Liebe Leserinnen und Leser,
geht es Ihnen in diesen Wochen manchmal auch so? Beschleicht Sie bisweilen auch eine eigentümliche Unruhe, die Wahrnehmung einer Dissonanz vielleicht, ein Staunen angesichts scheinbar unvereinbarer Ereignisse?
Es ist ein frühsommerlicher Sonntagnachmittag in Berlins Mitte, Cafés und Restaurants bersten vor Menschen, die die Sonne genießen. Gesprächsfetzen handeln von den bevorstehenden Ferien, vom Urlaub, von der Fußball-Europameisterschaft. Am Brandenburger Tor ist ein aberwitzig großes Fußballtor errichtet worden, imposanter Abschluss einer „Fan Zone“, die in den kommenden Wochen Hunderttausenden das „public viewing“ im Freien ermöglichen soll.
Unterdessen erlebt Süddeutschland an diesem Wochenende die stärksten Regenfälle seit Jahrzehnten mit verheerenden Überschwemmungen und noch längst nicht absehbaren Folgen für die Menschen und Infrastrukturen in den betroffenen Regionen. Die Häufung solcher Naturkatastrophen in Deutschland in den letzten Jahren ist unübersehbar, unser Klima verändert sich mit bedrohlicher Geschwindigkeit.
In Charkiw, Kyiv und in anderen Städten der Ukraine, nur wenige Flugstunden von Berlin entfernt, meiden die Menschen heute nach Möglichkeit den Aufenthalt im Freien, zu groß ist die Gefahr, von russischen Drohnen und Raketen getötet zu werden. In kleinen Schritten droht dieser Krieg im Herzen Europas zu eskalieren, bislang unüberwindbare ‚rote Linien‘ werden allmählich aufgegeben, ein Ende des Leidens scheint nicht in Sicht. Ganz im Gegenteil: Fachleute sind sich darin einig, dass die Gefahr eines Krieges in Europa, der über die Grenzen des ukrainischen Staatsgebiets hinausgeht, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nie so real war wie heute und auch mittelfristig ein hohes Risiko darstellen wird. Unbestritten ist auch, dass das Territorium der Bundesrepublik Deutschland in einem solchen Konflikt eine strategische und logistische Schlüsselstellung einnehmen würde. Doch weder die deutschen Streitkräfte noch die Zivilgesellschaft sind derzeit angemessen auf entsprechende Szenarien vorbereitet. Gerade der Zivilschutz und damit auch der Schutz von Kulturgut und kulturellen Infrastrukturen vor Kriegseinwirkungen und Naturkatastrophen sind in den letzten Jahrzehnten leichtfertig vernachlässigt worden.
Der Philosoph Jonathan Lear hat einmal behauptet, dass die „Unfähigkeit, sich ihre eigene Zerstörung vorzustellen […] tendenziell der blinde Fleck einer jeden Kultur“ ist. Rührt vielleicht daher unser Unbehagen in diesen Tagen? Spüren wir, dass ‚unsere‘ Welt, wie wir sie in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kennen – beschützt, stabil, wohlhabend – aufgehört hat zu existieren? Klammern wir uns deswegen scheinbar so verzweifelt an Symbole und Rituale unserer verlorenen Normalität, weil wir uns nicht vorstellen wollen oder können, was vor uns liegen mag?
In dieser Ausgabe von Arsprototo gehen wir der Frage nach, welche Auswirkungen eine fundamental veränderte Welt auf den Schutz und die Pflege von Kulturgut und kulturellen Infrastrukturen hat und stellen dabei auch das Engagement der Kulturstiftung der Länder in diesem Zusammenhang vor. Es reicht von der Förderung herausragender Restaurierungsvorhaben über die Stärkung der Notfallvorsorge im Kulturbereich bis hin zum Umgang mit menschlichen Gebeinen aus kolonialen Kontexten in Museen und Sammlungen in Deutschland. Denn die „Förderung und Bewahrung von Kunst und Kultur nationalen Ranges“ ist der Kulturstiftung der Länder nicht nur im Frieden aufgegeben, sondern auch in Zeiten von Krisen und Krieg.
Ihr Markus Hilgert