimmt von nun an seinen Verlauf. Die beiden neu erworbenen Stillleben aber hängen unmittelbar damit zusammen. Sie bereichern den ohnehin schon so gewichtigen Bremer Reigen mit Werken der Malerin um die Erinnerung an diese außergewöhnliche künstlerische und biographische Konstellation. Kurz vor ihrem Tod, als sie im Kindbett lag, arrangierte sie einmal ein paar Früchte stilllebenhaft auf der weißen, natürlich an Cézannes Stillleben erinnernden Decke: „Das sind meine Märchen“, sagte sie lächelnd dazu. Der Freund Rilke hätte gewusst, was sie damit meinte. „Denn das verstandest du: die vollen Früchte“, dichtete er in dem Requiem, das er der Malerin widmete: „Die legtest du auf Schalen vor dich hin, und wogst mit Farben ihre Schwere auf.“