„Das Schwarze im Auge auf einer weißen Fläche verteilen“

Zwanzig Jahre ist es her, dass Robert Gernhardt am 15. Januar 1989 im Wilhelm-Busch-Museum eine Ausstellung seines Freundes F. K. Waechter eröffnet hat. Rund einhundert vom Künstler selbst ausgewählte Arbeiten waren damals zu sehen. Nach Waechters inzwischen schon legendärer Ausstellung „Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein“, die 1978 auch mit rekordverdächtigen Besucherschlangen vor dem Wilhelm-Busch-Museum Schlagzeilen machte, war dies also das zweite Mal. Gernhardt eröffnete seine Rede mit der Feststellung: „[…] soweit man all diese Zeichnungen als komische Zeichnungen begreift und genießt – und es ist ratsam, dies zu tun –, können sie auf das erklärende Wort mit Kusshand verzichten. Wer eine bildhafte Pointe nicht schnell und gleich begreift, dem ist mit Worten nicht zu helfen, und wer nicht von alleine Einstieg in die Waechter-Welt findet, dem werden auch lange Wegbeschreibungen nicht auf die Sprünge helfen.“

Als Friedrich Karl Waechter 2005 stirbt, hinterlässt er mit rund 4.000 Blättern ein nicht nur zahlenmäßig eindrucksvolles zeichnerisches Œuvre: Cartoons aus „Pardon“ und der Beilage „Welt im Spiegel“ (WimS) oder „Titanic“, in denen er spielerisch zwischen Nonsens und absurdem Witz, geistreicher Komik und subtiler Ironie jongliert. Oder: Bildergeschichten und Bild-Erzählungen, in denen der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind. Blätter, manchmal nur ein paar Zentimeter groß, die wie hingehaucht wirken: wenige, zarte Striche, oft nur eine Andeutung von Farbe. Andere Zeichnungen, kleineren und größeren Formats, beeindrucken durch konzentrierte Schraffur, sind mit Liebe zum Detail einfühlsam durchgezeichnet, spielen mit dem Kontrast von Schwarz und Weiß ebenso wie mit nuancenreicher Kolorierung.

F. K. Waechter, Der Anti-Struwwelpeter (Titelillustration), 1970
F. K. Waechter, Der Anti-Struwwelpeter (Titelillustration), 1970

Doch vor allem in seinen großen Büchern, die im Wesentlichen in den letzten anderthalb Jahrzehnten seines Lebens entstehen, geht Waechter künstlerisch jedes Mal einen völlig anderen, ihm zum jeweiligen Thema passend erscheinenden Weg. Jedes Buch für sich ist auch in dieser Hinsicht überraschend und neu. Faszinierend an diesen Cartoons, Bildergeschichten und Bild-Erzählungen ist die ungewöhnliche Wandlungsfähigkeit des Zeichners Friedrich Karl Waechter – seine stete Neugier auf die vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten, die ihm die unterschiedlichen Zeichen- und Drucktechniken bieten, und die spielerische Sicherheit in ihrer Anwendung. Michael Sowa wird nach dem Tod Waechters feststellen: „Er war der eleganteste Zeichner von allen.“

Ob in seinen Cartoons oder seinen Bilderzählungen: Bild und Wort sind bei F. K. Waechter stets eine Einheit. Als Doppelbegabung wie Wilhelm Busch geht Waechter mit dem Zeichenstift so meisterhaft um wie mit der Schreibfeder, unterhält mit komischen, geistreichen Wortspielen – und aberwitzigen Gedankenspielen – oder beeindruckt mit präzisen Wortfindungen gerade dann, wenn es um Fragen des Seins oder um Abgründe der menschlichen Existenz geht: „Zeichnen heißt“, so seine Quintessenz, „das Schwarze im Auge auf einer weißen Fläche verteilen.“

Die Übernahme des zeichnerischen Nachlasses von F. K. Waechter ist deshalb für die Sammlung Karikatur und kritische Graphik des Wilhelm-Busch-Museums ein großer Gewinn. Gerade im Kontext der in dieser Sammlung gespiegelten Tradition und Geschichte der Karikatur wird der künstlerische Rang Waechters, der wie kein anderer die satirische Kunst in Deutschland seit den sechziger Jahren vertritt, deutlich und nachvollziehbar. Dies gilt in Bezug auf die mit bedeutenden Konvoluten in der Sammlung befindlichen „Ahnherren“ von William Hogarth über Wilhelm Busch bis zu Saul Steinberg, und das gilt für Weggefährten wie beispielsweise Kurt Halbritter, der Anfang der sechziger Jahre zusammen mit Waechter für „Pardon“ zeichnete, oder Volker Kriegel, dessen zeichnerischen Nachlass das Wilhelm-Busch-Museum ebenfalls aufbewahrt.

Schauen wir auf den Anfang von Waechters künstlerischer Laufbahn: Im April 1962 wird er vom Frankfurter Verlag Bärmeier & Nikel als Cheflayouter für eine neue, noch in der Vorbereitungsphase befindliche „deutsche satirische Monatsschrift“ nach Frankfurt geholt, die den Namen „Pardon“ tragen soll. Zu seinen ersten Aufgaben als Cheflayouter gehört der Entwurf eines Signets für die Zeitschrift. Ein Skizzenblatt – das sich schon seit 1978 in den Sammlungen des Wilhelm-Busch-Museums befindet – zeigt die Genese dieses Entwurfs. Nach über fünfzig Variationen meist ein und desselben Motivs, die das großformatige Blatt zeigt, ist das Signet gefunden: ein kleines schwarzes Teufelchen, das grinsend seinen Hut – einen klassischen englischen Bowler – zum Gruß lüpft. Es ist ein genialer Entwurf, der bereits in der ersten „Pardon“-Nummer im Inhaltsverzeichnis erscheint und ab März 1964 auf dem Titelblatt links neben dem „Pardon“-Schriftzug zum bis heute berühmten Markenzeichen avanciert.

Aber nicht nur die von ihm geforderte Kreativität begeistert Waechter an seinem neuen Job. Nach seinen autobiographischen Notizen muss die Arbeit in der „Pardon“-Redaktion für ihn wie eine Erlösung nach frustrierend empfundenen Schul- und Ausbildungsjahren zuerst an der Lauenburgischen Gelehrtenschule in Ratzeburg, dann an der Kunstschule Alsterdamm in Hamburg gewesen sein: „Es gibt sehr verschiedenartige, neue und witzige Aufgaben. Alles ist anders in Frankfurt. Alle scheinen ‚Linke‘ zu sein, keine Dorfdeppen! Ich lese Tucholsky und Freud und sehe mein Leben mit neuen Augen. Vor allem berauscht mich, dass ich Geld, Liebe und Anerkennung nun für das bekomme, wofür ich auf der Lauenburgischen Gelehrtenschule Prügel und bei Setzke [Direktor an der Kunstschule Alsterdamm] wütendes Gebrüll erntete: nämlich für Frechheiten, Bosheiten und Geschmacklosigkeiten.“

Die Chancen für eine neue satirische Zeitschrift stehen 1962 nicht schlecht, gerade weil sich erste Risse zwischen den Generationen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft zeigen und innen- und außen­politische Ereignisse wie Mauerbau, Spiegel-Affäre und Kuba-Krise für Unruhe sorgen. Vor allem aber steht eine junge Generation von Künstlern in den Start­löchern, die eine in Deutschland neue Art von Humor – die Lust an anarchischem Witz und absurdem Spiel mit Nonsens – begeistert: Robert Gernhardt, Chlodwig Poth, Hans Traxler, Fritz Weigle alias F. W. Bernstein – und eben F. K. Waechter. Mit ihren Witzzeichnungen verstoßen sie gegen alle bisherigen Gewohnheiten und mit Vorliebe auch gegen den guten Geschmack – und geben der satirischen Kunst in Deutschland damit neue, wegweisende Impulse. Besonders in der ab September 1964 erscheinenden Rubrik „Welt im Spiegel“ können Waechter, Gernhardt und Bernstein ihr gemeinsames Nonsensfeuerwerk entfalten: „Das meiste“, so Waechter, „entstand in der Gruppe am Kneipentisch, vor allem Zeichnungen und Bildergeschichten. Wir fühlen uns nicht als Karikaturisten, sondern haben eine diebische Freude, viel schlechter zu zeichnen und trotzdem komischer zu sein.“

Seinen Stil besonders der frühen „Pardon“-Zeit beschreibt Waechter selbst als „parodistisch“: „Ich war in vielen Zeichenstilen zu Hause – das ist ja für Satiriker viel wert. Das Altmeisterliche war eine Methode von vielen.“

F. K. Waechter schult sich in der Beschäftigung mit großen Vorläufern wie Wilhelm Busch und dessen federleichtem Strich. Er ist vertraut mit der Entwicklung in Amerika, wo Saul Steinberg und besonders James Thurber den „one-line-cartoon“ zelebrieren. Er kennt Jean-Marc Reiser, der in Frankreich in „Hara-Kiri“ mit respektlosen und obszönen Zeichnungen provoziert. Und er blickt nach England, das mit der Zeitschrift „Punch“ seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den Cartoon populär gemacht hatte und mit „Private Eye“ seit 1961 zusätzlich ein scharfes Polit-Satire­magazin besitzt.

Die Anregungen, die Waechter aus der Beschäftigung mit anderen Künstlern zieht, sind jedoch bald nicht mehr als zurückgelassene Randsteine auf seinem eigenen Weg. Waechter besitzt nun das Handwerkszeug, um seinen Gedanken, Einfällen, seinen schnell hingeworfenen Bildwitzen ebenso wie seinen detailliert ausgearbeiteten Bild-Erzählungen und Bilder­geschichten das maßgeschneiderte Gewand zu geben. Zeichnerisch gelingt ihm einfach alles – und dies gibt ihm die Freiheit, sich ganz seinen eigenen Ideen zu widmen: „Der Humor eröffnete mir den Weg zum eigenen archimedischen Punkt.“

Und all diese Ideen bewegen sich sehr bald über „pardon“ hinaus: Ein so eigenwilliger und eigenständiger Künstler wie Waechter lässt sich nicht lange in das enge Korsett der Redaktionstätigkeit für eine Zeitschrift einbinden. Schon 1966 wechselt er – wie auch Gernhardt und Bernstein – aus der festen Anstellung in den Status eines freien Mitarbeiters. 1979 gehört er zu den Mitbegründern der „Titanic“, dem „endgültigen Satiremagazin“, und seine Rubriken „Das stille Blatt“, beziehungsweise „Die Rückseite“ festigen seinen Status als führendes Mitglied der „Neuen Frankfurter Schule“.

Zugleich verfolgt Waechter verstärkt eigene Projekte: Bereits 1970 sorgt sein Beitrag zur antiautoritären Bewegung, der „Anti-Struwwelpeter“, für Schlagzeilen. Es sollte sein bestverkauftes Kinderbuch werden, obwohl er selbst es eigentlich als Satire für Erwachsene konzipiert hatte. Eine schöne Parallele zu Wilhelm Busch, dem es mit seiner 1865 veröffentlichten Bubengeschichte Max und Moritz ähnlich ergangen war – diese war von ihm auch nicht für Kinder geschrieben worden!

Waechter macht in den folgenden Jahren sehr schnell die Erfahrung, „dass das Beste für Kinder dann entsteht, wenn ich das Zielpublikum Kinder vergesse und nur mache, was mir gefällt. Weg von der Pädagogik, hin zur Kunst, Komik, Poesie, Literatur“. Also schafft er sich seine eigene Bühne, ebenso wie es rund hundert Jahre vor ihm schon Wilhelm Busch getan hatte. Busch bezeichnete seine in Bildern inszenierten Geschichten als „Papiertheater“ und seine Figuren als „Phantasiehanseln“, die man „besser herrichten [könne] nach Bedarf und sie eher tun und sagen lassen, was man will“.

Auch Waechter ist in diesem Sinne „Theater­macher“, in seinen Cartoons ebenso wie in seinen breit angelegten Bilderzählungen. Aber er wendet sich dem Theater auch ganz real zu, entwirft und schreibt Stücke für die Bühne und bringt sie zeitweise selbst zur Aufführung. In Hannover sei nur „Die Eisprinzessin“ erwähnt, die in diesem Jahr zum 250. Mal aufgeführt wird. Von 1992 bis 2003 war Waechter deshalb auch nicht in der „Titanic“ vertreten. Doch Ende der 1990er Jahre zieht sich Waechter aus der Theaterarbeit langsam wieder zurück und inszeniert lieber die von ihm selbst gezeichneten Männchen, denn: „Die tun jedenfalls, was ich will.“ 1998 erscheint eines seiner schönsten Bücher für Kinder (und Erwachsene): „Der rote Wolf“, das 1999 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis aus­gezeichnet wird.

Immer jedoch ist F. K. Waechter – egal auf welcher Bühne – ein großer, ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler. Liebe und Tod, Sehnsucht und Hoffnung, Verzweiflung und Erlösung – Waechter scheut kein großes Thema. Anregungen und Vorlagen findet er mehr und mehr in Märchenstoffen und knüpft auch hier an Wilhelm Busch an. Auch sein letztes, unvollendet gebliebenes Werk, „Der Höllenhund“, basiert auf einem Märchenstoff: dem „Bärenhäuter“ der Gebrüder Grimm. Es sind unglaublich expressive, schwarze Tuschpinselzeichnungen mit kühnen Perspektiven und Bildausschnitten – dichte, dramatische Bildräume, die an Francisco de Goyas „Desastres de la Guerra“ erinnern.

Die Erzählung beginnt auf einem Schlachtfeld, wo der am Boden liegende Soldat seinen Pakt mit dem Teufel schließt – einen Pakt auf Leben und Tod. Er schlüpft in die Haut eines frisch erlegten Wolfshundes – des Höllenhundes – und beginnt seine Wanderung, auf der er sich an bestimmte Regeln halten muss, z. B. sich nicht zu waschen und zu rasieren. Die autobiographischen Züge dieser Erzählung reichen bis zu den Landschaften, durch die der „Höllenhund“ auf seinen Streifzügen wandert, und die an die Heimat des aus Danzig gebürtigen Künstlers erinnern – ein beeindruckendes und ein sehr berührendes Werk.

Friedrich Karl Waechter hat die Frage nach seiner künstlerischen Intention einmal so beantwortet: „Es gibt sicher ein Anliegen, aber ich fühle mich wohler, wenn ich sage, dass es meine Freude ist. Das ist dann vielleicht der Stein, der ins Wasser fällt“ – und damit die vielleicht beste Erklärung, warum F. K. Waechter so geliebt und verehrt wird.